# taz.de -- Der Hausbesuch: Ein Schnitt für jeden Körper | |
> Aus Ghana kam Victor Ankobea nach Deutschland. In Berlin hat er ein | |
> Nähatelier – noch. Das Haus wurde verkauft, sein Laden gekündigt. | |
Bild: Victor Ankobea in seinem Nähatelier im Berliner Bezirk Wedding | |
Was so einem Leben die Richtung gibt? Herkunft und Schicksal bestimmt. | |
Vielleicht auch Zufall. Oder Tradition. Dazu die Stimme des Vaters, die | |
Wünsche der Mutter und der Eigensinn des Helden. Am Ende kommt raus, dass | |
einer, der in Ghana geboren ist, wie Victor Ankobea, eine Schnitt- und | |
Schneiderwerkstatt in einer Straße im Berliner Stadtteil Wedding hat, die | |
nach einem Kolonialisten in Afrika benannt ist. | |
Draußen: Eine Kopfsteinpflasterstraße im Afrikanischen Viertel in Berlin. | |
Die Straßen im Kiez sind nach Städten, Flüssen, Bergen, Ländern in den | |
ehemaligen deutschen Kolonien in Afrika benannt. So wollte man den | |
Berlinerinnen und Berlinern, die vor mehr als hundert Jahren dort lebten, | |
die Größe des deutschen Reiches vor Augen führen. Über Jahre war der Kiez | |
einer von vielen im schmuddeligen Wedding, wo heruntergerockte Kneipen, | |
Wettsalons, abgestellter Müll und Hundehaufen auf den Trottoirs das | |
Straßenbild prägten. Dazwischen versuchten einige, wie der Töpfer, die | |
Kerzenmacherin oder auch Vianko-Mode, der Laden des Schnittmeisters Victor | |
Ankobea, ein wenig Schönheit und Eleganz ins Triste zu bringen. Jetzt aber | |
werden die Alten vertrieben. | |
Drinnen: Auf Schneiderpuppen hängen bunte Kleider mit großen grafischen | |
Mustern, wie sie in Ghana gern getragen werden. Daneben auch welche, die | |
sind mit Prinzessinnenleibchen im Dirndlverschnitt behängt, mit neckischen | |
Sommerkleidern, mit Sakkos oder Hemden. Im Schaufenster stehen eine alte | |
Singer-Nähmaschiene, ein antikes Plätteisen, das mit heißen Kohlen gefüllt | |
werden musste, und andere Antiquitäten aus Schneiderwerkstätten. Alles im | |
Laden ist in Auflösung begriffen, und das ist es ja auch. Ankobeas | |
Mietvertrag ist gekündigt. Zum 31. März soll er raus. | |
Ankobea: Ob sein Name etwas bedeutet, ob es gar „Schneider“ heißt? „Nein, | |
nein“, widerspricht er. Aber ganz einfach zu übersetzen sei der Name auch | |
nicht. „Ankobea ist der, der, wenn Krieg ist, zurückbleibt und auf das | |
aufpasst, was da ist“, erklärt er. Da das nach einer herausragenden | |
familiären Stellung klingt, gleich noch die Frage, ob er also aus einer | |
Herrschaftsfamilie stamme. „Ja, mein Vater war Häuptling“, sagt er. Er | |
selbst sei aber kein Prinz, weil das Häuptlingswesen über die Mutterlinie | |
vererbt werde. | |
Die Geschwister: In Kumasi, der zweitgrößten Stadt in Ghana, ist er | |
geboren. Die Familie war groß. „Sehr groß“, sagt er, und beim Aufzählen | |
muss er sich konzentrieren. „Mein Vater war zwei Mal verheiratet. Zwei | |
Brüder sind in Amerika und zwei sind tot.“ Und da sind auch die | |
Zwillingsschwestern, ein anderes Zwillingspaar sei verstorben. Und noch | |
eine Schwester. Überhaupt fünf Schwestern leben noch, eine in Amerika, | |
vier in Ghana, „also so ungefähr zehn Kinder waren wir“. Er ist der | |
Zweitälteste. | |
Das andere Familienkonzept: Nicht nur Vater, Mutter, Kinder gehören zur | |
Familie, auch die Geschwister der Eltern. Er wuchs in einem zweistöckigen | |
Haus auf, unten sein Vater mit Kindern, oben die Tante mit Kindern, und | |
beide Wohnungen waren sein Zuhause. „Die Älteren passen auf die Jüngeren | |
auf.“ Und ja, der älteste Sohn ist schon wichtig, „aber das Lieblingskind | |
meines Vaters war die ältere Schwester“, sagt er. Weil sein Vater sehr | |
gläubig gewesen sei, wurde Ankobea auf eine anglikanische Schule geschickt. | |
Ihm war es recht. „Lesen, Schreiben, Rechnen – für Kinder öffnet das | |
Türen.“ Der Glaube sei ihm übrigens auch geblieben. Aber ob anglikanisch, | |
evangelisch oder katholisch – das interessiere ihn nicht wirklich. „Ich | |
gehe nicht in die Kirche wegen dem Papst oder so. Ich kann auch zu Hause | |
beten.“ | |
Kleider nähen: Ihn faszinierte als Kind der Schneidermeister, der in dem | |
Haus wohnte, wo seine Mutter lebte. Er wollte das auch können, flächige | |
Stoffe in Kleidung zu verwandeln, die dreidimensional ist. Schon als Kind | |
hat er auf der Singer-Nähmaschine der Mutter Sachen genäht. Es kam ihm wie | |
Zauberei vor. „Bei dem Schneider habe ich dann auch eine Ausbildung | |
gemacht.“ | |
Ghana verlassen: In Harburg bei Hamburg lebte ein Onkel von Ankobea. Seine | |
Mutter wollte, dass er zu ihm zieht. „Ich war meines Onkels Liebling“, | |
erzählt er, und dass der Onkel mit einer Frau zusammenlebte, aber keine | |
Kinder hatte, da sei es dann so gewesen, dass er wie deren Kind war. „Der | |
Onkel hat als Mechaniker bei Neoplan gearbeitet.“ Also wenn schon | |
auswandern, beschied die Familie, dann nicht nach Amerika, sondern zu | |
diesem Bruder der Mutter. So kam er 1973 nach Harburg. „Das hat sich so | |
ergeben.“ 17 Jahre alt war er damals. „Hamburg, Harburg, das hat mir | |
gefallen“, sagt er. | |
Schnittmeister werden: Als er bei seinem Onkel wohnte, machte er eine | |
Ausbildung zum Schnitttechniker und Modellmacher. Das sind die Leute in der | |
zweiten Reihe hinter den Designern. „Die Designer skizzieren Modelle, | |
können aber meistens keinen Schnitt“, sagt er. „Deren Ideen machen wir zu | |
Kleidern.“ Ankobea ist noch ganz alte Schule. Wenn er einen Auftrag hat und | |
der Schnitt entwickelt ist, näht er zuerst einmal ein Modell aus | |
Nesselstoff. „Das kann man dann noch korrigieren.“ | |
Wanderjahre: Nach Harburg kommen Pinneberg, Quickborn, Berlin. Er arbeitet | |
in Textilfirmen, die es längst nicht mehr gibt, Laschaud, Enderlei, Hose + | |
Rock Schulz. Er verliebt sich, zieht wegen der Frau nach Berlin, die Mauer | |
stand da noch. Er war mal arbeitslos, hatte einen Unfall, „da war der Arm | |
kaputt“. Als er wieder arbeiten konnte, fing er im KaDeWe an als Verkäufer. | |
Erst in der HiFi-Abteilung, dann als Lagerist in der Glasabteilung, | |
schließlich bei Hemden und Krawatten. Da war er nicht nur Verkäufer sondern | |
auch Übersetzer. Englisch, Deutsch und Twi spricht er. Letzteres seine | |
Muttersprache. Ein schlimmer Schicksalsschlag passierte 1988: Da starb | |
seine Frau. Ob sie seine große Liebe war? „Es gibt Fragen, die muss man | |
nicht beantworten“, erwidert er, „man muss den Dingen ihr Geheimnis | |
lassen.“ | |
Zurück in den gelernten Beruf: „Das Leben schreibt seine eigene | |
Geschichte“, sagt er. Nach dem KaDeWe hat er sich selbstständig gemacht mit | |
Export/Import. Aber der Wunsch, wieder als Schnittmeister zu arbeiten, sei | |
stärker geworden. Vielleicht auch, weil er wieder eine Frau hat, weil er | |
Vater wird von einem Mädchen – und später bekommt er noch eine weitere | |
Tochter. Ende der 90er Jahre macht er eine Weiterbildung in digitaler | |
Schnitttechnik, da sich Computer auch in seinem Beruf etablieren. Aber | |
überzeugt hat es ihn nicht. „Ich liebe das Manuelle“, sagt er. Er will den | |
Schnitt nicht am Bildschirm, sondern am Körper entwickeln. Jeder Körper sei | |
anders. Jemand könne ein Hohlkreuz haben oder einen vorstehenden Bauch, | |
jemand könne einen Apfelpo, einen Knackpo, viel Po oder wenig Po haben und | |
der Schnitt müsse sich dem anpassen, nicht der Körper der vorgegebenen | |
Norm. | |
Vianko-Moden: 2004 eröffnet er seinen Laden in der Lüderitzstraße im | |
Wedding. „Die Leute, die zu mir kommen, haben einen starken Grund“, sagt | |
er. Eine Kundin etwa sei gehbehindert, die laufe ganz schief. Jetzt habe | |
sie eine neue Prothese und er müsse neue Hosen für sie entwerfen. Eine | |
andere war extrem groß. Niemand kann so leidenschaftlich über große | |
Schulterblätter, breite Rücken, große Busen, extrem starke Gesäße sprechen | |
wie er. „Jeder Mensch ist anders.“ | |
Die Lüderitzstraße: Er sei verwurzelt im Kiez. Straßenfeste hätte er | |
mitorganisiert, mit Musik und so. Es sei eine Gemeinschaft gewesen mit den | |
anderen Leuten, die hier Läden hätten. Der Streit um Lüderitz, nach dem ist | |
die Straße benannt ist, dauerte Jahrzehnte, er ist in Afrika reich | |
geworden – auf betrügerische Art. Jahrelang wurde gerungen, dass die Straße | |
keinen Kolonialisten mehr ehre. Jetzt ist es beschlossene Sache, die Straße | |
soll Cornelius-Frederiks-Straße heißen. Der führte den Widerstandskampf | |
der Nama im damaligen Deutsch-Südwestafrika, dem heutigen Namibia, an. Aber | |
es regt sich Protest gegen die Umbenennung – zu teuer für die Anwohner, | |
Visitenkarten müssten neu gedruckt werden. „Kannste nicht | |
unterschreiben?“, wurde Ankobea gefragt, gegen den neuen Namen, aber er | |
zuckt mit den Schultern. Ihn plagen andere Sorgen: Er muss raus. | |
Die Nachbarn: Nicht nur er soll raus, der Töpfer ist schon weg, und vorne | |
die Frau Schmidt, ungefähr 80 Jahre sei die, die soll raus. „Bei uns in | |
Afrika, da geht man nicht so mit alten Leuten um“, sagt er. „Da, da ist | |
doch der Schmidt“, er zeigt auf einen Mann, der vor dem Laden vorbeigeht. | |
Er rennt raus: „Schmidt, wie alt ist deine Mutter?“ „88, wieso?“ „Wei… | |
vertrieben wird.“ „Ja, das ist unmenschlich, was die machen“, sagt Schmid… | |
„die fragen, was verdienste, ah 1.500 Euro. Davon will ich tausend.“ Jetzt | |
sei alles noch schlimmer. Die Wohnungen werden zu Eigentumswohnungen | |
umgebaut. | |
Die Kündigung: Fristgerecht sei sein Laden gekündigt worden, sagt Ankobea. | |
Wie es weitergeht, er weiß es nicht. Ob er doch bleiben kann, weil der | |
Eigentümer einlenkt, es wären ja nur noch ein paar Jahre bis zur Rente? | |
Oder vielleicht kann er auch ein Atelier mit jemandem teilen. Alles ist | |
unklar. „Aber das war es in meinem Leben schon oft“, sagt er. | |
2 Mar 2019 | |
## AUTOREN | |
Waltraud Schwab | |
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