# taz.de -- Ein halbes Jahr Elbphilharmonie: Musik überholt Politik | |
> Hamburgs Elbphilharmonie hat in den ersten sechs Monaten alles hinter | |
> sich gebracht: Klassik, Einstürzende Neubauten, Syrien-Festival, | |
> Dirigentenwechsel, G20. Und hat sich als Haus gesellschaftspolitischer | |
> Debatten bewährt. | |
Bild: An den Anblick der Fassade hat man sich gewöhnt. Nun lohnt es, den Blick… | |
HAMBURG taz | So, jetzt haben wir uns ent-hysterisiert nach dem | |
Eröffnungstaumel, der so bizarr ausklang mit dem G20-Konzert, derweil in | |
der Schanze die Krawalle tobten. Das ist vorbei, die Endorphine sind weg; | |
endlich Muße, den Konzertsaal des Jahres mal zurückgelehnt zu betrachten. | |
Denn die erste, verlängerte Elbphilharmonie-Spielzeit ist vorüber, wir sind | |
hin und wieder dort gewesen, haben uns ans Treppauf-, Treppab-Kraxeln | |
gewöhnt. Wir kennen die Stelle, an der die “Tube“ immer ruckelt, weil ihr | |
Neigungswinkel anders ist als bei anderen Rolltreppen; Spezialanfertigung | |
der Weltklasse-Architekten, Sie verstehen. | |
Langsam haben wir auch die endlosen zweieinhalb Minuten Rolltreppenfahrt | |
zur Plaza satt, denn die Muster an den Wänden kennen wir nun, und die | |
Selfies der Mitreisenden interessieren uns nicht. Unter ihnen sind immer | |
noch viele Erstbesucher, die sich über die unhanseatische Raumverschwendung | |
wundern und finden, man könne die Zwischengeschosse gut zum Partymachen | |
vermieten; Die seien für den bloßen Pausen-Snack zu schade. | |
Dabei ist das am 11. Januar eröffnete Gebäude weder Partykeller noch | |
Nobel-Location, sondern ein Konzerthaus, das vor allem für Klassik taugt. | |
Deren Publikum sind – ob es uns passt oder nicht – viele Ältere, die sich | |
immer noch schwertun mit den glatten, schwer erkennbaren Treppenstufen. | |
Aber das zu bemängeln sei kleinlich, finden manche. Was sei schon ein | |
Oberschenkelhalsbruch gegen die Ehre, eins der zehn besten Konzerthäuser | |
der Welt zu betreten? Man müsse die Elbphilharmonie nehmen, wie sie sei. | |
Ein Mensch habe schließlich auch Ecken und Kanten. | |
Das fanden lange auch die Elbphilharmonie-Granden; jetzt erst, nach | |
etlichen Debatten, haben Intendanz und Architekten die Stufenränder endlich | |
kenntlich gemacht – auch wenn’s die Ästhetik stört. | |
Und die klangliche Ästhetik? Auch die haben wir schließlich sechs Monate | |
lang prüfen können und dabei wirklich scharfe Ohren bekommen. Denn dieser | |
Saal, der jeden Fehler und jede Unstimmigkeit transportiert, hat uns | |
vergleichen gelehrt. | |
Das ist ein schöner Bildungserfolg – allerdings mit einem für Hamburg | |
misslichen Resultat. Es zeigte sich nämlich, dass das Residenzorchester – | |
das NDR-Elbphilharmonie-Orchester – nicht so gut ist wie gewünscht. Und | |
dass es auch nicht – quasi von selbst – beim Betreten des Supersaals zur | |
Weltelite aufschlösse. Das oft blutleere Spiel, das Gegeneinander-Arbeiten | |
der Instrumentengruppen, die dröhnende Lautstärke der Blechbläser – der | |
2011 geholte Alte-Musik-Spezialist und Kammermusik-Dirigent Thomas | |
Hengelbrock hat diese Mängel nicht abgestellt. | |
Langjährigen Abonnenten war das aus der zuvor bespielten Laeiszhalle | |
bekannt; man hatte sich abgefunden. Doch mit der Elbphilharmonie stiegen | |
die Ansprüche; die Gnadenfrist war vorbei. Das Orchester schob es auf den | |
Dirigenten und präsentierte im Juni plötzlich einen Neuen: Alan Gilbert, | |
zuletzt beim New York Philharmonic Orchestra mit seinem Moderne-Programm | |
gescheitert und dort im Unfrieden geschieden, soll 2019 kommen. In Hamburg | |
hat er dann und wann gastiert, mäßig umjubelt. Jetzt wurde er als | |
Lichtgestalt inszeniert und trat bei der Pressekonferenz wie ein Held aus | |
den Kulissen, derweil Hengelbrock, der Abgehalfterte, nebenan probte. | |
Dabei hatte man Hengelbrock einst ähnlich gepriesen, ihn bis zuletzt für | |
die Erfindung der preisgünstigen, niedrigschwelligen „Konzerte für Hamburg�… | |
gelobt. Kleiner Akt der Rache an seinen Musikern vielleicht, dass er das | |
letzte „Konzert für Hamburg“ der Saison – mit dem kobold-artig tänzelnd… | |
Klarinettenvirtuosen Martin Fröst und Beethovens Siebter – so rasend | |
schnell dirigierte, dass Geigen und Flöten nur noch hechelten. | |
Ein anderer Abgang geriet ungleich tragischer: Denn der | |
Elbphilharmonie-Saal hat in dieser Saison auch eins der letzten Konzerte | |
des am 2. Juni verstorbenen Dirigenten Jeffrey Tate erlebt. Hoch sensibel | |
begleiteten seine Hamburger Symphoniker die Geigerin Akiko Suwanai bei | |
Erich Wolfgang Korngolds Violinkonzert. Bei der folgenden Elgar-Symphonie | |
brachen allerdings Blechbläser und Becken schmerzhaft laut aus, ohne dass | |
Tate sie stoppte. Das Publikum feierte den feinsinnigen, stark | |
gehbehinderten Briten trotzdem. In die Liga der ersten Orchester am Platz | |
sind Tates Symphoniker – trotz Entschuldung, Subventionsaufstockung und | |
Ernennung zum „Residenz“-Orchester der Laeiszhalle – nie aufgestiegen. Ab… | |
Tate nahm es gelassen und war zufrieden, gelegentlich in der | |
Elbphilharmonie zu gastieren. | |
Warum in diesem Glas-Koloss allerdings das NDR-Elbphilharmonie-Orchester | |
residiert und nicht das konkurrierende Hamburger Philharmonische | |
Staatsorchester, ist unklar. Mit Leistungsdefiziten ist es jedenfalls nicht | |
zu erklären. Denn die Philharmoniker präsentieren sich weit solider und | |
homogener als die NDR-Musiker. | |
Engagiert und kooperativ spielte das Orchester unter Kent Nagano zum | |
Beispiel Arnold Schönbergs „Gurrelieder“. Eigenartig allerdings, dass die | |
Musiker – zugleich Hamburgs Opernorchester – alle Solisten übertönten; die | |
nach ihren Parts erschöpft auf ihre Plätze sanken. Trotzdem bleiben die | |
Philharmoniker ein auch handwerklich berechenbarer Klangkörper als die | |
Kollegen vom NDR. Selbst Angela Merkel hatte Nagano und nicht Hengelbrock | |
für das Konzert der G20-Teilnehmer am 7. Juli angefragt. Dabei ist auch der | |
2013 wegen Mittelmäßigkeit als Generalmusikdirektor der Bayerischen | |
Staatsoper geschasste Nagano kein Superstar. Aber die Maßstäbe verschieben | |
sich eben. | |
Und sie verschieben sich weiter, wenn das Symphonieorchester des | |
Bayerischen Rundfunks unter Mariss Jansons in der Elbphilharmonie weilt. | |
Wenn da Schostakowitsch erklingt, knistert der Saal, dann reagieren die | |
Musiker sekundengenau auf den Dirigenten, wechseln blitzschnell Tempo und | |
Klangfarbe. Jansons hat sein Orchester im Griff, Musiker und Saal | |
interagieren perfekt. | |
Der Saal hat sich übrigens auch unter Extrembedingungen bewährt: beim | |
Konzert der Einstürzenden Neubauten zum Beispiel, bei dem gar nichts | |
einstürzte, oder beim Festival „Salam Syria“: Das sollte einen anderen | |
Blick aufs Flüchtlingsgeschehen bieten und hatte nicht nur Musiker des 2015 | |
in Bremen gegründeten Syrian Expat Philharmonic Orchestra (SEPO) mit | |
Hamburger Musikern zusammengebracht. Es bot mit dem Klarinettisten Kinan | |
Azmeh, der Sängerin Dima Orsho und dem Sänger Kai Wessel auch eine hoch | |
intelligente Orient-Okzident-Begegnung. | |
Der wichtigste Klangkörper aber: der eigens gegründete deutsch-syrische | |
Projektchor, bei dem sich die Syrer mit der europäischen Mehrstimmigkeit, | |
die Deutschen mit arabischen Vierteltönen abmühten. Flüchtlinge aus | |
Erstaufnahme-Unterkünften standen hier wie Könige auf der Bühne, ihre | |
Mitbewohner saßen im Publikum. Ein anrührender Abend und eine ganz eigene | |
Initiation der Elbphilharmonie als politischer und Völker versöhnender Ort, | |
der nicht mehr zwischen Einheimischen und Fremden unterscheidet und das | |
Hier und Jetzt ins Zentrum stellt. | |
Geschickt verfuhr auch das Konzert über „Routen der Sklaverei“ des | |
katalanischen Gambisten Jordi Sawall, der arabische, afrikanische, | |
karibische und europäische Musiker zu einem Konzert zusammenbrachte, in dem | |
die Musik der Täter mit denen der Opfer längst verschmolzen war. Dabei | |
haben sich die Kolonialmächte nie entschuldigt, selten finanziell | |
entschädigt. Peitschend rief die Deutsch-Senegalesin Denise M’Baye Texte | |
über Sklavenfolter zwischen die Stücke, damit man es nicht vergaß. Und dann | |
– sofort danach – spielten und tanzten Täter- und Opfernachfahren | |
schockierend einträchtig zusammen; Musik als gelebte Versöhnung, tausendmal | |
schneller als jede Politik. | |
Ja, die Elbphilharmonie hat sich bewährt in dieser ersten Spielzeit. Sie | |
hat gezeigt, dass beides möglich ist: den baulichen Gegebenheiten treu zu | |
bleiben, denn für Klassik ist der Saal konzipiert. Andererseits andere | |
Gattungen hineinzunehmen und nicht Ort elitärer Selbstbespiegelung zu sein. | |
Sondern einer, der auch gesellschaftspolitische Debatten anregt und | |
praktiziert. | |
11 Aug 2017 | |
## AUTOREN | |
Petra Schellen | |
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