# taz.de -- Frauen in der Demokratiegeschichte: „Reformen statt Revolutionen�… | |
> Entscheidend für das Frauenwahlrecht sei nicht die Revolution, sondern | |
> die Frauenbewegung gewesen, sagt die Historikerin Richter – und zieht | |
> Parallelen zu MeToo. | |
Bild: Keine Bilder: In der Demokratie- und Revolutionsgeschichte bleiben Frauen… | |
taz am wochenende: Frau Richter, vor 100 Jahren durften Frauen zum ersten | |
Mal wählen und gewählt werden. Marie Juchacz hielt kurz danach eine | |
berühmte Rede als erste Abgeordnete in einem deutschen Parlament. Sie | |
sagte, das Frauenwahlrecht sei eine Errungenschaft der Novemberrevolution | |
gewesen. Dem widersprechen Sie. | |
Hedwig Richter: Die Geschichte der Demokratie wird gern als die Geschichte | |
von Revolutionen erzählt. Und die waren überwiegend männlich. In dieser | |
Erzählung ist das [1][Wahlrecht von Frauen] also ein Geschenk von Männern. | |
Aber das ist zu einfach: Es gab im Kaiserreich seit Ende des 19. | |
Jahrhunderts eine dynamische Frauenbewegung. Sie spielte eine entscheidende | |
Rolle beim Kampf um das Frauenwahlrecht. | |
Wie sah denn die Frauenbewegung vor 1918 aus? | |
Immer mehr Frauen engagierten sich in Vereinen, wobei die Kirchen eine | |
wichtige Rolle spielten. Die Frauen gründeten Zeitschriften, hielten | |
Vorträge, reichten Petitionen ein, kämpften für Mädchenschulen und | |
Arbeitsschutz. Im Bund Deutscher Frauenvereine waren bis zum Ersten | |
Weltkrieg 500.000 Mitglieder organisiert. 1909 schrieb August Bebel: „Es | |
dürfte kaum eine zweite Bewegung geben, die in so kurzer Zeit so günstige | |
Resultate erzielte.“ Statt die Revolution auszurufen, betrieben Frauen | |
Reformen. | |
Aber ist das nicht ein Klischee, dass Revolutionen eher männlich und | |
Reformen weiblich sind? | |
Natürlich gab es immer auch Frauen, die an den Revolutionen beteiligt | |
waren. Doch in der Geschichte wurden gewalttätige Revolutionen eher von | |
Männern betrieben. Es wird oft unterschätzt, wie großartig Reformen und wie | |
problematisch Revolutionen sein können. Revolutionen erscheinen irgendwie | |
sexy: der junge Mann, der mit Steinen wirft. Aber häufig wirkt das | |
destruktiv. Die Transformationsforschung zeigt, dass Revolutionen eher zu | |
Diktaturen als zu Demokratien führen. | |
Bei Revolutionen sieht man eben sofort etwas. | |
Genau, da geht es auch viel um Bilder. Die Deutschen haben keine | |
Ikonografie der eigenen Demokratiegeschichte. Welches Bild von der | |
deutschen Frauenbewegung kennt man? Da ist natürlich der [2][Tomatenwurf | |
von Sigrid Rüger] 1968 – aber vor 1945 gibt es de facto keine Bilder einer | |
weiblichen Demokratiegeschichte. Die Frauenrechtlerinnen trugen lange | |
Kleider und große Hüte. Die Bilder dieser Frauen erscheinen uns zu | |
langweilig. | |
Sie schreiben, es gebe in Deutschland eine „Blindheit gegenüber Frauen in | |
der Demokratie- und Wahlrechtsgeschichte“. Woran liegt das? | |
In Deutschland wird das Kaiserreich einseitig als Zeit der Militarisierung | |
und des Untertanentums erzählt. Die Pickelhaube, das ist das Klischee. Es | |
gibt nach wie vor und verständlicherweise das Bedürfnis, die deutsche | |
Geschichte im 19. Jahrhundert zu nutzen, um die NS-Zeit zu verstehen. Da | |
passen die Frauenbewegung und die Demokratisierung in der Kaiserzeit nicht | |
so gut ins Bild. | |
In Deutschland wurde das Frauenwahlrecht im Jahr 1918 eingeführt. Wo stehen | |
wir damit im historischen Vergleich? | |
Einige Staaten wie zum Beispiel Finnland waren schneller. Aber Deutschland | |
war eines der ersten großen Länder, die das Frauenwahlrecht einführten. | |
Trotzdem ist das Frauenwahlrecht in Deutschland kein Teil der | |
Erinnerungskultur, Vorkämpferinnen wie Marie Juchacz oder Helene Lange sind | |
vergleichsweise unbekannt. | |
Ist das in anderen Ländern anders? | |
Ja, meine britischen Kolleginnen sind seit Monaten mit Veranstaltungen rund | |
um das Jubiläum beschäftigt. Vor dem Westminster Palace wurde ein Denkmal | |
der Frauenrechtlerin Millicent Fawcett enthüllt. In Deutschland gibt es | |
nichts Vergleichbares. | |
Marie Juchacz war in der SPD, sie war historisch die Partei für | |
Frauenrechte. Heute wird der SPD vorgeworfen, den Klassenkampf zu | |
vernachlässigen und sich zu sehr um Gleichstellungspolitik zu kümmern. Kann | |
man aus historischer Perspektive nicht sogar sagen, dass sie vor 100 Jahren | |
damit recht erfolgreich war? | |
Nicht unbedingt: Die Linken haben sich nach 1918 geärgert, dass die | |
Einführung des Frauenwahlrechts nicht dazu geführt hat, dass ihre Parteien | |
noch stärker abschnitten. Dabei hatten die Sozialdemokratinnen ja | |
maßgeblich zur Einführung des Frauenwahlrechts beigetragen! | |
Frauen wählen also nicht unbedingt Frauen. | |
Es gibt das Phänomen des „same gender voting“. Aber bei der CDU kommt das | |
zum Beispiel erst zum Tragen, als die mit Angela Merkel in die Mitte rückt. | |
Historisch gesehen haben Frauen lange Zeit konservativer gewählt, also | |
Parteien mit weniger Frauen. Weder der linke noch der rechte Rand war für | |
Frauen historisch betrachtet attraktiv. | |
Wie hat sich das Wahlverhalten von Frauen entwickelt? | |
Weder der linke noch der rechte Rand war für Frauen historisch betrachtet | |
attraktiv. Sie haben bis Ende der 1970er Jahre stärker konservativ und | |
kirchlich gewählt, und zwar in allen Industrieländern. Sie fingen erst an, | |
in größerer Zahl die Sozialdemokratie zu wählen, als sie in den siebziger | |
Jahren kein radikales Image mehr hatte. Das Gleiche gilt für die Grünen: | |
Die werden mehr von Frauen gewählt, seit sie nicht mehr eine radikale | |
Männerpartei sind. Nach einer Angleichung in den 1980er Jahren gibt es | |
heute wieder einen starken Gender Gap: Frauen wählen eher | |
wohlfahrtsstaatlich und linker als Männer. | |
Wäre Marie Juchacz heute bei den Grünen? | |
Schwer zu sagen. Marie Juchacz und andere Sozialistinnen haben immer darauf | |
hingewiesen, dass sich Klassenkampf und Frauenrechte gegenseitig bedingen. | |
Deswegen ist Juchacz schon eine waschechte Sozialdemokratin. | |
Seit der letzten Wahl sitzt eine rechtspopulistische Partei im Bundestag, | |
die Quote von Parlamentarierinnen ist gesunken. Müssen wir uns um die | |
Gleichstellung Sorgen machen? | |
Nein. Ich würde die AfD als Reaktion auf unsere Gesellschaft sehen, die so | |
divers ist wie nie zuvor. Noch nie hatten Frauen so viele Rechte. Ja, im | |
Bundestag ist der Frauenanteil wieder gesunken, auf etwa 30 Prozent. Aber | |
ich denke, dass die Tendenz trotzdem positiv ist. Die Nazis, die Männer, | |
die auf der Straße stehen und schreien, sehen, dass ihre Welt dabei ist, | |
unterzugehen. Das ist anders als in der Weimarer Republik. | |
1918 wurde das Wahlrecht eingeführt, 100 Jahre später streiten wir über | |
eine Frauenquote. Warum dauert das alles so lange? | |
Als Historikerin muss ich sagen, dass das gar nicht so lange ist. Wir | |
sollten das, was wir haben, nicht untergraben. Demokratie ist etwas ganz | |
Nüchternes. Wir brauchen gar nicht so viel Pathos, es ist eine mühsame | |
Arbeit, braucht Jahrzehnte und wird eben meist nicht mit Revolutionen | |
erkämpft. Mit Reformen und Aushandeln erreichen wir in der Regel mehr. | |
Ist MeToo also, ganz passend zur Frauenbewegung, eher Reform als | |
Revolution? | |
Absolut. MeToo ist ein typisches Beispiel für „weibliche“ | |
Demokratiegeschichte: kein sinnloses Steinewerfen, Gedöns und Gewalt, | |
sondern aufmerksam machen, strukturelle Ungerechtigkeiten in den Blick | |
bekommen, langfristige Veränderungen einfordern – heute heißt das oft auch, | |
[3][auf intersektionelle Problemlagen] hinzuweisen. Bei MeToo geht es stark | |
darum, Selbstverständlichkeiten zu verändern – und das braucht seine Zeit. | |
Aber es braucht schon historische Wegmarken. Was halten Sie von einer | |
Frauenquote im Parlament, wie sie von einigen Abgeordneten gefordert wird? | |
Ich bin ein Fan der Frauenquote. Quote funktioniert. Parteien wie die FDP | |
und AfD, die keine innerparteiliche Quote haben, haben eben auch einen | |
bemerkenswert niedrigen Frauenanteil. In der CDU sind durch die Quote – | |
dort Quorum genannt – kompetente Frauen in die erste Reihe gerückt, die | |
andernfalls gewiss keine Chance gehabt hätten. | |
Die SPD zeigt aber: Eine Quote ist noch kein Mittel für Erfolg. | |
Erfolg lässt sich nie monokausal erklären. Wichtiger ist zu wissen, dass | |
eine Quote die Bedeutung der Partei nicht schwächt. Männlichkeit wirkt | |
historisch oft legitimierend, Weiblichkeit delegitimierend. | |
Wie meinen Sie das? | |
Demokratie war im 19. Jahrhundert etwas Neues und wurde mit Männlichkeit | |
besetzt, damit diese junge Staatsform Anerkennung fand und sich durchsetzen | |
konnte. Die Amerikaner erklärten beispielsweise, ihre Staatsform sei so | |
stark und erfolgreich, weil in einer Demokratie nur Leistung zähle – und da | |
hätten Frauen eben nichts zu melden. Eine Quote hilft dabei, die | |
tiefsitzenden Vorurteile von legitimierender Männlichkeit und | |
delegitimierender Weiblichkeit aufbrechen. | |
In den Debatten um Angela Merkels Nachfolge erkennen manche eine Sehnsucht | |
nach männlicher Politik. | |
Daran merkt man, dass Männlichkeit immer noch legitimierend wirkt. Merkel | |
hat lange gebraucht, bis man sie ernst genommen hat. Aber in den Jahren, in | |
denen sie an der Macht war, hat sich schon etwas verändert. | |
Ist Politik durch Merkel weiblicher geworden? | |
Ich denke schon. Frauen in den hohen politischen Ämtern sind | |
selbstverständlicher geworden, und diese Selbstverständlichkeit ist | |
wichtig. Der aktuell niedrige Anteil an Frauen im Parlament ist zwar | |
bedauerlich, aber Geschichte verläuft nie völlig linear. Unsere liberalen | |
Demokratien sind insgesamt Erfolgsmodelle, auch wenn es noch viel zu tun | |
gibt. | |
12 Nov 2018 | |
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## AUTOREN | |
Lin Hierse | |
Kersten Augustin | |
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