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# taz.de -- Junges Orchester „Baltic Sea Philharmonic“: Klassik-Punks fegen…
> Das Baltic Sea Philharmonic bezieht Licht vom Rammstein-Designer , hat
> kaum Zeit zum Proben und tritt in der Nazi-Heeresversuchsanstalt
> Peenemünde auf Usedom auf.
Bild: „Eigentlich ein Start-up“: Kristjan Järvis Baltic Sea Philharmonic
Peenemünde taz | In langen Geraden zieht sich die Straße durch den
nördlichen Teil der Insel Usedom, endlose Nadelwälder, dazwischen lugt der
Strand hervor. Es gab gute Gründe, warum die Nazis ausgerechnet diesen
abgelegenen Ort gewählt haben, weit im Nordosten, unweit der heutigen
deutsch-polnischen Grenze: Peenemünde. 250 Einwohner, drei Restaurants, ein
Schwarzlicht-Golf-Center. Kurz vorm Hafen geht es rechts ab. Hinter einem
verrotteten Wärterhäuschen taucht das Kraftwerk auf, ein Gebäude wie vom
Cover des Pink-Floyd-Albums „Animals“, nur ohne das fliegende Schwein.
Die aus zwei Millionen Backsteinen errichtete Halle ist eines der letzten
Überbleibsel der Heeresversuchsanstalt Peenemünde auf Usedom. Unter der
technischen Leitung von Wernher von Braun wurde hier ab 1939 das Aggregat 4
entwickelt und getestet. Die sogenannte V2-Rakete war im Jahr 1942 das
erste von Menschen gebaute Objekt, das in den Grenzbereich zum Weltraum
eindrang. Unweit des Geländes war ein Außenlager des KZ Ravensbrück, in dem
Tausende Zwangsarbeiter aus ganz Europa schufteten. Die genaue Zahl der
Toten auf Usedom ist nicht geklärt.
## Der Dirigent will die Nazi-Vibes rausblasen
Kristjan Järvi sitzt in den Katakomben der Turbinenhalle auf einer
Holzbank. Wo heute das Historisch-Technische Museum ist, wurde einst
Flüssigsauerstoff für den Raketenantrieb hergestellt. „Der Raum hat ein
schlechtes Karma“, sagt der Dirigent. „Aber wenn du etwas Aufrichtiges mit
Liebe tust, kannst du die schlechten Vibes hinausblasen.“
Eine Stunde noch bis zum Konzert im Kraftwerk. Das Baltic Sea Philharmonic
ist kein gewöhnliches Orchester, und Kristjan Järvi kein gewöhnlicher
Dirigent. Jahrzehntelang lebte der gebürtige Este in New York City, widmete
sich dem Klavier- und Dirigierstudium und veröffentlichte
Wagner-Interpretationen genauso wie Hollywood-Filmmusik. Von der New York
Times wurde der 45-Jährige schon als „wiedergeborener Leonard Bernstein“
bezeichnet, doch Lobeshymnen interessieren ihn nicht. „Die Zeit solcher
Orchester läuft ab“, sagt Järvi, angesprochen auf das MDR
Sinfonieorchester, das er noch bis 2018 leitet. „Dort sagen sie: Das steht
aber nicht in meinem Vertrag. Beim Baltic Sea Philharmonic heißt es: Was
machen wir als Nächstes? Wir sind eigentlich ein Start-Up.“
Der Altersdurchschnitt des Orchesters liegt bei Mitte 20. Thomas Hummel,
Intendant des Usedom Musikfestivals, hatte 2008 die Idee, die zehn
Ostsee-Anrainerstaaten einander mit einem multinationalen Ensemble
näherzubringen.
Wer den 70 jungen Musikern am Nachmittag bei einer Fotosession vor dem
Kraftwerk zuschaut, hat das Gefühl, einer Klassenreise beizuwohnen. Das
Orchester ist noch aufgekratzt vom vorabendlichen Berlin-Konzert. Nun
laufen sie in Shorts und Jogginghosen über die Wiese, in Sichtweite einer
14 Meter hohen V2-Nachbildung, tauschen Witze und Instrumente aus. Später
bei den Proben ist die Stimmung ernsthafter, doch es wird deutlich:
Kristjan Järvi ist als Dirigent kein gestrenger Übervater im Frack, eher
der T-Shirt tragende Kumpel, der für jeden ein Lächeln übrig hat.
Violinistin Anna Marila, 25 Jahre alt, ist erst vor acht Tagen für eine
erkrankte Musikerin eingesprungen. „Kristjan hat mich gefragt, ob ich
Strawinskys Feuervogel in einem Tag auswendig lernen kann“, sagt die Finnin
in fließendem Deutsch. „Konnte ich nicht, aber in zwei.“ Anna ist
begeistert von der Energie des Ensembles, man habe viel weniger Zeit, baue
so aber eine weit größere Spannung auf. „Er hat eine unglaubliche Präsenz
und lässt uns so viele Freiheiten wie möglich. Ich habe nie einen krasseren
Dirigenten getroffen.“
Dann beginnt das Konzert, Dunkelheit im Saal, bis auf dunkelblaue
Wasserschlieren, die auf die Wände projiziert werden. Aus dem Rauschen wird
Plätschern, drei Musiker der Experimentalband Absolute Ensemble, die
Kristjan Järvi während seiner New Yorker Zeit gegründet hatte, erzeugen es
live in transparenten Wasserschüsseln. „Waterworks“ ist der Titel des
Abendprogramms. Die Schrecken der NS-Zeit könnten kaum weiter weg sein,
wenn im Kraftwerk eines von nur drei Konzerten stattfindet, die die
Museumsleitung jährlich gestattet.
Den Anfang macht Gene Pritskers „Water Possessed Afresh“, ein abstraktes
Stück, das mit E-Bass und komplettem Schlagzeug-Kit Züge eines
Rock-Arrangements trägt. Järvi, nun im Jackett, collagiert es zusammen mit
Stücken von Georg Friedrich Händel und Carl Nielsen. Das den Zuhörer wie im
Surround-Sound umgebende Geräusch der Wassertropfen mischt sich mit dunkel
dräuenden Bass-Soli. Dann der Auftritt des Solisten. Es ist der russische
Violinist Mikhail Simonyan, der für seine schwindelerregend virtuose
Interpretation der „Amerikanischen Vier Jahreszeiten“ von Philip Glass
gefeiert wird.
Nach der Pause Affengeschrei vom Band. Kristjan Järvi betritt die ganz in
grün getauchte Bühne, nun ohne Jackett. Eine gestopfte Trompete ist zu
hören, fast schon jazzig. „Aguas de Amazonas“ beginnt. Das Baltic Sea
Philharmonic ist zurzeit das weltweit einzige Ensemble, das die
Orchesterfassung dieser Suite auf dem Programm hat.
Die Wände sind mit grün-gelben Projektionen gesprenkelt, wie Wunderkerzen
blitzen LED-Leuchten auf. Das live entwickelte Lichtdesign stammt von
Bertil Mark, der sonst mit Künstlern wie Rammstein, Helene Fischer und den
Beginnern arbeitet. „Es ist immer noch ungewohnt, dass ein Orchester eine
eigene Produktion mitbringt“, sagt der Mann mit den langen Rastazöpfen der
sich selbst „Lichtspieler“ nennt. „Kristjan Järvi geht alles anders an, …
war es wichtig, dass ich Popkultur in diese Welt hineinbringe.“
## Alles, nur nicht Classic-meets-pop
Das kommt nicht bei allen gut an. „Beeindruckend, aber hart am Kitsch“,
konstatiert eine Klassik-erfahrene Zuschauerin nach der Zugabe, bei der die
Musiker spielend und laufend durch den Bühnenvorraum toben. Ein Fagottist
macht dabei ein Handy-Video. Der Dirigent selbst ist die größte Rampensau,
nassgeschwitzt fordert er das Publikum zum Aufstehen auf.
Kristjan Järvi macht kein leicht verdauliches Pop-meets-Classic-Programm:
Neue Musik trifft auf Jazz- und Hip-Hop sowie auf etwas, das mit Avantgarde
nur sehr unzureichend beschrieben ist. Nichts hier hat die Spröd- und
Steifheit von Hochkultur-Klassik. Dennoch ist das Baltic Sea Philharmonic
zu einer jubilierenden, fast Wagner-haften Grandezza fähig.
Klassik nicht bloß zum Mitnicken, sondern zum Mitwippen, Mitklatschen, und
Mitfühlen. Järvi sagt über sein Ensemble: „Wir sind ein
Punkrock-Orchester.“ Mit ihrer ungeheuren Spielfreude haben die jungen
Klassik-Punks nicht nur ein herausragendes Konzert gegeben, sie haben auch
alle womöglich verbliebenen Nazi-Geister endgültig aus Peenemünde gepustet.
Baltic Sea Philharmonic „Waterworks“: 29. 8., 20 Uhr, Elbphilharmonie,
Hamburg; das Konzert wird live auf www.elbphilharmonie.de und beim Public
Viewing vor der Elbphilharmonie übertragen; am 7. 9., sendet ab 20 Uhr NDR
Kultur einen Mitschnitt
28 Aug 2017
## AUTOREN
Jan Paersch
## TAGS
Klassik
Pop
Neue Musik
Klassische Musik
Elbphilharmonie
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