# taz.de -- Queere Geschichte des Holocaust: Die vielen, die fehlen | |
> Männer bestimmen die Geschichte, auch die der Schoah. Schicksale von | |
> Frauen und Homosexuellen werden kaum erzählt. Das muss sich ändern. | |
Bild: Die queere Seite der Geschichte bleibt oft unerwähnt | |
Am 10. September 1944 schrieb der Leiter der Jugendfürsorge im Ghetto | |
Theresienstadt, Gonda Redlich, in sein Tagebuch: „Zwei Betreuerinnen | |
arbeiteten zusammen. Die eine liebte die andere mit pathologischer Liebe. | |
Ich musste sie entlassen.“ Sechs Wochen nach dem Eintrag existierte | |
Theresienstadt, wie es Redlich kannte, nicht mehr: Die SS verschleppte zwei | |
Drittel der Gefangenen nach Auschwitz, darunter Redlich, seine Frau | |
Gertruda und deren Baby Dan. Wie die meisten Menschen aus Theresienstadt | |
wurden alle drei ermordet. | |
Unter dem Eindruck dieses Massenmords könnten wir vergessen zu fragen, | |
weswegen Redlich die Liebe zwischen seinen Kolleginnen als pathologisch | |
betrachtete, wenn es doch eine konsensuale Beziehung zwischen zwei | |
Erwachsenen war. Zudem war die Tschechoslowakei vor dem Krieg, ähnlich wie | |
die Weimarer Republik, auf dem Weg, Homosexualität zu entkriminalisieren, | |
es existierte eine homosexuelle Subkultur mit schwulen und lesbischen Bars, | |
Zeitschriften und Aktivisten_innen. | |
Insa Eschebach, die Leiterin der Gedenkstätte Ravensbrück, hat auf die | |
Homophobie in den Lagern hingewiesen. Sie resultierte nicht aus den | |
sexuellen Normen der Nazis, sondern war vielmehr ein Produkt der | |
Häftlingsgemeinschaft, die viel normativer war als die Gesellschaften der | |
Vorkriegszeit: Die Einhaltung geschlechtsspezifischer Normen wurde genau | |
beobachtet, Abweichungen sozial geächtet. | |
Die Lager mit ihren von den Deutschen verursachten extremen Bedingungen | |
produzierten neue Verhaltensmodelle: Frauen konnten zu Versorgerinnen ihrer | |
Familien werden, manchmal, indem sie Sex gegen Nahrung, Unterkunft und | |
Schutz vor Transporten tauschten. Dieses Verhalten, ähnlich wie die | |
gleichgeschlechtliche Intimität in den reinen Männer- oder Frauenlagern, | |
wurde von der Lagergesellschaft verurteilt. So wurden jüdische Homosexuelle | |
oder Frauen, die sich prostituiert hatten, von ihren jüdischen | |
Lagergemeinschaften als abnorm wahrgenommen. | |
## Um ihnen eine Stimme zu geben | |
Das schlug sich auch in den späteren Zeugnissen der Überlebenden nieder. | |
Häufig wurde ihre Existenz überhaupt nicht erwähnt oder von | |
Herausgeber_innen gelöscht. So auch die von Redlich erwähnte lesbische | |
Betreuerin: Die Herausgeber_innen der hebräischen und englischen Ausgabe | |
seines Tagebuchs entfernten diese Passagen. | |
Die Geschichten homosexueller jüdischer Opfer wurden nicht erzählt, weil | |
moralische Normen vorgeben, was überliefert wird und was nicht. Unsere | |
Zivilisation diktiert, dass wir uns mit dem Erzähler identifizieren können | |
müssen; mit einer devianten Person können wir es aber nicht tun, denn | |
soziale Devianz stellt Abscheu her. Eine deviante Person kann also keine | |
Stimme haben und wird nie Zeugnis tragen. | |
Das Verschweigen der Geschichten all dieser Menschen schafft eine | |
signifikante Lücke in unserem Verständnis der Opfergesellschaft. Eine der | |
wichtigsten Traditionen der überlebenden osteuropäischen Juden waren die | |
„Jiskor Bicher“, Gedenkbücher, in denen die Namen der toten Verwandten und | |
Freunde aufgeschrieben waren, um ihnen einen symbolischen Grabstein zu | |
geben. Um einen Platz in der Geschichte zu haben, bedarf es eines Namens, | |
einer Stimme, eines Grabsteins, eines Denkmal – am besten aller vier | |
Elemente. | |
Auch deswegen werden bei Gedenkveranstaltungen die Namen der Toten verlesen | |
(so auch bei den Gedenkfeiern für die Opfer des Anschlags von Orlando). | |
Deswegen sind die Memoiren der Überlebenden so wichtig, deswegen die | |
Gedenkbücher und Denkmale – für die Opfer des Holocaust und heute, nach | |
Jahrzehnten des Kampfes um Anerkennung, auch für die in der NS-Zeit | |
verfolgten Schwulen und Lesben. | |
## Frauen sind „Ehefrauen/Töchter/Mütter von“ | |
Um Geschichte zu schreiben, brauchen wir Zeugnisse. Aber wer Zeugnis geben | |
durfte, war eine machtpolitische Entscheidung. Quellen und Archive | |
reflektieren immer auch Machtverhältnisse. Somit wird bis heute Geschichte | |
geschrieben, in der homophobe Stereotype unreflektiert übernommen werden. | |
Die patriarchalen Normen der Lagergesellschaften haben bewirkt, dass | |
verhältnismäßig wenige Frauen ihre Erinnerungen niederschrieben; ihre | |
Erfahrungen galten als nicht wichtig. Wenn sie es doch taten, wurden ihre | |
Memoiren nicht kanonisch wie die der Männer. | |
Primo Levi und Liana Millu, zwei italienische jüdische | |
Auschwitz-Überlebende, schrieben kurz nach dem Krieg ihre | |
Erinnerungsbücher. Levis Text wurde über die Zeit zum wohl wichtigsten | |
Zeugnis des Holocaust, neben Elie Wiesel oder Tadeusz Borowski. Millus | |
„Rauch über Birkenau“ erschien in deutscher Übersetzung erst 1998 und | |
erfuhr dann auch die verdiente Anerkennung. Aber bis heute wird ihr Buch, | |
wie auch Charlotte Delbos, als Dokument einer weiblichen Erfahrung gelesen, | |
während Levis Werk als universal gültige, nicht geschlechtlich markierte | |
Geschichte rezipiert wird. | |
Auf diesen Widerspruch wiesen schon Anfang der 1980er Jahre feministische | |
Holocaustforscherinnen wie Joan Ringelheim hin. Sie stellten fest, dass die | |
weibliche Perspektive in unserem Verständnis der Geschichte des Holocaust | |
fehlt: Frauen stehen am Rande, sie kommen vor als Frauen/Töchter/Mütter von | |
wichtigen Männern, sind nur selten Protagonistinnen. Auch die | |
Geschichtsschreibung des Holocaust ist auf diese Weise repressiv: Es sind | |
die Männer, die Geschichte als die Vergangenheit von ebenfalls Männern | |
bestimmen. | |
Die Literaturwissenschaftlerin Sara Horowitz beschreibt dies am Beispiel | |
von Art Spiegelmans „Maus“. Nach dem Tod der Mutter Anja verbrennt ihr Mann | |
ihre Tagebücher: „Anjas fehlende Tagebücher sind repräsentativ für die | |
Marginalität der weiblichen Erfahrung beim Schreiben eines Master | |
Narratives des Nazi-Genozids“, sagt Horowitz. Die Frau hat keine Stimme; | |
alles was von ihr bleibt, ist das, was ihre Sohn und ihr Mann über sie | |
erzählen. Die große feministische Historikerin Gerda Lerner, die als | |
jüdische Kommunistin 1938 vor den Nazis aus Wien fliehen musste, sah genau | |
diese Muster als das Wirken patriarchaler Hegemonie. Sie forderte auf, | |
kritisch zu intervenieren und neue Perspektiven zuzulassen, die die | |
Geschichte und damit die Machtverhältnisse, auf denen sie basiert, zu | |
verändern. | |
## Kampf um die Deutungshoheit | |
Auf die ersten Tagungen zum Thema Frauen im Holocaust Anfang der 1980er | |
Jahre in New York folgte eine nie da gewesene Gegenreaktion. Manche | |
Historiker warfen den feministischen Forscherinnen eine Hierarchisierung | |
der Opfer und mangelnden Respekt vor. Das sind schwere Vorwürfe, wenn es um | |
den Holocaust geht. Doch diese Vorwürfe zeigen auch, wie heftig um die | |
Deutungshoheit gekämpft wird. Die Strategie ist einfach: Statt sich | |
sachlich mit den Argumenten auseinandersetzen, werden Personen moralisch | |
diffamiert und damit als Mitglieder der Wissenschaftsgemeinde diskreditiert | |
und mit ihnen ihre Forschung. Die verunglimpfenden Attacken waren ein | |
Versuch, den Status quo zu erhalten. | |
Heute, 35 Jahre später, ist die Situation nicht viel anders. Es gibt eine | |
Handvoll von Holocaust-Historiker_innen, zu der auch ich gehöre, die nach | |
den fehlenden Geschichten suchen, die nach der Logik und den Auswirkungen | |
der Homophobie in den Lagergesellschaften fragen und eine queere | |
Perspektive zu entwickeln versuchen. Manchmal, ganz selten, gelingt es uns, | |
diese Geschichten zu finden, zum Beispiel bei Walter Guttmann, der als | |
Jugendlicher nach Bergen-Belsen deportiert wurde, oder Ralph Oppenhejm, dem | |
dänischen Tagebuchschreiber aus Theresienstadt. | |
Wir werden nie wissen, wie Redlichs Betreuerin hieß, ob sie überlebte oder | |
wie sie ihre Entlassung erlebte. Aber indem wir über die „unwürdigen“ Opf… | |
nachdenken, kann es uns gelingen, eine weniger urteilende und mehr | |
inklusive Geschichte zu entwickeln. | |
11 Sep 2016 | |
## AUTOREN | |
Anna Hajkova | |
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