# taz.de -- Debatte Elke Twesten und die Moral: Wer A sagt, der muß nicht B sa… | |
> Verrat! Skandal! Der Übertritt von Elke Twesten zur CDU hat extreme | |
> Reaktionen hervorgerufen. Aber ist ihr Verhalten wirklich so verwerflich? | |
Bild: Den Schutzanzug kann Elke Twesten zurzeit gut gebrauchen | |
Es geht um „Geltungssucht“, ein „schmutziges Intrigenspiel“, | |
„undemokratische Manöver“ und „gewissenlosen Egoismus“. Die Gegenseite | |
nennt es „verleumderische Legendenbildung“ durch „niederträchtige, zutie… | |
beleidigende und menschlich unanständige Kritik“. Wenn zeitgleich ein | |
brasilianischer Profifußballer von Barcelona nach Paris wechselt, verlangt | |
die Logik der mehr oder weniger sozialen Medien, auch Begriffe wie | |
„Ablösesumme“ und „brasilianische Verhältnisse“ ins Spiel zu bringen.… | |
für Martin Schulz geht es gar um „Verrat an den Wählerinnen und Wählern“ | |
und „Verrat an Rot-Grün“. | |
Was ist passiert? Am 4. August verkündet die grüne Abgeordnete Elke Twesten | |
ihren Übertritt zur CDU und zerstört so die Einstimmenmehrheit der | |
rot-grünen Landesregierung in Niedersachsen. Ein unter Managern und | |
Fußballprofis üblicher „Vereinswechsel“ ist in der Politik ein | |
„Paukenschlag“. Anlässlich des Dieselgipfels wird bereits über die Wechsel | |
von Politikern in die Automobilbranche berichtet. | |
Wie von selbst wandert der Blick dabei auf Niedersachsen, wo man aufgrund | |
des VW-Gesetzes nie die Illusion einer Trennung von Automobilindustrie und | |
Politik hat erzeugen können und wo Regierungserklärungen vom VW-Konzern | |
gegengelesen werden. Und nun das: ein „Skandal“, der Rot-Grün in eine | |
Regierungskrise stürzt – und die Diskussion vom lästigen Thema Lobbyismus | |
weglenkt. | |
Die Autoindustrie ist ein abstrakter Bösewicht und sichert dummerweise | |
direkt oder indirekt mehrere Millionen Arbeitsplätze in Deutschland. Frau | |
Twesten ist demgegenüber ein leichtes Ziel für moralische Entrüstung. Doch | |
wen hat sie verraten? Sozialdemokraten? Grüne? Die Demokratie? Die Wähler? | |
Der Begriff Verrat verbindet einen politischen Vorgang mit einer starken, | |
moralischen Wertung. Moral ist die Summe derjenigen Werturteile, die wir | |
nicht nur persönlich, sondern auch aus einer unparteiischen Perspektive | |
heraus für gerechtfertigt halten. Wenn Parteien vorgeben, eine solche | |
unparteiische Perspektive einzunehmen, wirkt dies immer ein wenig grotesk. | |
## Keine Partei ist unparteiisch | |
Keine Partei ist unparteiisch. Wer von einer Partei in eine andere | |
wechselt, handelt weder moralisch noch unmoralisch. Es gibt keine | |
moralische Pflicht, einer Partei anzugehören; selbst dann nicht, wenn man | |
der Partei gestern noch angehört hat. „Wer A sagt, der muß nicht B sagen. | |
Er kann auch erkennen, daß A falsch war“, sagt Bertolt Brecht. | |
Elke Twesten hat weder ihre eigene Partei verraten, noch die SPD, die durch | |
ihre Entscheidung im Wahlkampfjahr 2017 auf Landes- und Bundesebene unter | |
Druck gerät. Hat sie aber vielleicht die Demokratie verraten? | |
Das kommt darauf an. Wer meint, dass man in einer Demokratie per | |
Mehrheitsentscheid die Opposition abschaffen, die Todesstrafe einführen | |
sowie die Pressefreiheit und andere Grundrechte einschränken kann, hat ein | |
anderes Demokratieverständnis als jemand, der schon den Versuch zu solchen | |
Abstimmungen als undemokratisch betitelt, weil zur Demokratie mehr gehört | |
als nur die Einhaltung formaler Abstimmungsverfahren und die Anerkennung | |
des Willens der Mehrheit. | |
Wenn die Demokratie (auch) verhindern soll, dass politische Macht bei | |
Einzelnen liegt, dann hat sie bereits dort versagt, wo eine Regierung mit | |
einer Mehrheit von einer Stimme regiert, was jedem einzelnen Mitglied der | |
Regierung unangemessen viel Macht verschafft. Twesten hat nicht die | |
Demokratie verraten, sondern gezeigt, dass das System hier eine | |
Sollbruchstelle aufweist. Selbst im Tennis muss man ein Spiel mit zwei | |
Punkten Vorsprung gewinnen. | |
## Gewissensfreiheit von Abgeordneten | |
Wer diesen Mangel durch den Aufruf zur Parteientreue relativiert, zentriert | |
die Macht bei den Parteivorständen und untergräbt so gleichfalls die Idee | |
der Demokratie. Die Verfassung sieht aus gutem Grund die Gewissensfreiheit | |
von Abgeordneten vor, die im Gegensatz zu den Parteien durchaus | |
unparteiisch sein können, es aber viel zu selten sind. Wenn in den USA die | |
Abschaffung von Obamacare an einzelnen Republikanern scheitert, sind | |
rot-grüne Politiker deutlich vorsichtiger, von Partei- oder | |
Demokratieverrat zu sprechen. | |
Und der Verrat am Wähler? Schließlich ist Twesten über die Landesliste der | |
Grünen ins Parlament eingezogen, nicht über ein Direktmandat. Aber hat sie | |
ihre politischen Ansichten, die sie 2013 auf die Liste gebracht haben, | |
zwischenzeitlich geändert? Glaubt man ihren Aussagen, und eine andere | |
Quelle zu dieser Frage haben wir nicht, so ist das nicht der Fall. Ihre | |
alte Partei habe vielmehr das sprichwörtliche Fass und damit sie selbst zum | |
Überlaufen gebracht, indem man ihren im Interesse der Wähler vertretenen | |
Ansichten kein Gehör geschenkt habe. | |
Ist es Verrat am Wähler, wenn man dem Kurs einer Partei, der man vor 20 | |
Jahren beigetreten ist, irgendwann nicht mehr folgt? Oder ist es Verrat am | |
Wähler, wenn eine Partei ihren Kurs in wichtigen Punkten ändert? Wenn sich | |
Angela Merkel vor der Bundestagswahl 2009 für eine Verlängerung der | |
Laufzeiten von Atomkraftwerken ausspricht, nach Fukushima 2011 jedoch den | |
Atomausstieg fordert, verrät sie dann ihre Wähler oder nutzt sie das ihr | |
ausgesprochene Wählervertrauen für eine verantwortungsvolle Entscheidung? | |
Ist es Verrat am Wähler, wenn die Grünen nach Wegfall eines so zentralen | |
Wahlkampfthemas im Ringen um Abgrenzung von der Union neue Wege | |
beschreiten? Und ist es Verrat am Wähler, wenn sich einzelne Abgeordnete | |
aus dem realpolitischen Flügel der Partei mit dem neuen Kurs nicht mehr | |
identifizieren und die Partei wechseln? | |
## Loyalität ist eine Tugend | |
Ist das alles oder irgendetwas davon Verrat am Wähler? Oder einfach | |
Politik? Nietzsche sagt: „Der denkende Mensch ändert seine Meinung.“ Unsere | |
Abgeordneten sollen denkende Menschen in diesem Sinne sein. Auch dem Wähler | |
wird das zugetraut und erlaubt. Rot-Grün kritisiert Twesten auch deshalb | |
so scharf, weil der durch sie bewirkte Verlust der Stimmenmehrheit in | |
Niedersachsen so nah am aktuellen Wählerwillen liegt. | |
Wenn Twesten weder Rot-Grün noch die Demokratie oder ihre Wähler verraten | |
hat, ist dann ethisch betrachtet alles in Ordnung? Durchaus nicht. | |
Loyalität ist eine Tugend. Es braucht sehr gute Gründe, um ein Handeln | |
entgegen dieser Tugend ethisch zu rechtfertigen. Über diese Gründe wissen | |
wir wenig. Natürlich ist das Timing für einen Parteiwechsel wenige Wochen | |
vor der Bundestagswahl ein Signal. Dass Twesten mit diesem Schritt nicht | |
bis zum nahenden Ende der Legislaturperiode gewartet hat, deutet auf ein | |
zerrüttetes Verhältnis zwischen ihr und ihrer alten Partei hin. | |
Die Schuld für diese Zerrüttung verorten einige im Charakter von Frau | |
Twesten. Was bei einem Mann „politischer Ehrgeiz“ wäre, heißt in diesem | |
Fall „verletzte Eitelkeit“. Wenn aufgrund von Hörensagen über ein | |
„unmoralisches Angebot“ auch noch der Verdacht auf „Stimmenkauf“ in den | |
Raum gestellt wird, obwohl ihr Verhalten aufgrund der abgeschlossenen | |
Listenplatzaufstellungen ihrer neuen Partei weitaus plausibler mit | |
Verbitterung als mit egoistischem Vorteilsstreben zu erklären ist, so | |
klingt dies mehr nach einfachen als nach belastbaren Antworten. | |
Fazit: Der Parteiwechsel war zum jetzigen Zeitpunkt eine heftige Reaktion, | |
deren Angemessenheit sich erst beurteilen lässt, wenn alle Fakten und | |
Hintergründe bekannt sind. Wem hierzu der Wille oder die Geduld fehlt, der | |
mag seiner Entrüstung Luft machen, hat die Moral deshalb jedoch noch nicht | |
auf seiner Seite. | |
In der Zwischenzeit lohnt die Frage, ob der Wechsel von einer | |
demokratischen Partei zu einer anderen tatsächlich größere moralische | |
Entrüstung verdient als der von denselben Akteuren wie selbstverständlich | |
behandelte Wechsel zwischen Politik und Wirtschaft. | |
12 Aug 2017 | |
## AUTOREN | |
Frank Brosow | |
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