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# taz.de -- Debatte Demokratie in Europa: Die Tyrannei der Mehrheit
> Demokratie ist oft eine verzwickte Angelegenheit. Wollen wir sie retten,
> dürfen wir dem Verlangen nach einfachen Lösungen nicht nachgeben.
Bild: Beim Brexit hatten Populisten von Anfang an gewonnen. Gegner gibt es trot…
Geht Europa unter? Vieles spricht für diese Annahme. Weniger Länder
entwickeln sich Richtung Demokratie, mehr Länder beschränken die
Pressefreiheit, lockern Gewaltenteilung, missachten den Rechtsstaat oder
entziehen Minderheiten den Schutz. Auch in stabilen Demokratien wie Polen
oder Ungarn sorgen reaktionäre Regierungen für die Rückkehr
vordemokratischer Ideale. Populistische Kräfte von links und rechts
versprechen – im Namen „des Volkes“ – einfache Lösungen für langwieri…
verzwickte Aufgaben, die parlamentarische Demokratien nicht im
Hauruckverfahren lösen können. Vom Brexit ganz zu schweigen.
Wie immer lohnt sich ein Blick in die Geschichte. Denn ein Langzeitprojekt
wie die Demokratie lässt sich kaum im panischen Modus der
Untergangsprophetien fassen. Schon wenn wir die Analyse auf nur zwanzig
Jahre ausdehnen, ergibt sich eine weltweit positive Entwicklung hin zu mehr
Demokratie. Seit wann verlaufen Fortschrittsbewegungen linear, ohne Dämpfer
und Rückschritt?
Was sich vielmehr stets aufs Neue in der Geschichte der Moderne sehen
lässt, ist ein Aufwallen der Gegenkräfte. Als sich im 19. Jahrhundert
Freiheit und politische Gleichheit als gesamtgesellschaftliche Werte
durchzusetzen begannen, entstand der Konservatismus, und der Vatikan
erklärte ex cathedra Liberalismus und Demokratie zur Sünde. In den
Aufbrüchen nach dem Zweiten Weltkrieg bemühten sich westliche
Gesellschaften zunächst, in überkommenen Geschlechter-, Familien- und
Wertmodellen Rückhalte und Sicherheit zu finden. Wie auch immer die
Kausalitäten aussehen, das Erstarken der Reaktion signalisiert meistens
zugleich den Aufbruch.
Wir leben in einer Zeit großartiger Veränderungen – und entsprechend
formieren sich die Gegenkräfte. Noch nie war die Welt so eng vernetzt und
aufeinander angewiesen, noch nie gab es so lange Frieden in Europa. Vor
allem: Nie zuvor hatten Frauen so viele Rechte wie in unseren Demokratien.
Es sind denn auch kaum die Entrechteten, die sich im Populismus aufbäumen,
sondern es sind die Kräfte, die gegen die Zukunft kämpfen. Wie die Studien
der Politikwissenschaftlerin Dina C. Mutz für die USA nahelegen,
protestieren im Populismus nicht die „Left behind“, vielmehr fürchten
privilegierte weiße Männer um ihre Vorrechte.
Gewiss muss jeder nationale Fall eigens betrachtet werden. Aber es ist kein
Zufall, dass Populisten auch in Europa häufig eher von Männern gewählt und
unterstützt werden, dass sie sich vor Feminismus und „Genderismus“ fürcht…
wie vor dem schwarzen Mann – und Globalisierung, Weltoffenheit und
Diversität bekämpfen. Sie sind nicht für mehr Gerechtigkeit, sondern
huldigen der Ungleichheit. Diese Leute sind entschlossen, eine offene Welt
zu verhindern.
## Scheinbar heile Vergangenheit
Doch zuweilen fordern auch Mehrheiten ungeduldig mit Kraft- und
Befreiungsschlägen die einfache Lösung und suchen sie in einer scheinbar
heilen Vergangenheit. An dieser Stelle lässt sich eine der wichtigsten
Lehren aus der Geschichte ziehen: Demokratiegeschichte war von Anfang an
die Geschichte ihrer Einschränkung. Egal ob Verfassung, Rechtsstaat,
Minderheitenschutz, Checks und Balances oder Repräsentativsystem – sie alle
zähmen die Mehrheit. Es blieb immer umstritten, wie viel
Mehrheitsherrschaft eine Demokratie verträgt oder braucht, aber
Verfassungsväter und -mütter freier Demokratien haben stets die „Tyrannei
der Mehrheit“ eingehegt. Denn diese blockiert zu oft die Demokratie.
In den USA beispielsweise entzog die Gewalt der Mehrheit den
Afroamerikanern und später auch Afroamerikanerinnen über Jahrzehnte hinweg
ihr Wahlrecht. Auch war es stets das populistische und das faschistische
Argument, mit dem Mehrheitswillen die Rechte anderer zu beschneiden – und
Entscheidungen zu treffen, die allem Verstand Hohn sprachen. Und es war
immer eine sich entfesselnde Demokratie, die dem Faschismus vorausging.
Hitler, aber auch Stalin und die großen Tyrannen dieser Welt haben sich
seit dem 20. Jahrhundert gern als die wahren und eigentlichen Demokraten
bezeichnet – weil das Volk hinter ihnen stünde. Die bittere Wahrheit ist:
Zu oft stand die Mehrheit hinter dem Horror und der Ungerechtigkeit.
Wenn wir den Populisten widerstehen wollen, dann darin, dass wir
selbstbewusst darauf verweisen: Demokratie bedeutet nicht nur
Mehrheitsherrschaft, sondern sie steht zugleich für Freiheit, Gleichheit
und Gerechtigkeit. Beim Brexit hatten die Populisten schon vor dem Ausgang
gewonnen, weil es dem populistischen Begehren entspricht, komplexe Fragen
dem schnellen Mehrheitsvotum zu unterwerfen.
## Keine Panik
Dabei haben wir dafür Parlamente und Ausschüsse und komplizierte Verfahren.
Denn diese Probleme lassen sich nicht in Ja/Nein-Antworten pressen. Ganz
abgesehen davon, dass in unseren hochdifferenzierten Demokratien
Entscheidungen revidierbar sein müssen – eine Idee, die dem Plebiszit
widerspricht, das im Volkeswillen die sakrosankte Entscheidung für alle
Ewigkeiten sieht.
Und Europa, dieses schönste Kind der neuen Zeit? Hier haben wir gelernt,
dass wir den oft mühsamen, verzweigten Weg der Demokratie gehen und uns
nicht in Tollwut üben. Wir haben erlebt, dass Nationen nicht nur den Rahmen
für Demokratisierung bilden, sondern auch den Boden für Hass und Krieg
bereiten können. Diese schreckliche Erfahrung haben wir den USA voraus:
dass wir uns gerade da ausgesöhnt haben, wo es am unwahrscheinlichsten war.
Gerade deswegen ist es an Europa, zum „Westen“ zu stehen – und diese Idee
von Gleichheit, Freiheit, Fairness zu schützen, die niemals ohne
Selbstbeschränkung funktioniert.
Das ist kein Universalrezept zur Rettung der Demokratie. Doch sollten wir
diese Lehren aus der Geschichte im Kopf behalten: keinen Panikattacken
anheimzufallen – und unsere Demokratien mit klugen Institutionen und
Schranken vor der Tyrannei der Mehrheit zu schützen.
30 Jun 2018
## AUTOREN
Hedwig Richter
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Demokratie
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