# taz.de -- Seitenwechsel und Regierungskrise in Niedersachsen: Der Verrat | |
> Eine Frau sorgt für Unruhe: Elke Twestens Weggang von den Grünen Richtung | |
> CDU bedeutet vorzeitige Neuwahlen und vielleicht einen Machtwechsel in | |
> Niedersachsen. | |
Bild: Seitenwechslerin: Elke Twesten sitzt jetzt im Landtag bei der CDU | |
Hannover taz | Dass sie sich nichts anmerken ließ, das ärgert ihn. Der | |
Rotenburger Lokalpolitiker Reinhard Bussenius ist kein Typ, der sich leicht | |
aus der Ruhe bringen lässt. Wenn er spricht, wählt der 68-Jährige mit dem | |
weißen Bart seine Worte mit Bedacht und legt die gefalteten Hände auf dem | |
Bauch ab. Aber Elke Twesten hat auch die Grünen kalt erwischt. Ihre | |
Parteifreunde hatten keine Ahnung davon, dass sie ihr Parteibuch | |
hinschmeißen würde – und überlaufen zur CDU. | |
Bussenius hat als Grüner im Kreistag von Rotenburg/Wümme mit Twesten | |
zusammengearbeitet. Ihre eilige Pressekonferenz vergangenen Freitag im | |
Sitzungssaal der CDU hat er im Fernsehen gesehen: Twesten, im schwarzen | |
Blazer, stand da neben ihrem neuen Parteifreund Björn Thümler und | |
verkündete, dass sie nach 20 Jahren Mitgliedschaft bei der Ökopartei ihren | |
Austritt erklärt habe – schriftlich. Ein Bote der CDU-Fraktion hatte den | |
Brief zu den Landtagsgrünen gebracht, kurz bevor Twesten vor die Kameras | |
trat. | |
## „Zukunft bei der CDU“ | |
„Ich sehe bei den Grünen weder vor Ort noch im Land meine persönliche | |
Zukunft“, sagte sie in die Mikrofone. Und da sie bereits vor einem | |
Aufsteller mit CDU-Logo stand, hätte sie sich den nächsten Satz wohl sparen | |
können: „Ich sehe meine politische Zukunft in der CDU.“ | |
Peng. Koalition tot. Fünf Monate vor dem regulären Wahltermin ließ Twesten | |
damit die rot-grüne Mehrheit von Ministerpräsident Stephan Weil (SPD) | |
platzen: Die hatte im Landtag nur eine Einstimmenmehrheit. Als Twesten die | |
Seiten wechselte, veränderten sich also auch die Mehrheitsverhältnisse. | |
Zwar sitzen die Minister noch auf ihren Posten, auch Weil selbst tut das – | |
sie alle können aber politisch nichts mehr entscheiden. | |
Auch der Ministerpräsident berief deshalb an jenem Freitag eilig eine | |
Pressekonferenz ein, unter dem Vordach der Staatskanzlei in Hannover. Weil | |
blieb angesichts seiner Machtlosigkeit nur, die Selbstauflösung des | |
Landtags zu fordern. „Es kann keine andere Instanz als den Wähler geben“, | |
sagte er. Im Klartext heißt das: Nicht die Abgeordnete Elke Twesten | |
entscheide über die Mehrheiten im Landtag, sondern der Bürger. „Ich werde | |
einer Intrige nicht weichen“, sagte Weil. Wie unvorbereitet ihn Twestens | |
Übertritt erwischt hatte, davon zeugte der Ärger, der in seiner Stimme | |
deutlich zu hören war. | |
## Weiswein, ehe die Bombe platzt | |
„Auch ich war geschockt“, erinnert sich der Kommunalpolitiker Bussenius. | |
Denn es war gerade vier Tage her, dass er sich mit seiner Fraktionskollegin | |
Twesten getroffen hatte. „Ich habe keinerlei Anzeichen gehabt, dass so ein | |
Schritt bevorsteht. Ganz im Gegenteil.“ Ganz gemütlich hätten sich die | |
Kreistags-Grünen getroffen, bei einem Abgeordneten zu Hause. Es gab | |
geschmorte Gurken, gut gewürzt, Rührei und Kohlrabi aus dem Garten. „Elke | |
hat noch eine Flasche Weißwein mitgebracht, weil sie Geburtstag hatte“, | |
sagt Bussenius. „Und dann passiert da sowas.“ | |
Ein Essen, Gespräche, aber kein Wort über die schwerwiegende Entscheidung, | |
die Twesten zu diesem Zeitpunkt wohl schon getroffen hatte. Bussenius ist | |
anzumerken, dass er nicht auch noch nachtreten will. Er bleibt sachlich, | |
wenn er über Twesten spricht. Trotzdem fällt ihm dazu nur dieses eine Wort | |
ein: „Hinterhältig“, sagt der gebürtige Ostfriese, dessen Aussprache noch | |
verrät, dass er in Leer aufgewachsen ist. | |
Er steht mit dieser Meinung nicht allein da. In Hannover, auf den Fluren | |
des Landtags ebenso wie in den Redaktionen, blühen die Spekulationen über | |
Lockangebote der CDU. „Die wird das doch nicht ohne Gegenleistung gemacht | |
haben“, heißt es dann etwa, oder: „Irgendwas haben die ihr schon | |
versprochen.“ Spätestens als der Grünen-Landtagsabgeordnete Helge Limburg | |
dann auch noch eine Erinnerung aus dem Juni aus seinem Gedächtnis kramte, | |
fühlen sich die Skeptiker bestätigt: Damals soll Twesten im Landtag zu ihm | |
gesagt haben, dass sie „ein unmoralisches Angebot der CDU“ bekommen habe. | |
Limburg nahm das nicht ernst – und fragte auch nicht nach. | |
Auf [1][ihrer Facebook-Seite] [2][bestreitet Twesten nun], dass das | |
Gespräch im Juni so abgelaufen sei. Vielmehr habe Limburg sie auf ihre | |
Affinität für eine schwarz-grüne Koalition mit den Worten angesprochen: „Du | |
lässt dich doch nicht kaufen!“ | |
Klar, dass die CDU an ihrer Seite steht: „Es hat zu keinem Zeitpunkt in | |
irgendeiner Form Angebote an Frau Twesten gegeben“, sagt Fraktionschef | |
Thümler. | |
Auch klar, dass Limburg bei seiner Version der Geschichte bleibt. Doch auch | |
der ehemalige Landtagspräsident Rolf Wernstedt (SPD) [3][berichtete der | |
Nordwest-Zeitung] davon, dass ihm Twesten von einem „unmoralischen Angebot“ | |
erzählt habe – in fast identischen Worten. | |
## Auslöser: Erdgasförderung | |
Ob die CDU Elke Twesten nun etwas versprochen hat oder nicht: Um zu | |
verstehen, warum sie dieses politische Beben verursacht hat, muss man in | |
ihren Wahlkreis schauen. Der Landkreis Rotenburg ist riesig, vom | |
nördlichsten bis zum südlichsten Zipfel sind es über 80 Kilometer. | |
Dazwischen liegen 57 Gemeinden, Wälder und riesige Maisfelder. Die Grünen | |
treffen sich für ihre Mitgliederversammlungen im „Niedersachsenhof“ von | |
Gyhum, einem Ort in der Mitte. Ein eigenes Büro hat die Partei im Landkreis | |
Rotenburg nicht. | |
In manchen Ortschaften stehen großen weiße Schilder in den Gärten: „Gegen | |
Gasbohren“. Hier und da lehnt ein rotes X aus Brettern an einem Baum. Viele | |
Bürger wehren sich gegen die Erdgasförderung im Landkreis, und die tun das | |
auch unter Hinweis auf die erhöhte Krebsrate: Bei Männern aus der | |
Samtgemeinde Bothel gibt es fast doppelt so viele Fälle von Blutkrebs wie | |
im Landesdurchschnitt. Der Ort ist umgeben von Förderstellen. In | |
Niedersachsen werden 94 Prozent des deutschen Erdgases gefördert. | |
Die Erdgasförderung ist das wichtigste Thema für die Grünen vor Ort. Und es | |
ist auch einer der Auslöser für den Abgang von Elke Twesten. In der eiligen | |
Pressekonferenz mit der CDU hatte Twesten selbst als Grund genannt, dass | |
ihr Wahlkreis nicht sie für die Direktwahl nominiert hatte, sondern ihre | |
Konkurrentin Birgit Brennecke. | |
Brennecke nun ist eine unermüdliche Kämpferin gegen die Bohrtürme im Kreis. | |
Dagegen engagiert sie sich nicht nur in der Partei, sondern auch in | |
zahlreichen Bürgerinitiativen vor Ort. Die Grünen im Wahlkreis entschieden | |
sich Ende Mai also gegen die gut vernetzte Landtagsabgeordnete und für eine | |
vergleichsweise unbekannte Praktikerin. Dabei hatte Twesten mit der | |
Einladung des niedersächsischen Landwirtschaftsministers Christian Meyer | |
(Grüne) noch echte Politprominenz aufgeboten – auch das half nichts: Sie | |
verlor deutlich mit 17 zu zehn Stimmen. | |
## Die Sache mit der Leukämie | |
In einem Café in der Rotenburger Fußgängerzone öffnet Birgit Brennecke ein | |
kleines Töpfchen Kaffeesahne und gießt davon in ihre Tasse. Bis die | |
62-Jährige den ersten Schluck davon nimmt, dauert es eine ganze Weile: Beim | |
Thema Erdgasförderung macht sie beim Sprechen kaum eine Pause. „Als mein | |
Sohn fünf Jahre alt war, erkrankte er an Leukämie“, sagt Brennecke, der die | |
blonden Haare locker auf die Schultern fallen. Damals lebte sie mit ihrer | |
Familie noch in Bremen. „Da habe ich gedacht, jetzt ziehst du mal aufs | |
flache Land. Da bist du weg vom Straßenverkehr.“ Ihr Sohn sollte gesund | |
aufwachsen können. | |
Sie zog nach Söhlingen, einem 1.400-Einwohner-Örtchen in der Samtgemeinde | |
Bothel – genau dorthin, wo nun vermehrt Krebsfälle aufgetreten sind. „Nach | |
sechs Jahren ist er nochmal an Leukämie erkrankt“, sagt Brennecke. „Eine | |
Neuerkrankung.“ | |
Erst 2013 habe sie gedanklich die Verbindung zur Erdgasförderung gezogen. | |
Damals erkrankten in ihrer Umgebung gleich zwei junge Menschen an Leukämie. | |
Die Mutter einer betroffenen 19-Jährigen sammelte Unterschriften dafür, | |
mehr als 600: Der Landkreis sollte dazu gebracht werden, Luft-, Wasser- und | |
Bodenproben zu untersuchen – der erste Schritt hin zum Protest gegen die | |
Erdgasförderung. Die solle in Niedersachsen ganz aufhören, sagt Brennecke | |
heute. „Man muss nicht das letzte Gas aus dem Boden holen.“ | |
Auch Elke Twesten hat sich für die Aufklärung der Krebsfälle eingesetzt und | |
gegen Fracking. Sie ist aber weniger Hardlinerin als Brennecke. Und sie | |
sympathisierte offen mit einem Bündnis mit der CDU, die in der | |
Erdgasförderung auch immer noch die Chance sieht, die heimische | |
Rohstoffversorgung zu sichern. | |
Im Kreistag warb sie für ein schwarz-grünes Bündnis, gemeinsam übrigens mit | |
ihrem Fraktionsvorsitzenden Reinhard Bussenius. Die Basis stimmte dagegen. | |
Später versuchte sie, Landrätin in Rotenburg/Wümme zu werden. Doch ihre | |
Partei entschied sich stattdessen dafür, einen parteilosen Kandidaten zu | |
unterstützen. Twesten trat dann im Landkreis Stade an, konnte sich aber | |
auch dort nicht durchsetzen. | |
Theoretisch hätte sich die 54-jährige Scheeßelerin trotz ihrer verlorenen | |
Wahl um das Direktmandat gegen Brennecke für die ohnehin aussichtsreichere | |
Grünen-Landesliste bewerben können: Als Landtagskandidatin war sie | |
ausreichend bekannt. Aber vielleicht war ihr ohne die Unterstützung ihres | |
eigenen Wahlkreises das Risiko eines erneuten Scheiterns zu groß. | |
## Grüne nun auch im Kreis geschwächt | |
Sie ging den vermeintlich einfacheren Weg, den zur CDU. Auch ihren früheren | |
Fraktionschef stellt das vor große Probleme: So wie im Landtag will Elke | |
Twesten nach derzeitigem Stand ihr Kreistagsmandat behalten. „Ich bin | |
sauer, dass sie es mitnimmt“, sagt Bussenius. „Uns fehlt jetzt für die | |
nächsten vier Jahre eine Abgeordnete.“ Das bedeute nicht nur mehr Arbeit | |
für die übrigen vier – „Mir fehlt auch der Draht nach Hannover“. | |
Aus seiner Perspektive habe die Zusammenarbeit mit Twesten gut | |
funktioniert. „Sie ist gekommen, wenn wir sie eingeladen haben“, sagt er | |
kurz und sachlich, so wie es seine Art ist. Er selbst hätte sie gern wieder | |
im Landtag gesehen. Auch weil er befürchte, dass sich Brennecke auf der | |
Landesliste nicht durchsetzt und die Region dann vielleicht nicht von den | |
Grünen im Landtag vertreten wird. „Sie ist bislang nicht so gut genug | |
vernetzt“, sagt er über die neue Kandidatin. | |
Brennecke selbst peilt beim Listenparteitag der Grünen in Göttingen an | |
diesem Wochenende mindestens Platz 15 an. „Es muss ein aussichtsreicher | |
Platz werden.“ Sie will etwas für ihre Region bewirken. Und vielleicht habe | |
sie „aus dem Mist“, den Elke Twesten beschert habe, zumindest einen Vorteil | |
– dass die Leute nun ihren Namen kennen. | |
Mehr zur Sache Twesten, den Folgen für das politische Niedersachsen – und | |
dem Verrat an sich finden Sie in der aktuellen taz.am wochenende oder | |
[4][hier] | |
11 Aug 2017 | |
## LINKS | |
[1] https://www.facebook.com/TwestenElke/ | |
[2] https://www.facebook.com/TwestenElke/posts/1856084068052864 | |
[3] https://www.nwzonline.de/politik/hannover-ueberlaeuferin-elke-twesten-hinwe… | |
[4] /e-kiosk/!114771/ | |
## AUTOREN | |
Andrea Scharpen | |
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