# taz.de -- Der Hausbesuch: Bitte keine Trauerfeiern | |
> Wagner mit dem Harmonium? Hinterbliebene haben oft skurrile Musikwünsche. | |
> Zu Besuch beim Kirchenmusiker Helmut Hoeft. | |
Bild: Mehr als 20.000 kleine blaue Glasfenster schmücken die Berliner Gedächt… | |
Seit 1982 ist die Kaiser-Wilhelm-Gedächtnis-Kirche am Kurfürstendamm in | |
Berlin Helmut Hoefts zweites Zuhause, seit vierzehn Jahren ist der | |
Orgelspieler, Komponist und Kirchenmusiker dort Kirchenmusikdirektor. Mit | |
dem musikalischen Programm der Kirchen – er organisiert mehr als hundert | |
Konzerte im Jahr – und seinen Kompositionen von Kinderliedern bis | |
Pop-Chansons möchte der 61-Jährige zeigen, dass Kirchenmusik vor allem eins | |
ist: vielfältig. | |
Draußen: Auf einer Bank unter den Platanen am Breitscheidplatz sitzt eine | |
Frau, umgeben von prall gefüllten Plastiktüten, und trinkt aus einer | |
Bierflasche. Ein Mann im Anzug guckt auf sein Handy, einer in | |
Bauarbeiterklamotten liest Zeitung. Auf der Seite der Budapester Straße | |
haben Menschen Kerzen, Bilder, Stofftiere, Blumen und Briefe für die Opfer | |
des Terroranschlags auf den Weihnachtsmarkt am 19. Dezember 2016 | |
hinterlassen. Das Mahnmal – ein goldfarbener Riss und die zwölf Namen der | |
Toten in den Treppenstufen – erinnert daran. | |
Drinnen: Orgelmusik und blaues Licht, das durch die mehr als 20.000 kleinen | |
Glasfenster dringt, hüllen die ein , die eintreten. Vier Zentimeter dickes | |
Glas hat man verwandt, damit der Verkehrslärm der großen Straßen rund um | |
den Breitscheidplatz, auf dem die Gedächtniskirche steht, gedämpft bleibt. | |
Über dem Altar hängt ein goldener Christus mit geschlossenen Augen ohne | |
Kreuz. Eine Touristin zündet eine Kerze an, einige BesucherInnen machen | |
eine Runde. Am schlichten Orgelprospekt sitzt der Orgelspieler am | |
Instrument, einige Männer bewegen sich um ihn herum, überprüfen, messen, | |
zeigen den Daumen nach oben, Kabel und geöffnete Verpackungen liegen auf | |
den Sitzplätzen. Die Orgel soll auch als elektronische Orgel fungieren, ein | |
Hybrid: Synthesizer und mehrere Basslautsprecher der Marke Teufel werden | |
getestet. | |
Pragmatisch: Bei Helmut Hoeft war es keine religiöse Berufung, | |
Kirchenmusiker zu werden, sondern eine pragmatische Überlegung, erzählt er | |
im kargen, gläsernen Meetingraum im Keller der Kirche. Als Kirchenmusiker | |
komme er viel mehr „zum Einsatz“ als beispielsweise Musiklehrer. Das habe | |
sich in 36 Jahren Karriere bestätigt. „Ich bin ein gläubiger Mensch, aber | |
das war eine zusätzliche Motivation und spielte in der Entscheidung kaum | |
eine Rolle“, sagt der gebürtige Berliner. | |
Emotionen: Das Einzige, was er an seinem Beruf nicht mag, sind | |
Trauerfeiern. Nicht wegen der Stimmung solcher Zeremonien, sondern weil die | |
Hinterbliebenen nicht selten skurrile musikalische Wünsche haben. „Als | |
junger Mann habe ich immer Ja gesagt. Mit den Jahren bin ich selektiver | |
geworden“, sagt er. „Wagner mit dem Harmonium zu spielen, zum Beispiel, das | |
ist grotesk und würde ich nicht mehr machen. Für mich war das das Gegenteil | |
von Harmonie.“ | |
Lernen: Bei einer Nachbarin in Schöneberg fing er als Kind an, | |
Klavierstunden zu nehmen. Der Unterricht sei nicht so professionell gewesen | |
(„Die ältere Dame war eigentlich Konzertsängerin“). Doch zu Hause konnte … | |
auch mit dem Vater üben, einem Finanzbeamten, der sich abends nach der | |
Arbeit autodidaktisch Musik beibrachte und Literatur verschlang. | |
Begleiten: Ab der 5. Klasse begleitete Helmut Hoeft jeden Morgen seine | |
Klasse beim gemeinsamen Volkslied auf dem Klavier. Bis heute kann er die | |
Stimmen der anderen Kinder hören. Seinen ersten Orgelunterricht nahm er | |
später bei dem Steglitzer Kirchenmusiker Dieter Beermann. Hoefts allererste | |
Liebe war aber das Harmonium seines Opas. Das Instrument entdeckte er, als | |
er noch den Kindergarten besuchte. Heute singt Hoeft mit seinen | |
sechsjährigen Enkeltöchtern zusammen Kinderlieder, auch solche, die er | |
selber komponiert. | |
Harmonie: „Ich bemühe mich, mit allen Menschen gut auszukommen und im | |
Reinen zu sein“, sagt Hoeft. Harmonie sei Teil seiner Persönlichkeit, das | |
falle ihm nicht schwer. Eine Grundhaltung, die auch seinen musikalischen | |
Geschmack beeinflusst. Hoeft liebt fast alle Genres, „nur Punk ist mir zu | |
wütend, zu aggressiv, zu laut“. Protestieren sei schon okay, aber Musik ist | |
für ihn „von Natur aus positiv und freundlich“. | |
Disharmonie: Hoefts harmonischer Alltag geriet am 19. Dezember 2016 auf | |
einmal aus dem Gleichgewicht. Am Abend des Anschlags am Breitscheidplatz | |
war er nicht in der Kirche, wurde aber von einem Kollegen angerufen: Etwas | |
Schreckliches sei passiert. Am nächsten Morgen ging Hoeft in die Kirche und | |
organisierte die Gedenkfeierlichkeiten. „Die Betroffenheit und die Trauer | |
waren groß, aber Angst hatte ich keine“, sagt er. Klar habe es eine andere | |
Bedeutung, wenn etwas Schlimmes dort passiert, wo man sich zu Hause fühlt. | |
Wirklich indes bewegt ihn, „wie unterschiedlich heutzutage mit Schicksal | |
umgegangen wird. Ich kann es nicht nachvollziehen, dass es, wenn ein | |
Deutscher bei einem Unfall stirbt, ein großes Thema ist – sterben aber in | |
Afghanistan 120 Menschen bei einem Bombenanschlag, interessiert das | |
niemanden.“ | |
Politisch: Was Helmut Hoeft ebenso beängstigt: der Hass, den er nicht nur | |
im Internet tagtäglich beobachtet („Diese aktuelle, naziorientierte | |
Gesinnung war für mich unvorstellbar“). Er sei doch immerhin Teil der | |
Nachkriegsgeneration, die aus der Geschichte etwas hätte lernen sollen. | |
„Warum die Geschichte sich wiederholt und Menschen immer noch Angst haben, | |
dass ihnen etwas weggenommen wird, das verstehe ich nicht.“ Hoeft sieht | |
sich als politischer Mensch, schon allein deshalb, weil er eine | |
Leitungsposition in einer religiösen Institution innehat. „Ich versuche, so | |
fair wie möglich zu arbeiten, denn mir ist bewusst, dass ich eine | |
gesellschaftliche Verantwortung trage“, sagt er. | |
Kritisch: Für den Musiker ist es wesentlich, dass Menschen in der Kirche | |
einen Ort der Stille und der Ruhe finden. Wie nach dem Anschlag am | |
Breitscheidplatz: „Es sind viele Leute aus ganz Berlin und darüber hinaus | |
zu uns gekommen und haben uns als Ansprechpartner gesucht, unabhängig von | |
ihrer Religion.“ Diese Öffnung für Menschen anderen Glaubens ist ihm | |
wichtig. Er wolle auch niemanden davon überzeugen, christlich zu werden | |
(„Wenn mich jemand dazu befragt, antworte ich gerne. Wenn nicht, kann man | |
sich gut auch über andere Themen als Gott oder Musik unterhalten“). | |
Genießen: Hoefts drei erwachsene Kinder haben beruflich nichts mit Musik zu | |
tun. Aber gern und oft besucht er mit ihnen Konzerte. „Mit meiner Tochter | |
war ich bei Tower of Power. Für mich eine der besten US-amerikanischen | |
68er-Bands.“ Mit seinem Sohn hat er eine Kreuzfahrt in der Karibik | |
unternommen. | |
Aufhören: Wenn Helmut Hoeft 2023 in Rente geht, will er „eine Pause | |
machen“. Und danach auf Orgeltour nach Paris. „Paris ist prägend für | |
Orgelspieler und Kirchenmusiker.“ | |
Abschalten: Für lange Zeit sieht er sich allerdings nicht vom Ku’damm | |
entfernt. Zwar möchte er seinem Nachfolger in der | |
Kaiser-Wilhelm-Gedächtnis-Kirche die Möglichkeit geben, ohne | |
Beeinträchtigung seinen Platz zu übernehmen, „aber vier bis sechs Stunden | |
am Tag an der Orgel und 40 bis 60 Arbeitsstunden in der Woche gewöhnt man | |
sich nicht so einfach ab“. Ob er auch mal richtig abschalten könne? Da | |
müsse man seine Frau fragen, sagt Hoeft lachend. Wenn er es nicht schaffe, | |
eine Spiegel-Ausgabe komplett zu lesen, wisse er, dass er kurz vor dem | |
Burn-out stehe. | |
Und Glück? „Ich bin glücklich, wenn ich das Publikum mit meiner Musik | |
mitreiße und wenn ich in Frieden mit allen Menschen leben kann.“ | |
18 Jan 2019 | |
## AUTOREN | |
Luciana Ferrando | |
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