# taz.de -- Aus Le Monde diplomatique: Frauen schlagen zurück | |
> Vor 100 Jahren wurden Feministinnen verfolgt und mit Steinen beworfen. | |
> Doch sie trainierten Kampfsport und bildeten Bodyguard-Gruppen. | |
Bild: Für Gleichberechtigung wird immer noch gekämpft: eine Demonstration von… | |
Vor Kurzem kam der britische Film „Suffragette – Taten statt Worte“ in die | |
Kinos – ein rührselig erzähltes Sozialdrama über die erste große | |
Frauenbewegung der Geschichte. Schade, dass sich die Macherinnen nicht | |
getraut haben, aus dem Genre auszubrechen und die wagemutigen Aktionen der | |
Kämpferinnen für das Frauenwahlrecht mit | |
Mixed-Martial-Arts-Schauspielerinnen in Szene zu setzen. | |
Emmeline Pankhurst (1858–1928), die charismatische Anführerin der Bewegung, | |
war eine Verfechterin des gewaltlosen Widerstands gewesen, bevor sie 1903 | |
mit ihren Töchtern Christabel und Sylvia die Women’s Social and Political | |
Union (WSPU) gründete. Weil sie im Handgemenge einen Polizisten angespuckt | |
hatte, wurde Christabel 1905 zum ersten Mal verhaftet. In den folgenden | |
Jahren kam es immer wieder zu willkürlichen Verhaftungen der drei | |
Pankhurst-Frauen und anderer WSPU-Aktivistinnen. | |
Nachdem eine Demonstration mit brutaler Polizeigewalt niedergeschlagen | |
worden war, setzte die WSPU ab 1910 auf gezielte Aktionen: Die von den | |
Zeitungen als „Suffragetten“ bezeichneten Aktivistinnen schlugen | |
Fensterscheiben ein, zündeten vereinzelt Landhäuser von Reichen an, | |
verwüsteten Golfplätze und plünderten die Royal Botanic Gardens. | |
Die Sachbeschädigungen waren jedoch nichts im Vergleich zu der von Männern | |
ausgeübten Gewalt. Tagtäglich verfolgten sie die Aktivistinnen bis nach | |
Hause und an den Arbeitsplatz, schikanierten sie auf offener Straße und | |
bewarfen sie auf Demonstrationen mit Steinen. Unter den spöttischen Blicken | |
der Polizisten, die nur darauf warteten, selbst zum Zuge zu kommen, stiegen | |
sie bei den Frauenversammlungen auf die Tribünen, um die Rednerinnen zu | |
verprügeln. | |
## Im Hungerstreik zwangsernährt | |
Als die Aktivistinnen im Gefängnis in den Hungerstreik traten, um als | |
politische Gefangene anerkannt zu werden, wurden sie zwangsernährt. Da sich | |
darüber aber auch immer mehr (männliche) Bürger empörten, erließ die | |
Regierung 1913 den „Cat and Mouse Act“: Wenn die Frauen zu stark geschwächt | |
waren, wurden sie entlassen; doch sobald sie wieder zu Kräften gekommen | |
waren, kamen sie wieder ins Gefängnis. | |
Das grausame Katz-und-Maus-Spiel zielte darauf ab, die Köpfe der Bewegung | |
auszuschalten. Um das zu verhindern, kamen die Samurai ins Spiel: Im Jahr | |
1900 hatte der Ingenieur und Japanreisende Edward William Barton-Wright in | |
London eine Kampfschule eröffnet, in der er sein Selbstverteidigungssystem | |
„Bartitsu“ (ein Kofferwort aus seinem Familiennamen und Ju-Jutsu) | |
unterrichtete – eine Art Vorläufer der modernen Mixed-Martial-Arts aus | |
Ju-Jutsu, Boxen, Ringkampf und Savate (französisches Boxen). | |
Besonders beliebt waren die beiden japanischen Meister Tani Yukio und | |
Uyenishi Sadakazu. Das Sportlehrerehepaar Edith und William Garrud war von | |
einer öffentlichen Vorführung so begeistert, dass sie sich sofort an | |
Barton-Wrights Schule einschrieben, die zwei Jahre später allerdings schon | |
wieder schloss. Uyenishi gründete daraufhin sein eigenes Institut, die | |
School of Japanese Self-Defense. Als der Meister nach Japan zurückging, | |
übernahmen die Garruds den Lehrbetrieb. Edith Garrud (1872–1971) | |
unterrichtete dort Kinder und Frauen in Ju-Jutsu und eröffnete gleichzeitig | |
im Londoner East End ein Dojo für die Suffragetten der WSPU und der Women’s | |
Freedom League, einer 1907 gegründeten Abspaltung der Union. | |
Dass Frauen überhaupt Sport trieben, war schon ein politischer Akt. Die nur | |
ein Meter fünfzig große Edith Garrud führte mit Begeisterung vor, dass | |
körperliche Geschicklichkeit der plumpen Gewalt überlegen ist. Auf Demos | |
trat sie in Schaukämpfen gegen einen als Polizisten verkleideten Komparsen | |
an. Sie spielte in dem ersten englischen Kampfkunstfilm (“Jiujitsu Downs | |
The Footpads“, 1907) mit, schrieb eine Komödie gegen häusliche Gewalt | |
(“What Every Women Ought to Know“, 1911) und veröffentlichte Artikel in der | |
WSPU-Zeitschrift Votes for Woman. Garrud war sich auch nicht zu schade, auf | |
die Gefängnismauern von Holloway zu klettern, um lauthals singend ihre | |
Unterstützung für die eingesperrten Suffragetten zu bekunden. | |
## Weibliche Bodyguards gegen Polizisten | |
Um die Demonstrantinnen gegen polizeiliche Übergriffe zu schützen, richtete | |
die WSPU auf Anregung von Sylvia Pankhurst einen Sicherheitsdienst ein. So | |
entstand 1913 der „Bodyguard“, eine Gruppe von etwa vierzig Frauen, die von | |
Edith Garrud trainiert wurden. An der Spitze der Bodyguards stand Gertrude | |
„Gert“ Harding (1889–1977), eine Kanadierin, die erst ein Jahr zuvor nach | |
London gekommen war und sofort Berühmtheit erlangt hatte, nachdem sie in | |
den Royal Botanic Gardens ein paar seltene Orchideen herausgerissen hatte. | |
Die Polizei war zunächst von einem männlichen Übeltäter ausgegangen, weil | |
sie sich nicht vorstellen konnte, dass eine Frau die hohe Gartenmauer | |
überwunden hatte. | |
Die Bodyguards versteckten unter ihren Kleidern Ziegelsteine, | |
Gymnastikkeulen oder Schlagstöcke, die sie der Polizei weggenommen hatten. | |
Trotz zahlreicher Knochenbrüche, Wunden und Beulen übertrafen sie sich | |
gegenseitig an Mut und Einfallsreichtum, um ihre zahlenmäßige | |
Unterlegenheit auszugleichen. Sie legten die Strecken der | |
Demonstrationszüge fest, organisierten Unterschlupfe und verkleideten sich | |
als Emmeline Pankhurst, um die Polizisten in die Irre zu führen. | |
Die Presse berichtete über ihre Heldentaten und nannte sie „Amazonen“ oder | |
„Suffrajitsu“, während sich die Minister die Haare rauften: Die Frauen | |
stellten im wahrsten Sinne des Wortes die Autoritäten bloß, indem sie den | |
Polizisten die Hosenträger klauten. „Was unsere Kämpferinnen betrifft“, | |
schrieb Emmeline Pankhurst in einer Würdigung ihrer Beschützerinnen, „so | |
sind sie in bester Form und sehr stolz auf ihre Leistungen [...]. Unsere | |
Kameradin, der sie den Schädel eingeschlagen haben, weigerte sich, die | |
Wunde nähen zu lassen, denn sie wollte eine möglichst sichtbare Narbe | |
behalten. Das ist wahrer Kriegerinnengeist!“ | |
Auch der Polizei gelang der eine oder andere Coup. 1913 verhaftete sie | |
Emmeline Pankhurst bei ihrer Rückkehr aus den USA noch auf dem Schiff, um | |
den am Ufer wartenden Bodyguards zuvorzukommen. Meistens verließ sich die | |
Polizei aber nur auf ihre Übermacht und Brutalität, wie 1914 bei einer | |
WSPU-Versammlung in Glasgow. Zunächst war es Emmeline Pankhurst gelungen, | |
die Polizisten auszutricksen, indem sie sich unter das Publikum mischte. | |
Doch kaum hatte sie die Tribüne betreten, warfen sich fünfzig Polizisten | |
vor den Augen von viertausend entsetzten Zuschauer*innen auf die Rednerin, | |
die von dreißig Bodyguards verteidigt wurde. Nach der „Schlacht von | |
Glasgow“ setzten sich viele bislang Unentschlossene für die Sache der | |
Suffragetten ein. | |
Nachdem Großbritannien in den Krieg gegen Deutschland eingetreten war, | |
beschloss Emmeline Pankhurst die Aktionen der WSPU zu beenden und die | |
Bodyguard-Truppe aufzulösen. Sie rief dazu auf, die nationalen | |
Anstrengungen zu unterstützen. Diese Strategie, mit der sie die Rolle der | |
Frauen als Staatsbürgerinnen hervorheben wollte, um die Rechtmäßigkeit | |
ihrer Forderungen zu unterstreichen, trug 1918 Früchte: Acht Millionen | |
Engländerinnen über dreißig bekamen das Wahlrecht zugesprochen. | |
## Kampf gegen gebrochene Zehen | |
Pankhursts patriotischer Appell führte allerdings zum Bruch mit ihrer | |
Tochter Sylvia, die sich den Rätekommunist*innen anschloss, die gegen den | |
Krieg waren. Emmeline, die eine Heidenangst vor einer kommunistischen | |
Revolution hatte, trat sogar der konservativen Partei bei. | |
Edith Garrud unterrichtete noch bis 1925 gemeinsam mit ihrem Ehemann | |
Ju-Jutsu. Auf der anderen Seite des Ärmelkanals nahmen sich einige Frauen | |
die „Jujutsuffragetten“ zum Vorbild, wie etwa die Sozialistin und | |
Psychiaterin Madeleine Pelletier. Nachdem sie 1908 in London auf einer | |
Demonstration gewesen war, verteidigte Pelletier in ihrer Zeitung La | |
Suffragiste die Militanz ihrer englischen Schwestern: „Es ist zwar kein | |
Argument, ein Fenster einzuschlagen, aber was soll man tun, wenn die | |
öffentliche Meinung nicht auf Argumente hört, sondern nur auf | |
eingeschlagene Fensterscheiben?“ | |
Und nicht zu vergessen die Dichterin Qiu Jin (1875–1907), die „erste | |
chinesische Feministin“, die gegen den grausamen Brauch des Füßebindens | |
kämpfte, bei dem den Mädchen die Zehen gebrochen wurden. Qui Jin, die | |
chinesische und japanische Kampfkünste beherrschte, unterrichtete außerdem | |
Sport an Mädchenschulen. Sie ermutigte ihre Schülerinnen, einen Beruf zu | |
erlernen, und löste damit einen Skandal aus. Die Revolutionärin wurde | |
schließlich wegen versuchten Staatsstreichs angeklagt und 1907 zum Tode | |
verurteilt. | |
„Der Angreifer entscheidet, ob Gewalt eingesetzt wird; wir entscheiden, | |
gegen wen sich diese Gewalt richten wird“, schreibt die österreichische | |
Trainerin Irene Zeilinger in ihrem „Kleinen Handbuch der Selbstverteidigung | |
für alle Frauen, die von blöder Anmache die Nase voll haben“. Nach diesem | |
Motto haben die mutigen Pionierinnen politischer und feministischer | |
Selbstverteidigung bereits vor über hundert Jahren gehandelt. | |
Aus dem Französischen von Sabine Jainski | |
11 Feb 2016 | |
## AUTOREN | |
Daniel Paris-Clavel | |
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