# taz.de -- Islamismus-Experte über Terror: „Muslime und Nichtmuslime sterbe… | |
> Selbstmordattentäter verachten nicht die westliche Gesellschaft, sondern | |
> die Gesellschaft an sich, sagt Olivier Roy. Prävention nutze da wenig. | |
Bild: Der Terror treibt auch Muslime auf die Straße: Gedenkversammlung nach de… | |
taz: Herr Roy, Mitte August fuhr ein Lieferwagen in eine Menschenmenge in | |
Barcelona, seitdem gab es Messerattacken in Finnland, Brüssel und London. | |
Warum gehören solche Vorfälle inzwischen zum Alltag in Europa? | |
Olivier Roy: Der „Islamische Staat“ hat dazu aufgerufen, überall mit allen | |
Mitteln zuzuschlagen. Dabei sehen wir zwei Arten von Attentaten: Es gibt | |
organisierte Terrorzellen, die Kontakt zum IS haben. Das war offenbar in | |
Barcelona der Fall, oder bei dem Anschlag auf das Bataclan in Paris 2015. | |
Und dann gibt es individuelle Täter, von denen wir nicht wissen, ob sie | |
Kontakt zum IS hatten, oder ob es sich um „einsame Wölfe“ handelt. Aber sie | |
leisten dem Aufruf des IS Folge und berufen sich auf ihn. | |
Erkennen Sie wiederkehrende Muster? | |
Ja. Das erste ist der Tod. Die Attentäter erwarten nicht, zu überleben, sie | |
haben keinen Plan B. Die fünf Attentäter, die im Badeort Cambrils bei | |
Barcelona erschossen wurden, und der Fahrer des Lieferwagens sind dafür ein | |
gutes Beispiel. Sie trugen Fake-Sprengstoffgürtel. Damit kannst du | |
niemanden töten. Aber du kannst davon ausgehen, dass die Polizei dich | |
erschießt. Diese selbstmörderische Dimension ist zentral. Diese Menschen | |
fasziniert der Tod, sie suchen ihn. Auch wenn es dafür keine operationelle | |
Notwendigkeit gibt. | |
Und das zweite Muster? | |
Diese Leute haben sich im Rahmen einer kleinen Gruppe von Freunden und | |
Verwandten radikalisiert. In solchen Terrorzellen stoßen wir erstaunlich | |
häufig auf Brüderpaare, wie auch jetzt in Barcelona. Diese Menschen | |
vertreten keine muslimische Gruppierung oder soziale Bewegung. Sie | |
radikalisieren sich in kürzester Zeit – und zwar nicht innerhalb eines | |
religiösen Rahmens. | |
Nicht? In Barcelona soll ein radikaler Imam der Kopf der Gruppe gewesen | |
sein. | |
Dieser selbst ernannte Imam hatte keine religiöse Ausbildung. Statt dessen | |
saß er mehrere Jahre wegen Drogenhandels in spanischer Haft. Vermutlich hat | |
er dort Spanisch gelernt, und fast sicher ist er dort in Kontakt mit | |
militanten IS-Anhängern gekommen. Aber abgesehen davon, dass es da einen | |
Typen gibt, der behauptet, ein Imam zu sein, sehen wir in Barcelona das | |
typische Muster für vor Ort gewachsenen Terrorismus: Es sind relativ | |
normale Jugendliche der zweiten Generation. Sie sind verwestlicht, sie | |
sprechen kein Arabisch. Die Attentäter von Barcelona haben sich | |
untereinander auf Katalanisch und Spanisch verständigt. Sie haben vorher | |
ein normales Leben geführt, Alkohol getrunken und Sport gemacht. | |
Wie hängt das dann mit dem Islam zusammen? | |
Diese Menschen fühlen sich vom Narrativ des IS stark angesprochen, der die | |
Erzählung von al-Qaida ausgeweitet hat. Es ist die Idee des einsamen | |
Helden, der die muslimische „Umma“ … | |
… die muslimische Gemeinschaft … | |
… rächt. Aber das ist eine sehr abstrakte Umma. All diese Attentäter | |
sprechen nicht über Palästina, Afghanistan oder über die Verbrechen des | |
Kolonialismus. Ihr Kampf hat nichts zu tun mit realen Konflikten im Nahen | |
Osten. | |
Sondern? | |
Sie kämpfen für die Umma auf die gleiche Weise, wie die | |
Baader-Meinhof-Gruppe für die Arbeiterklasse gekämpft hat. Sie haben keinen | |
echten Kontakt zur muslimischen Community. Sie lehnen die meisten Muslime | |
als „Verräter“, „Häretiker“ oder „Götzendiener“ ab – so, wie d… | |
Baader-Meinhof-Gruppe der Meinung war, dass sich die Gewerkschaften an den | |
Kapitalismus verkauft hätten und die Arbeiter bourgeois geworden wären. | |
Trotzdem glauben sie, dass es irgendwo da draußen eine globale, virtuelle | |
Gemeinschaft der Muslime gibt, für die sie kämpfen. Aber sie versuchen | |
nicht, politisch zu arbeiten oder die muslimische Gemeinschaft zu | |
mobilisieren. Sie predigen und missionieren nicht. Sie gehen nicht nach | |
Syrien, um Krankenhäuser zu bauen. Wenn sie nach Syrien gehen, dann ganz | |
überwiegend, um zu sterben. | |
Ihr Kollege Gilles Kepel wirft Ihnen vor, den ideologischen Anteil der | |
Radikalisierung zu vernachlässigen. | |
Ich unterschätze nicht die Bedeutung der Ideologie. Ich sage nur: Diese | |
Leute haben keinen religiösen Hintergrund. Sie haben nicht Jahre in | |
salafistischen Moscheen verbracht und sich dann radikalisiert. Sie | |
entscheiden sich für den Islam im gleichen Moment, in dem sie sich für die | |
Radikalisierung entscheiden. Ich sage nicht, dass das nur ein Vorwand oder | |
oberflächlich ist. Nein: Sie glauben, dass sie ins Paradies eingehen, wenn | |
sie sterben. In diesem Sinne sind sie Gläubige. Aber der Salafismus ist | |
nicht das Einfallstor für ihre Radikalisierung. Zwischen dem Salafismus und | |
der IS-Ideologie gibt es Parallelen, aber auch gravierende Unterschiede. | |
Ein Salafist sucht nicht den Tod, er hält sich streng an religiöse Regeln. | |
Darum muss man diese Phänomene gesondert betrachten. | |
Ist es das Ziel des IS, Muslime und Nichtmuslime gegeneinander | |
aufzuwiegeln? | |
Die Idee von Kepel und anderen ist, dass die Anschläge im Namen des IS die | |
extreme Rechte befördern sollen, um den Kulturkampf zu verschärfen und | |
Muslime in ihre Arme zu treiben. Aber eine Strategie zu unterstellen ist | |
der Versuch, diese Taten zu rationalisieren. Es gibt ja auch keinen Aufruf | |
des IS oder von al-Qaida an die Muslime in Europa, sich zu erheben. Die | |
Gewalt ist kein Mittel für etwas, sondern Selbstzweck. Wenn es ein | |
politisches Ziel gibt, dann nicht, die Muslime zu vereinen, um einen | |
Bürgerkrieg anzuzetteln. Bei diesen Anschlägen sterben ja Muslime wie | |
Nichtmuslime. | |
In Nizza waren rund ein Drittel der Opfer Muslime. | |
Und in der Folge der Attentate gehen ja auch Muslime auf die Straße, um den | |
Terror zu verurteilen. Nehmen Sie Frankreich: Als der Pfarrer Jacques Hamel | |
in der Normandie getötet wurde, sind sogar die lokalen salafistischen | |
Imame, die sonst niemals eine Kirche betreten hätten, dorthin gegangen, um | |
ihre Solidarität zu zeigen. | |
Aber die Anschläge spielen doch den Rechten in die Hände, oder? | |
In Frankreich und Großbritannien gab es kurz vor den Wahlen Attentate. Aber | |
was ist passiert? Marine Le Pen hat eine schwere Niederlage erlitten, und | |
in Großbritannien hat sich Jeremy Corbyn zur ernst zu nehmenden Kraft | |
entwickelt. Und der Kandidat, der die meisten muslimischen Stimmen auf sich | |
versammeln konnte, war der Linke Jean-Luc Mélanchon. Er ist ein absoluter | |
Säkularist und für die Homo-Ehe. | |
Was sagt uns das? | |
Dass die muslimischen Wähler nicht aufgrund ihrer religiösen Überzeugungen | |
abstimmen. Viele mögen gegen die „Ehe für alle“ sein. Aber sie wählen na… | |
ökonomischen und sozialen Kriterien. Eine islamische Partei hat deshalb | |
weder in Frankreich noch sonst wo in Europa eine Chance. | |
Verfolgt der IS denn nicht ein konkretes Ziel: die Schaffung eines | |
Kalifats? | |
In Syrien und im Irak hat der IS eine soziale Basis. Dort sind die | |
sunnitischen Araber unzufrieden, weil die Macht bei den Schiiten oder den | |
Kurden liegt. Manche von ihnen haben darum den IS begrüßt. Aber dann wurde | |
Syrien zum Sehnsuchtsziel ausländischer Dschihadisten, und die wollten für | |
ein globales Kalifat kämpfen, statt sich auf die Etablierung eines | |
sunnitisch-arabisches Regimes in Bagdad zu konzentrieren. Die Konsequenz | |
ist, dass sie sich damit alle Welt zum Gegner gemacht haben. | |
Hat der IS eine Zukunft? | |
Nein. Die afghanischen Taliban sagen, sie wollen in Afghanistan ein Emirat | |
etablieren, und sie erkennen Grenzen an. Deswegen kann man mit den Taliban | |
verhandeln. Mit dem IS geht das nicht. Dessen imaginäres Kalifat soll von | |
Marokko bis Indien reichen. Das ist natürlich nicht verhandelbar. Darum | |
wird der IS früher oder später verschwinden. | |
Ist der IS also eine apokalyptische Bewegung? | |
Wenn du dich für ein globales Kalifat entscheidest, dann gibt es nur die | |
Alternative: Sieg oder Tod. Und offensichtlich läuft es auf den Tod hinaus. | |
Aber diese apokalyptische Vision scheint für manche Jugendliche auch im | |
Westen attraktiv zu sein. Und nicht nur für muslimisch sozialisierte | |
Jugendliche, wie man an der auffällig hohen Zahl von Konvertiten sieht. | |
Warum ist das so? Spielt Ausgrenzung eine Rolle? | |
Nein, das denke ich nicht. Die meisten der Leute, die zu Attentätern | |
wurden, haben nicht unter Diskriminierung gelitten. Interessant ist aber: | |
Es handelt sich häufig um Angehörige der zweiten Generation, um Kinder von | |
Einwanderern. Sie haben keine Verbindung mehr zur Herkunftskultur ihrer | |
Eltern. Sie brechen mit ihren Vätern und leben mit ihren Brüdern. Dieser | |
Generationenbruch ist Teil des Phänomens: Du konstruierst dir einen | |
imaginären Islam mit deinen Freunden und Brüdern. | |
Was lässt diese Menschen die westlichen Gesellschaften so hassen, dass sie | |
sich selbst und möglichst viele andere umbringen wollen? | |
Sie hassen nicht nur westliche Gesellschaften, sondern die Gesellschaft an | |
sich. Es gibt auch in Afghanistan, Pakistan und sogar in Saudi-Arabien eine | |
Menge Terroranschläge, das sollte man nicht vergessen. Diese Menschen | |
greifen die Gesellschaft an, in der sie leben, und sie sterben dabei. Das | |
ist letztlich konsequent, denn außerhalb einer Gesellschaft kann man nicht | |
leben. Darum sage ich, das ist Nihilismus. Der Begriff mag nicht ganz | |
passen, weil er eine andere Geschichte hat, aber was ich sagen will: Es ist | |
eine No-Future-Generation. Es ist eine „Born to kill“-Generation. Diesen | |
Hass auf die Gesellschaft und die Welt, den finden wir auch bei den | |
Highschool-Attentätern von Columbine und anderen Amokläufern. Mit ihnen | |
teilen diese Dschihadisten eine narzisstische Ästhetik der Gewalt und eine | |
moderne, nihilistische Weltsicht des Todes. | |
Was muss man tun, um islamistische Radikalisierung zu verhindern? | |
Das Wichtigste ist: Geheimdienstarbeit. Denn diese Leute sind hier. Sie | |
kommen nicht von außen, jedenfalls die meisten nicht. Viele Attentäter | |
waren den Behörden bereits vor ihrer Tat bekannt und aktenkundig. Hier muss | |
man ansetzen. Alles andere ist zweitrangig. | |
Was ist mit Prävention? | |
Deradikalisierungsprogramme machen in meinen Augen wenig Sinn. Denn diese | |
Leute wollen sich ja gerade radikalisieren, sie wollen töten. Wir müssen | |
sie wie Militante behandeln. Nicht wie Kranke, die man kurieren kann. | |
5 Sep 2017 | |
## AUTOREN | |
Daniel Bax | |
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