# taz.de -- Berlin will gesunde Ernährung fördern: Gut essen – leichter gem… | |
> Der Senat will ernährungspolitisch umdenken. Einfluss hat er dabei vor | |
> allem in der Gemeinschaftsverpflegung in Kantinen. Entstehen soll ein | |
> „House of Food“ | |
Bild: Essen hat was Verbindendes | |
Wenn’s ums Essen geht, war Berlin schon immer innovativ. Nicht nur | |
Currywurst und Döner wurden an der Spree kreiert, auch für neue Trends wie | |
vegane Ernährung und Street-Food gilt Berlin als die Hauptstadt. Die | |
neueste Innovation auf dem Teller ist eine politische: Angestoßen durch | |
eine zivilgesellschaftliche Initiative, den Ernährungsrat, hat sich der | |
Senat aufgemacht, eine umfassende „Ernährungsstrategie“ zu entwickeln, die | |
gesundes Essen und ökologische Landwirtschaft kombinieren will. | |
Im Zentrum wird dabei ein „House of Food“ stehen, das in den nächsten zwei | |
Jahren nach Kopenhagener Vorbild in Berlin entstehen soll, eine Premiere in | |
Deutschland. 700.000 Euro wurden dafür im neuen Doppelhaushalt 2018/19 des | |
Landes Berlin bereitgestellt. | |
Die Ernährungsräte sind ein junger Zweig der Umweltbewegung in Deutschland. | |
Der Berliner Rat wurde als zweiter, nach Köln, im Frühjahr 2016 gegründet. | |
„Wir sind ein zivilgesellschaftlicher Zusammenschluss von | |
ernährungspolitisch engagierten Bürger*innen, die sich für die ökologisch | |
nachhaltige, sozial gerechte Nahrungsproduktion und -verteilung im Raum | |
Berlin einsetzen“, beschreibt Sprecherin Gundula Oertel das | |
Selbstverständnis der Gruppe. | |
Ziel sei es, „das Ernährungssystem der Stadt demokratisch und zukunftsfähig | |
zu relokalisieren“. Ein dezidiert politischer Anspruch, der im vergangenen | |
Herbst mit dem Forderungskatalog „Ernährungsdemokratie für Berlin“ | |
konkretisiert wurde. | |
Die neun Ziele reichen vom Anbau von mehr Bio-Lebensmitteln auf | |
Brandenburger Äckern, ihrer Verarbeitung in der Stadt über den Absatz in | |
Schulen und Kantinen; die „städtische Gemeinschaftsverpflegung“ soll damit | |
vorbildhaft ausgebaut werden. | |
Weitere Aktionspunkte sind der Kampf gegen die Lebensmittelverschwendung, | |
ein „Innovationscampus Ernährungswende“ für Food-Startups, mehr Salat im | |
öffentlichen Grün („die Essbare Stadt Berlin schaffen“) und ein Schub in | |
der Ernährungsbildung. Die Stadtjugend soll mehr als bisher die Chance | |
bekommen, „eigene praktische Erfahrungen mit Saat, Anbau und Ernte, beim | |
Lebensmitteleinkauf, Essenszubereitung und gemeinschaftlichen Speisen zu | |
machen“, heißt es im Forderungspapier des Rats. | |
Zwar hatte sich schon der Vorgänger-Senat vage in diese Richtung | |
orientiert. Doch der 2015 vom damaligen Verbrauchersenator Thomas Heilmann | |
(CDU) ins Leben gerufene Beirat „Gutes Essen“ blieb ein internes | |
Kaffeekränzchen. | |
Auf Initiative des grünen Abgeordneten Turgut Altuğ fand das Thema | |
Ernährungspolitik dann 2016 prominenten Eingang in die | |
Koalitionsvereinbarung des rot-rot-grünen Senats. Auf einer Konferenz im | |
Oktober 2017 nahm der neue Verbrauchersenator Dirk Behrendt (Grüne) die | |
Strategievorschläge des Ernährungsrates entgegen und informierte sich über | |
die dänischen Erfahrungen mit einem „House of Food“. Der im Dezember 2017 | |
verabschiedete Doppelhaushalt des Landes stellt knapp eine Million Euro für | |
die Entwicklung einer umfassenden Ernährungsstrategie, den Aufbau des | |
Food-Hauses und weitere Projekte zur Verfügung. | |
Laut Koalitionsvertrag soll nach dem Vorbild Kopenhagens in „einem | |
Modellprojekt mit Großküchen und Caterern gezeigt werden, wie der Anteil an | |
Bio-Produkten, saisonalen und Frischzutaten durch Weiterbildung und | |
Beratung weitgehend kostenneutral erhöht und wie Lebensmittelverschwendung | |
und -verluste vermindert“ werden können. | |
„Das House of Food soll kein Hipsterprojekt sein“, erklärt ein Sprecher der | |
Verbraucherverwaltung auf taz-Anfrage. Das Motto des Kopenhagen House of | |
Food ist: „Gutes Essen für alle“. Erreicht werden dort Schulkinder, Rentner | |
und Kranke: „Also insbesondere Leute, die oft in Kantinen essen“, so der | |
Sprecher. Dem House of Food gehe es nicht um den bloßen Austausch von | |
Lebensmitteln durch den ausschließlichen Einkauf von Biokost, sondern um | |
die Begleitung von Küchen im Umstellungsprozess. Dies geschehe „durch | |
Beratung des Küchenpersonals etwa zu Lebensmittelverschwendung, regionalen | |
und frischen Produkten, zur technischen Umrüstung und Ausstattung von | |
Küchen und zu Kochrezepten“. | |
## Nicht teurer | |
Die Essenswende war in Kopenhagen unterm Schnitt nicht teurer als vorher. | |
„Durch den Umstellungsprozess konnte die Erhöhung des Bio-Anteils und die | |
Steigerung der Essensqualität ohne Mehrkosten im Vergleich zum früheren | |
konventionellen Einkauf erreicht werden“, erklärt der Behrendt-Sprecher. | |
Das Kopenhagener Modell solle „auf Berlin und die hiesigen | |
Rahmenbedingungen, die es zu analysieren und auszuwerten gilt, übertragen | |
werden“. Dazu gehöre ein geeigneter Name – „House of Food“ ist nur ein | |
Arbeitstitel. | |
Und auch andernorts kann Berlin sich noch etwas abgucken – und tut das | |
auch: Beatrice Walthall, Soziologin und Humangeografin an der Humboldt-Uni, | |
erforscht in ihrer Doktorarbeit den Zusammenhang von Stadtentwicklung und | |
Food-Bewegung und hat dazu Städte in den USA und Kanada besucht. Dort ist | |
die Bewegung unter der Bezeichnung „Food Urbanism“ weiter entwickelt als in | |
Deutschland. | |
Walthall, die Mitglied im Ernährungsrat ist und ihre Forschungen dort | |
bereits vorgestellt hat, hat an der Uni die Arbeitsgruppe „Stadt und | |
Ernährung“ mit gegründet, die Wissen zusammenführen und Umsetzungsprozesse | |
anstoßen will, um das „Thema Ernährung in die Stadt zurückzuholen“. Als | |
Berliner Beispiel nennt die Forscherin den „LebensMittelPunkt Spandau“, | |
eine neue Initiative für Klimaschutz und Ernährung. | |
Denn wichtig sind für die neue Ernährungspolitik auch lokale und regionale | |
Absatzwege. Dazu zählen neue Modelle der „Solidarischen Landwirtschaft“ | |
(CSA: „Community Supported Agriculture“) wie die Initiative „SpeiseGut“… | |
Spandau oder die bereits acht CSA-Gruppen mit Höfen in Brandenburg. CSA | |
bedeutet für Städter nicht nur Bestellen und Verzehr von Nahrungsmitteln, | |
sondern auch Anpacken bei der Herstellung. „Dreimal im Jahr geht man bei | |
CSA aufs Feld, um in der Pflanz- und Erntesaison zu helfen“, erklärt | |
Walthall. | |
Der Buchautor Philipp Stierand, der das Modell der Ernährungsräte in | |
Deutschland in die Debatte eingebracht hatte, sieht die Bewegung für eine | |
kommunale Ernährungspolitik erst am Anfang. Berlin sei dabei mit seinem | |
gemeinsamen Ansatz von Senat und Zivilgesellschaft „Vorreiter in | |
Deutschland und hoffentlich Wegbereiter für andere Städte und Initiativen“. | |
Für eine Beurteilung ist sei es aber noch zu früh. „Der Acker der Berliner | |
Ernährungspolitik wird gerade erst bestellt, bis zur Ernte (und deren | |
Beurteilung) wird es noch etwas dauern“, meint Stierand. | |
Als Besonderheit wertet er, dass sich der Berliner Ernährungsrat „bewusst | |
als rein zivilgesellschaftliche Organisation“ gegründet habe, deren | |
Lobbyarbeit schon einige Impulse setzen konnte. Der Forderungskatalog zur | |
Ernährungspolitik zeige, so Stierand, „wie man mit Engagement | |
gesellschaftliche Diskussion voranbringen und professionellen Thinktanks um | |
Jahre voraus sein kann“. Das Land sei zudem das erste in Deutschland, wo | |
die Idee einer „holistischen Ernährungspolitik“ in politischen Papieren | |
auftauchte und im Koalitionsvertrag festgeschrieben wurde. | |
## „Ein Meilenstein“ | |
„Allein das ist bei einem Politikbereich, der in Deutschland auf | |
städtischer Ebene so vernachlässigt wird, ein Meilenstein“, urteilt Philipp | |
Stierand. Die anvisierte Ernährungsstrategie könne sehr konkret Maßnahmen | |
entwickeln, um die Lebensmittelversorgung zu verbessern. „Ich bin gespannt | |
auf den weiteren Prozess“, sagt der Ernährungsexperte. „Berlin könnte eine | |
der ersten deutschen Städte werden, in der Ernährung ein Baustein für die | |
Entwicklung einer lebenswerteren, ökologischeren und gesünderen Stadt | |
wird.“ | |
Berliner Erfolge sind dabei quasi vorprogrammiert – weil es bislang | |
eigentlich nur besser werden kann. | |
Derzeit werden die 90.000 Essen, die wochentäglich in Berliner Grundschulen | |
ausgegeben werden, nur zu 40 Prozent aus biologisch angebauten | |
Lebensmitteln zubereitet. Und schon diese Menge muss von weiter her | |
zugekauft werden, „da es in Brandenburg praktisch keine Betriebe gibt, die | |
sich auf die Belieferung der öffentlichen Verpflegung spezialisiert haben“, | |
wie der grüne Brandenburger Landtagsabgeordnete Benjamin Raschke | |
feststellt. „Bisher ist unklar, wie Brandenburg diese Chance für mehr | |
regionale landwirtschaftliche Wertschöpfung nutzen kann“, ergänzt Raschke. | |
Alle Essen in den öffentlich bewirtschafteten Kantinen des Landes Berlin – | |
wo die öffentliche Hand Gestaltungsspielräume besitzt – kommen laut Altuğ | |
bisher nur auf einen Bioanteil von 13 Prozent. In den Kantinen der Stadt | |
Nürnberg sind es demgegenüber bereits 50 Prozent, in Kopenhagen | |
weltrekordverdächtige 90 Prozent. | |
Da hat Berlin noch manches zu knabbern. Guten Appetit. | |
19 Jan 2018 | |
## AUTOREN | |
Manfred Ronzheimer | |
## TAGS | |
Essen | |
Lebensmittel | |
Grüne Woche | |
Berliner Senat | |
Dirk Behrendt | |
Schwerpunkt Klimagerechtigkeit | |
Ernährung | |
R2G Berlin | |
Lebensmittelwirtschaft | |
EU | |
R2G Berlin | |
Bundesinstitut für Risikobewertung BfR | |
Fleisch | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Ernährungswende in Berlin: Gemeinsam besser essen | |
Essen soll gesund sein, regional, klimaneutral und leicht verfügbar. Auch | |
in Kantinen sollte das mehr beachtet werden, fordert der Ernährungsrat. | |
Klimafreundlich Essen in Berlin: Geschmack der Zukunft | |
Der Berliner Ernährungsrat setzt sich für gutes und klimafreundliches Essen | |
für alle ein – und nutzt dafür die Kollektivintelligenz in der Stadt. | |
Ernährungswende in Berlin: In die Suppe gespuckt | |
Kurz vor der Präsentation zivilgesellschaftlicher Empfehlungen für die | |
Ernährungspolitik in Berlin fordert der Ernährungsrat mehr. | |
Die Grüne Woche kommt: Viele Köche verbessern den Brei | |
Mit einer vom Senat finanzierten Ernährungswende will Rot-Rot-Grün die | |
Ernährung der Berliner verbessern – dafür stehen 1,2 Millionen Euro bereit. | |
Markthalle Neun krempelt Großmarkt um: Neue Pläne für die Zukunft | |
Vom Moabiter Großmarkt werden nachts Restaurants, Kantinen und Wochenmärkte | |
beliefert. Nun soll der Standort zum Hotspot für die Ernährungswende | |
werden. | |
Nabu-Chef über EU-Agrarsubventionen: „Die Nachkriegszeit ist vorbei“ | |
Die EU fördere mit ihren Landswirtschaftssubventionen Artenschwund und | |
Höfesterben, sagt Olaf Tschimpke. Ein Transformationsfonds müsse geschaffen | |
werden. | |
Ernährungspolitik in Berlin: „Essen ist politisch“ | |
Der Berliner Senat will BürgerInnen stärker in die Ernährungspolitik | |
einbeziehen. Der Grünen-Abgeordnete Turgut Altuğ erklärt, wie und warum. | |
Grünenpolitikerin über Pestizidzulassung: „Ich bin entgeistert“ | |
Glyphosat ist unbedenklich? Für solche Erklärungen hat Renate Künast das | |
Bundesinstitut für Risikobewertung als Ernährungsministerin 2002 nicht | |
gegründet. | |
Tierrechtler loben Geflügelfleischkonzern: Wiesenhof investiert in Kunst-Fleis… | |
Das Unternehmen unterstützt die Entwicklung von Fleisch aus der Retorte. | |
Die Tierrechtsorganisation Peta sieht darin einen Erfolg für sich. |