| # taz.de -- Die Mode und das Patriarchat: Von wegen Sünde | |
| > Seit Jahrzehnten versucht der Begriff „Modesünde“ vom Patriarchat | |
| > gepeinigte Menschen zu diffamieren. Doch die Mode ist darüber erhaben. | |
| Bild: Schrill: ja. Sünde: nein | |
| Mode, schrieb Oscar Wilde, sei im Grunde eine solche Hässlichkeit, dass wir | |
| sie alle sechs Monate wechseln müssen. Wir halten das eigene Kleid oder | |
| vielleicht uns selbst in diesem Kleid nicht länger aus. Es erscheint uns | |
| als Fehlgriff oder, noch gravierender, als „Modesünde“. Nach einigen Jahren | |
| mögen wir es dann wieder, und das nächste Kleid, das wir kaufen, ähnelt ihm | |
| sehr. | |
| Von Modesünde ist nun keine Rede mehr. Der Fehlgriff hat sich in etwas | |
| verwandelt, worauf wir wieder Hoffnungen setzen. Modesünden gibt es nicht | |
| in der Gegenwart. Nur in der Vergangenheit oder als mahnendes Beispiel für | |
| die Zukunft. In Überschriften wie „Die Modesünden der 90er“ oder, | |
| theologisch anspruchsvoll, „7 Modesünden, die Du 2019 nicht mehr begehen | |
| solltest“. | |
| Die Inhalte dazu sind fast beliebig. Man kann einsetzen, was die | |
| persönlichen Erinnerungen und die Biografie so hergeben: Socken in | |
| Sandalen, Tennisarmbänder oder sich abzeichnende Sliplinien und | |
| Rüschenblusen mit Ballonärmeln. | |
| Das Anrührende ist, dass wir mit diesem Blick uns selbst gegenüber | |
| historisch werden und auf einem alten Polaroidfoto mehr erkennen als ein | |
| sonnengelbes Nicki-Shirt mit einer gestickten grünen Palme. „Nein, wie | |
| peinlich!“ Das sagt man, aber es klingt oft sehr zärtlich. | |
| ## Mode als Todsünde | |
| Als Begriff leuchtet die Modesünde sofort ein. Mode und Sünde. Das ist eine | |
| starke Verbindung. Die Sinnlichkeit, die Lust der Verführung, sie bedienen | |
| sich der Mittel der Mode, und für die Theologie konnte die Sünde selbst zur | |
| Mode werden. | |
| Der Schweizer Jesuit Joseph Anton Weißenbach etwa benutzte die Modesünde | |
| als ein Synonym für den in seinen Augen wild grassierenden Ehebruch und | |
| schrieb 1779 über die „vielen geilen Weiber“, die es als „eine Schande“ | |
| begreifen würden, sich neben der Ehe nicht auch mit „Leibdienern und | |
| Bullknechten“ sexuell zu vergnügen. Wollust und Eitelkeit. Für den | |
| Gegenaufklärer traten mit der Modesünde gleich zwei der sieben Todsünden | |
| auf. | |
| Bleiben wir einen Moment. Im Bild der Sünde und ihrer Strafe. Spektakulär | |
| ist es allemal. So folgt auf die Todsünde die ewige Hölle. Und die Hölle | |
| auf Erden? Sie ist für die bürgerliche Gesellschaft der soziale Tod. | |
| Es ist kein Zufall, dass sich in den Wörterbüchern der deutschen Sprache | |
| für das 19. Jahrhundert kein Eintrag zur „Modesünde“ findet. Alles Mögli… | |
| wird benannt: die Modewelt und deren Sprache. Der Modewitz, die Modesucht, | |
| die Modewut, ja sogar der Modewahn kommt vor. | |
| ## Modesünde und die Fickbarkeit der Frau | |
| Lauter Diagnosen, und gemäß der Jahrhundertdiagnose der weiblichen Hysterie | |
| spiegelt sich die Frau darin als gefährdetes und potentiell gefährliches, | |
| nervlich überreiztes Geschöpf, das sich um Kinder und Küche, und wenn es | |
| der gesellschaftliche Aufstieg des Gatten zulässt, auch um repräsentative | |
| Krinolinenkleider kümmert. | |
| Die Modesünde ist durch das Prinzip der Leistung ersetzt. Durch die | |
| Lächerlichkeit und das Getuschel der anderen. Durch den Spott. Heute sind | |
| das Blaming und Cybermobbing Hölle genug, und wie der jüngste Skandal | |
| [1][der Ligue du LOL in Frankreich] zeigt, vollzieht sich die Dressur immer | |
| noch am besten entlang der Prinzipien einer männlichen Deutungshoheit. | |
| Junge, heterosexuelle Trendsetter, die mittlerweile bei linksliberalen | |
| Zeitungen und angesagten Onlineportalen gewissenhaft über Genderfragen und | |
| soziale Gerechtigkeit schreiben und auf Partys sehr nett sein sollen, | |
| quälen junge Kolleginnen im Netz, kränken, beleidigen, verhöhnen sie mit | |
| durchaus sadistischem Eifer. | |
| Die Frauen sollen im Gefühl der Scham versinken. Sie sollen verschwinden, | |
| und wenn es richtig gut läuft, nie wieder auf den Gedanken kommen, sie | |
| wären im schmeichelhaftesten Fall zu etwas anderem nützlich als zum Ficken. | |
| ## Das Rettende auf der Oberfläche | |
| „Nur die oberflächlichen Eigenschaften dauern. Des Menschen tieferes Wesen | |
| ist bald entlarvt.“ Diesem Aphorismus Oscar Wildes, der gewohnt ohne jede | |
| Illusion über die menschliche Liebenswürdigkeit auskommt, vertraute Silvia | |
| Bovenschen ihr Misstrauen gegenüber siegessicheren Begründungen an. | |
| Die Idee, Mode habe ausschließlich mit kapitalistischen | |
| Produktionsverhältnissen oder erotischen Signalwirkungen zu tun, genügte | |
| ihr nicht, und sie favorisierte die „potentiell erklärungsbedürftigere | |
| Unterscheidung“, die mit dem Wilde-Zitat anklingt und die sich anmutig | |
| jeder Deutungshoheit verweigert. | |
| Das Rettende liegt auf der Oberfläche. Dort kann man die autoritären | |
| Instanzen, das Einschüchternde und Angsteinflößende besiegen. Oder wie es | |
| André Leon Talley, Editor-at-Large der Vogue, nicht müde wird am Beispiel | |
| der blank geputzten Schuhe seiner Großmutter zu erläutern: „Polish is | |
| everything.“ | |
| Im Glanz der geputzten Schuhe spiegeln sich Himmel und Sonnenlicht. Mode, | |
| so André Leon Talley, kann Freiheit bedeuten. Lebendigkeit. Sie stützt | |
| nicht nur die dominanten und auf Konformität erpichten Positionen, sondern | |
| lässt, wie der von Giorgio Riello und Peter McNeil herausgegebene „Fashion | |
| History Reader“ in zahlreichen Lektüren vorschlägt, zugleich Raum für | |
| Subversion. Die Welt der Mode ist größer als die eigene Kränkung. | |
| ## „Fashion Fail“ besonders verpönt | |
| Bleib an der Oberfläche! Das soll die Losung sein. Besonders wenn es | |
| kompliziert ist und die Muster der Selbstbezichtigung zuverlässig | |
| wiederkehren wie Geister. Ein Klassentreffen, ein Empfang. Ich habe gesagt, | |
| ich sei krank. In Wirklichkeit war es die alte Angst, nicht zu genügen. | |
| Mich nicht ausreichend wappnen zu können gegen prüfende Blicke. Dabei hatte | |
| ich mir extra eine Hose und einen neuen Pullover gekauft, doch schon beim | |
| Verlassen des Geschäfts gewusst, dass ich wieder das Risiko gescheut und | |
| der Modesünde ängstlich aus dem Weg gegangen bin. | |
| Wie das wohl ist, wenn der symbolische Vater zufrieden nickt? Die Sehnsucht | |
| danach ist in diesen Tagen groß. Ständig heißt es „alles gut“ und „all… | |
| richtig gemacht“, und die Frau, die mir den Pullover verkaufte, fand auch, | |
| dass sich kaum jemand mehr einen Fehler leistet. In Zeiten der Angst ist | |
| der „Fashion-Fail“ besonders verpönt. | |
| Man kann sich die Fotos hundertfach anschauen. Erst die Golden Globes und | |
| die Berlinale, schließlich die Oscars. Die Best-Dressed-Listen, die „Tops | |
| und Flops des Abends“ kursieren, was das Zeug hält. Das ist manchmal | |
| durchaus amüsant. Zumindest wenn sich in den Spott die Liebe, in die | |
| Bewunderung auch eine kühlere Note mischt. | |
| Tatsächlich kann das Sprechen über Mode eine Schule der Ironie sein. Sie | |
| erlaubt vieles, doch keinen Hass. „Diese Stars blamierten sich mit | |
| Kotz-Roben.“ Ein solcher, im Januar auf der Seite einer österreichischen | |
| Zeitung veröffentlichter Titel scheidet sofort aus dem Diskurs der Mode | |
| aus. | |
| ## Mode ist ein offener Raum | |
| Er wirkt fast komisch; seine Ungeschicklichkeit ähnelt einem Schlag in die | |
| Luft. Niemand hat sich verletzt, allerdings hat die Wucht der Wut den Satz | |
| zu Boden gerissen. Jetzt liegt er da, und die Mode, die Mode, die sich dem | |
| Eifer der Anpassung entzieht, macht einen eleganten Schritt über ihn und | |
| die Pfütze seines Hasses hinweg. | |
| Billy Porter könnte diese Rolle übernehmen. Auf dem roten Teppich [2][der | |
| Verleihung der Oscars] erschien der Schauspieler, Sänger und Komponist | |
| jüngst in einem schwarz-samtenen Ballkleid mit eingearbeitetem, | |
| frackähnlichem Oberteil von Christian Siriano. Ein kurzes Anheben des | |
| Kleides hätte genügt. Auf dass es nicht schmutzig wird in der Pfütze. | |
| „Ich bin keine Drag-Queen. Ich bin ein Mann in einem Kleid.“ Diese Ansage | |
| konnte man online in der Vogue lesen. Als schwarzer, schwuler Mann sei er | |
| daran gewöhnt, dass seine Männlichkeit infrage stehe, erklärte Porter und | |
| berief sich wie André Leon Talley auf die Frauen seiner Familie, die ihm | |
| beigebracht haben, der Freiheit der Mode und sich selbst in dieser Freiheit | |
| zu vertrauen. | |
| Sie ist ein offener Raum, in dem der Hass an seine Grenzen stößt. Eine | |
| Bühne, auf der das Patriarchat, das liebend gern ein Urteil sprechen würde, | |
| vergeblich auf ein Zugeständnis wartet. Kein letztes Wort. Kein falsches | |
| Versprechen, und vor allem, keine Angst. | |
| 10 Mar 2019 | |
| ## LINKS | |
| [1] /Belaestigung-im-Internet-in-Frankreich/!5566486 | |
| [2] /Oscar-Verleihung-in-Los-Angeles/!5572466 | |
| ## AUTOREN | |
| Elisabeth Wagner | |
| ## TAGS | |
| Mode | |
| Patriarchat | |
| Unterdrückung | |
| Oscars | |
| Mode | |
| Medien | |
| Mode | |
| Gentrifizierung | |
| Hess-Natur | |
| Karl Lagerfeld | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Afrikanische DesignerInnen in Berlin: Modische Zuversicht | |
| Das Berliner Kunstgewerbemuseum übt sich mit „Connecting Afro Futures. | |
| Fashion. Hair. Design“ in Zeitgenossenschaft. | |
| Ironie bei Modemagazin: Die „Vogue“ wird witzig | |
| Komikerin Celeste Barber parodiert auf Instagram Influencer. Damit ist sie | |
| auf das Cover der „Vogue“ gekommen. Erstaunlich selbstironisch. | |
| Billy Porter bei der Met Gala: New Yorks High Society kniet nieder | |
| Kitsch, Stillosigkeit oder Geschmacksverirrung: Das war das Thema der | |
| diesjährigen Met Gala. Billy Porter stellte dabei alle anderen in den | |
| Schatten. | |
| Der Hausbesuch: Ein Schnitt für jeden Körper | |
| Aus Ghana kam Victor Ankobea nach Deutschland. In Berlin hat er ein | |
| Nähatelier – noch. Das Haus wurde verkauft, sein Laden gekündigt. | |
| Indigo und Rittersporn fürs Shirt: Neue Kollektion mit Plus und Minus | |
| Hess-Natur will eine ökologische Alternative zu synthetischen Farben und | |
| färbt mit Pflanzen. Was spricht dafür, was dagegen? | |
| Nachruf auf Karl Lagerfeld: Für immer in Mode | |
| Er war einer der einflussreichsten und am meisten gefeierten Designer | |
| unserer Zeit. Nun ist Karl Lagerfeld im Alter von 85 Jahren gestorben. |