# taz.de -- Philosoph Ralf Koerrenz über Verrat: „Eine anthropologische Kons… | |
> Verrat habe es immer gegeben, sag Ralf Koerrenz, und nicht nur Judas’ | |
> Denunziation sei letztlich positiv gewesen. Auch Wikileaks habe die | |
> Menschheit weitergebracht | |
Bild: Warum Judas zum Verräter wurde, wissen wir nicht: Caravaggios Gemälde �… | |
taz: Herr Koerrenz, war der erste Verräter der Menschheit der Cäsarenmörder | |
Brutus – oder ein Neandertaler? | |
Ralf Koerrenz: Da würde ich mich nicht festlegen wollen, sondern mich eher | |
auf die kulturgeschichtliche Tradition des Judentums und Christentums | |
beschränken. Dort ist der erste grundlegende Verrat mit dem Symbol des | |
Apfels und der Vertreibung aus dem Paradies verbunden. Und natürlich verrät | |
Kain Abel; auch der Turmbau zu Babel bedeutete einen großen Verrat. Und | |
immer war es der Verrat an einer grundlegenden Ordnung oder der | |
grundlegenden Begrenztheit des Menschen. | |
Es geht um Verrat an Gott. | |
Nein, an der Sache. An den Lebensgrundlagen des Menschen. Am Zusammenspiel | |
von Recht, Erbarmen – Hinwendung zu Ausgegrenzten und Schwachen – und | |
Gottesdienst. Wir können Gott nicht in einem abstrakten Gottesdienst | |
verehren, wenn wir Rechtssicherheit oder Sozialfürsorge missachten. Diesen | |
Verrat – die Untreue gegenüber dem in der Thora festgehaltenen Lebensrahmen | |
– haben schon die Propheten Amos und Hosea in der Hebräischen Bibel | |
angeprangert. | |
Sprechen wir über Judas. War er wirklich ein Verräter? | |
Als Historiker würde ich sagen: sehr wahrscheinlich, aber warum genau, | |
wissen wir nicht. Die theologischen Deutungen variieren. Aber die | |
wichtigere Frage lautet: Wen verrät Judas eigentlich? Er verrät einen | |
Lehrer, einen Rabbi, der der Obrigkeit durch Nonkonformismus aufgefallen | |
ist. Der durch seine Predigten den Common Sense infrage stellte – das | |
Sicheinrichten in einer Wirklichkeit mit bestimmten Ausgrenzungs-, | |
Diskriminierungs- und Deutungsmustern. Judas verrät in meinen Augen also | |
einen Lehrer, der die menschenfreundliche Auslegung von Recht propagierte. | |
Die traditionelle christliche Auslegung dagegen besagt, Judas – der ja für | |
den Verrat bezahlt wurde – habe ökonomische Interessen gehabt oder einen | |
Dachschaden. Oder er sei Instrument Gottes in einem vorgegebenen Heilsplan | |
gewesen. | |
Ohne Judas’ Verrat wäre Jesus nicht gekreuzigt und zum Religionsstifter | |
geworden. Was ist ein Christentum wert, das auf Verrat beruht? | |
Faktisch basiert das Christentum ja auf anderen Dingen: dem Inhalt des | |
Lebens Jesu und der Idee, dass er der Christus, der Gesalbte und | |
Herausgehobene, war. Und ein wesentlicher Verrat des Christentums an seinen | |
eigenen Maßstäben bestand darin, dass es ab dem vierten Jahrhundert die | |
Allianz von Thron und Altar einging. Und der größte Verrat des Christentums | |
an sich selbst ist jegliche Form des Antisemitismus. | |
Standesämter akzeptieren bis heute nicht den Vornamen „Judas“. Für einen | |
Religionsstifter recht absurd. | |
Persönlich regt mich das nicht so auf. Aber die Beobachtung ist natürlich | |
interessant, weil da kulturgeschichtlich offenbar ein Verräter-Stereotyp | |
eingegraben wurde. Trotzdem hat Judas eine zentrale symbolische Funktion, | |
weil die Geschichte des Christentums sonst nicht in Gang gekommen wäre. | |
Hält Verrat überhaupt Weltgeschichte in Gang? Als Garant für Veränderung – | |
sei es als Tyrannenmord, sei es als Wikileaks? | |
Verrat an sich gibt es ja nicht, sondern immer nur Verrat von Etwas. Die | |
Frage ist, was verraten wird und wozu. Bei Aufklärungsmechanismen wie | |
Wikileaks kann man in der Tat fragen, ob sie nicht tun, was schon die | |
Propheten Amos und Hosea forderten: für die Wahrung bestimmter | |
Rechtsverhältnisse einzutreten – unter Einsatz der eigenen Existenz. Bei | |
den aktuellen Vorgängen in der Niedersächsischen Landesregierung scheint es | |
mir eher um egoistische Interessenwahrung zu gehen. Was sicher legal ist, | |
aber ich würde es nicht mit der Enthüllungsleistung von Wikileaks | |
gleichsetzen oder mit den Panama Papers. Dort geht es um die ökonomische | |
Weltarchitektur und die Frage, wie wir Macht- und Besitzverhältnisse | |
aufdecken können. | |
Die Vokabel „Verrat“ ist erst seit wenigen Jahren wieder Teil des | |
politischen Diskurses. Dabei ist sie ähnlich archaisch wie „Ehre“ oder | |
„Mordbrenner“. Ist diese Sprache einer modernen Gesellschaft angemessen? | |
Ich halte Verrat für anthropologisch grundlegend, diese Chiffre ist | |
existenziell eingeprägt. Das Wort ist vielleicht aus der Mode gekommen, | |
weil es nicht zur Konsumwelt passt, die uns eher einlullen will. Aber | |
anthropologisch ist Verrat permanent präsent – es sei denn, wir sind in | |
unseren Köpfen komplett entleert und haben gar kein Referenzsystem mehr für | |
irgendetwas, das uns wichtig ist. Wer nichts mehr verraten kann, ist arm | |
dran. | |
Dann können wir ja froh sein, dass wir noch wissen, was Verrat ist. | |
Ja. Verrat ist etwas Natürliches – auch als individuelle Gefährdung: Wo | |
verrät man sich selbst? Das würden viele Menschen im Hinblick auf ihr | |
Referenzsystem unterschiedlich beantworten. Aber die meisten haben solch | |
ein System. | |
Auch etliche Menschheits-Epen – Veden, Islandsagas, Gilgamesch-Epos, Igor- | |
und Nibelungenlied – erzählen von Verrat. Braucht jede Kultur ihren | |
Verräter? | |
Die Beobachtung ist interessant, aber als allgemeingültig überzeugen wird | |
sie mich erst, wenn Sie auch in Buddhismus und Taoismus entsprechende Texte | |
nachweisen, die für das Verständnis der Religion wesentlich sind. Denn beim | |
Verrat geht es auch um menschliche Selbstbilder, um eine gewisse Form von | |
Individualität. Ein Verräter gewinnt durch den Verrat ein | |
Identitätsmerkmal. Ich weiß nicht, wie weit dieses Denken in Individualität | |
eine westliche Prägung ist. Soweit ich informiert bin, ticken Buddhismus | |
und Taoismus da anders. Deshalb bin ich mit globalen Aussagen vorsichtig. | |
15 Aug 2017 | |
## AUTOREN | |
Petra Schellen | |
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