Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Der Hausbesuch: Woanders und anders
> P. Lüders ist 43 Jahre alt, hat schon vieles ausprobiert und lebt jetzt
> wieder bei seiner Mutter. Zu Besuch in Tangstedt.
Bild: P. Lüders beschreibt sich selbst als „ewiger Student“
Ein Brunnen rauscht im Wintergarten. Auf dem gedeckten Glastisch stehen
Blumen, so bunt, als wären sie gemalt. Seine Mutter meine es gut, sagt P.
Lüders. Zu Besuch bei einem, der zurück zu seiner Mutter zog.
Draußen: Eine Allee führt von Hamburg nach Tangstedt. Die Gemeinde im Kreis
Pinneberg wirkt wie ein täglicher Sonntag. Ab und zu rattert eine Harley
durch die Hauptstraße. Verkehrsberuhigt liegt das puderzuckerweiße Haus der
Lüders. Davor: ein Kreisverkehr, ein Kinderspielplatz, der früher schon
hier war, Bienen, die um Blumenbeete kreisen.
Drinnen: Klingelt man an der Tür, summt ein Schlaflied durch das
Treppenhaus. Ein Stofftiger liegt auf der Couchgarnitur, ein
Porzellanhirsch steht auf den weißen Fliesen. Es riecht nach
Räucherstäbchen und frisch gebrühtem Kaffee. P. fischt eine Rosine aus der
Schale. Seit er Zahnschmerzen habe, könne er keine Schokolade mehr essen.
Saowapa Lüders, die Mutter, kommt aus der Küche und stellt eine
Thermoskanne auf einen Untersetzer. Vor drei Jahren zogen Sohn und Mutter
wieder zusammen.
Künstler mit Kurven: P. Lüders, 43, runde Brille, lila T-Shirt und
aufgenähte Flicken auf der Jeans, beschreibt sich als ewiger Student,
Musiker, „Klischeekünstler“, der mit wenig Kohle auskommt, schon auch ein
„Rich Kid“, aber zumindest mit Kurven, auf keinen Fall ein Fahrradhelm-Typ.
Im Wohnzimmer hängen riesige Gemälde, die er nicht verkaufen konnte. Ein
immer wiederkehrendes Motiv: unbesetzte Stühle. Ein grüner Kinderstuhl
steht neben dem Kamin, darauf eine Teekanne: „Stühle betonen An- und
Abwesenheit.“ Er spricht mal Englisch, mal Deutsch, oft in Nominativen.
„Das Werden“: Als Croupier in einem Casino in Australien lernt sein Vater
seine Mutter kennen. Sie sind Anfang zwanzig. Er will ein anderes Leben,
sie auch, nur anders. Am Türrahmen lehnend, erzählt Saowapa Lüders von
ihrer glücklichen Kindheit in Thailand. P. Lüders wird in Harburg geboren
und wächst in Ahrensburg auf.
„Abbruch der Ahrensburg-Lebenssituation“: Irgendwann zwischen neun und zehn
geht Lüders’ Vater zurück nach Australien: „Da muss ich noch mal Mama
fragen.“ Der Abschied wirkt wie eine illegale Übergabe auf einem Parkplatz.
„Hans will dich noch mal sehen“, sagte die Mutter. „Pass auf deine Mama
auf“, der Vater, für den er ganz andere Worte hat: Hans, Eigenbrötler,
Versager, biologischer Vater. Das letzte Mal sieht er ihn 2014 in
Australien. „Er war von Depressionen wie gelähmt“, erzählt P. Lüders
während er in der Hand Cashewkerne zerkrümelt.
„Der Pubertätssektor“: Eine „herrliche Problematik“ nennt P. Lüders a…
was danach kommt. Eine Zeit, in der er viel herumrannte, in der man
fröhlich Camel-Kippen rauchte, sprayte, vor Bahnhofsmitarbeitern wegrannte
und The Motherfuckers hörte, aber auch „himmelhochjauchzendtotbetrübt“
fallen konnte. Vor allem in der Liebe.
Versagensangst: Die Mädchen im Umkreis wären in dieser Zeit einfach viel
schneller gewesen. P. Lüders, der noch Lego spielte, erinnert sich
besonders an eine: Miriam. Es läuft „Dirty Dancing“ im Kino: „Ich saß
rechts von ihr, nein links, ach egal, nein doch nicht egal.“ Lüders wippt
mit den überschlagenen Beinen und grinst: Es muss links gewesen sein, denn
dort lag ihre Hand neben seiner, aber er traute sich nicht, sie zu
berühren: „Ich weinte am Ende wie ein Kind vor ihr“ – Romeo und Julia,
voller Pathos, die Kumpels trösten ihn. Es sei für P. Lüders der
eindrucksvollste Moment des Schmerzes gewesen, völlig versagt zu haben.
Synchron zu seinem Vater, tausend Kilometer weit entfernt, habe ihn die
Versagensangst immer begleitet, wie ein Gendefekt.
Wo anders und anders: Während P. Lüders über den gepflasterten Gartenweg
vorbei an einem asiatischen Schrein läuft, erzählt er von seinem besten
Freund aus der Zeit des Zivildienstes: „Wir sind so durch die Jahre
gewandert.“ Heute lebt er fünf Kilometer weiter mit P. Lüders’ Ex-Freundin
zusammen. Er traut sich nicht, sie anzurufen. Er gönne ihnen, dass sie
Kinder zeugten und ein Haus kauften, während er sich als freier Illustrator
und Künstler versucht: „Ich war eben lange weg, woanders und anders.“ P.
Lüders knabbert an einer selbst gepflanzten Zuckerschote. Diese Zeit erlebt
er als ein ständiges Rennen: Wer bekommt den Schreibtisch bei einer
Agentur, wer als erster Kinder, „eine neue Dimension von Existenzialismus“.
Die Mitbewohnerinnen: Im Garten säubert die Tante Saipin Jenkin
Gartensteine. Sie kennt P. Lüders’ Krisen, seit er klein war: „Auch wenn er
seine Arschhaare lila färben wollte, egal was, er hat uns immer alles
anvertraut“, sagt die ältere Schwester seiner Mutter, tätowierte
Augenbrauen, weiße Zähne, die Handschuhe verdreckt und ein Grinsen so
breit, dass sich eine Falte zwischen ihren Augen spannt. Alle ihre Freunde
in Thailand hätten mit 18 geheiratet, sich später scheiden lassen und seien
dann durchgedreht. „Ponch“ aber habe all das schon gemacht: Kunst, Musik,
Hollywood, erzählt die ältere Schwester seiner Mutter, die sich selbst als
illegale Migrantin mit 100 Mark in der Tasche durchschlug: „Wir wollten,
dass er zurückkommt“, sagt sie über ihren Neffen, den sie früher schon mit
blauen Lippen aus dem Pool fischen mussten, weil er nicht aufhören konnte
„zu kämpfen“.
WG mit der Mutter: Gemeinsam kaufen sie das Haus. Anfangs ist es P. Lüders
peinlich: „Wenn du weißt, du bist 41, du hast in dem Spiel um die Mädels
verloren, kannst nicht von deinem eigenen Geld leben, musst zurück zu
Mami.“ Er habe keinen anderen Ort auf der Welt gehabt. Heute sei das Haus
die komfortabelste Passage für sein hektisches Gemüt.
Symmetrie: Zwei Zimmer nennt er sein Refugium: ein 1-Meter-Bett unter einer
Dachschräge, an der Wand hängt eine schwarze Tafel, auf dem Schreibtisch
zentriert ein Taschenrechner, Papierberge mit Formeln, Grenzwerten,
imaginäre und irrationale Zahlen. Mit der flachen Hand fährt P. Lüders über
seinen Lieblingsgegenstand: ein Physikbuch in Papier eingewickelt: „Früher
haben mich meine Probleme abgelenkt, in die Tiefe zu gehen.“ 2008 war er in
den USA, sein Leben ging nicht nur finanziell den Bach runter. Aus dem
Regal fischt er das Buch, das ihn in dieser Zeit gerettet habe: „Mathematik
für alle.“ Symmetrie, das sei etwas, das er jetzt nicht mehr über Liebe,
sondern über Mathematik erklären könne.
Die Frauen: Die letzte, „ich nenne sie mal ordentliche Beziehung“, hatte P.
Lüders 2004. „Ein Teil von mir dachte, er wohnt jetzt in einem warmen
Pantoffel“: warm und eng aneinandergeschmiegt, fast drei Jahre. Ein
anderer, innerer Gegenspieler beendete die Beziehung fies und feige,
„leider eine männliche Verhaltensweise“. „Ich bin schon so lange alleine…
sagt P. Lüders und dreht sich auf seinem Schreibtischstuhl. Manchmal fehle
ihm der Sex, das Sich-jugendlich-Fühlen, wenn man verliebt ist. Aber nur
aus Vernunftgründen würde er Kinder haben wollen, sagt er. Seine Mutter und
er seien ein gutes Team und genug.
Ende der Suche: Natürlich könnte er über Tinder eine Partnerin suchen: Es
sei ein recht „pflegeleichtes Radar“, zack, rechts, links. Für sein
neurotisches Wesen aber sei die rein biologische Art-Klassifizierung der
Tod: „Ich will als das erkannt werden, was ich bin.“ Auf Partys spricht P.
Lüders über Mathematik. Was er an sich selbst mag: die Bemühung um
Sorgfalt, dass er bemüht wenig Unruhe im Herzen hat, bemüht ist, sich Zeit
zu nehmen. Für die Familienplanung bräuchte er keine Foren, kein Facebook,
zu viel „verdichtete Aufmerksamkeit“. Heute sei das mit dem Vergleichen
einfacher, die Versagensangst verdünnt.
27 Feb 2019
## AUTOREN
Ann Esswein
## TAGS
Wohnen
Mutter
Gentrifizierung
Der Hausbesuch
Gentrifizierung
Der Hausbesuch
Der Hausbesuch
Der Hausbesuch
## ARTIKEL ZUM THEMA
Der Hausbesuch: Ein braver Revoluzzer
Es gibt noch Hausbesitzer, die nicht auf Teufel komm raus die Miete
erhöhen. Der Weltverbesserer Gerhard Oschmann aus Berlin ist so einer.
Der Hausbesuch: Unter Dach und Fachwerk
Das Fachwerkhaus von Dietrich Klages aus Celle stand ursprünglich im
Nachbarort – der Wiederaufbau ist sein Lebenshobby.
Der Hausbesuch: Ein Schnitt für jeden Körper
Aus Ghana kam Victor Ankobea nach Deutschland. In Berlin hat er ein
Nähatelier – noch. Das Haus wurde verkauft, sein Laden gekündigt.
Der Hausbesuch: Die Hauptsache ist Liebe
Wallis Birds Stimme ist rau, ihre Texte sind gefühlsgeladen. Erst in ihrer
Wohnung in Berlin ist die Musikerin richtig bei sich angekommen.
Der Hausbesuch: DDR auf Japanisch
Shinya Ishizaka wohnt seit zwei Jahren in Dresden. Auf Flohmärkten sucht er
regelmäßig DDR-Sammlerstücke für den Onlineshop seiner Mutter.
Der Hausbesuch: Boxen ist wie singen
Sie ist Opernsängerin, liebt Hunde, wuchs in Norwegen auf und lernte beim
Boxtraining, wie wichtig Teamgefühl ist. Zu Besuch bei Ivi Karnezi.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.