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# taz.de -- Demokratieverständnis in Sachsen: Menschenbildung vernachlässigt
> Politische Bildung wurde in sächsischen Schulen lange ignoriert. Nun wird
> mit sogenannten Demokratiemodulen gegengesteuert.
Bild: Rechnen ja, Demokratie nein. Das soll sich nun in Sachsen ändern
Bautzen taz | Einen solchen Projekttag hatten die Schüler einer sechsten
Klasse an der Gottlieb-Daimler-Oberschule in Bautzen noch nicht erlebt.
Sebastians Mutter, eine Arbeitsrichterin, war in die Schule gekommen. Sie
hat nicht nur von ihrem Alltag im Gericht erzählt. Gemeinsam mit
Ethiklehrerin Evelyn Schneider haben die Schüler auch ein
Ermittlungsverfahren und eine Hauptverhandlung inszeniert. Es ging um das
große Thema Wahrheit und Lüge, und konkret wurde ein Fall von Mobbing und
Verleumdung nachgespielt. Am Ende wurde zwar niemand verurteilt, aber die
Moral und das Wahrheitspostulat haben sich bei allen tief eingeprägt, auch
wenn sie nur in der Rolle von Zeugen auftraten.
Besonders bewegt hat die Schüler die Frage nach der Berechtigung einer
Notlüge. In welchen Fällen darf man flunkern? In jedem Fall finden sie es
wichtig und richtig, dass in der Schule über die Regeln unseres
Zusammenlebens diskutiert wird. Und zwar möglichst nicht im
Frontalunterricht. „Wenn die Lehrerin nur erklärt, merkt man sich nicht so
viel“, meint eine Schülerin. „In einem gespielten Stück ist man richtig in
der Sache drin!“ Nur in der Frage, ob eine solche Unterrichtsform in den
Regelstundenplan aufgenommen werden sollte oder ob zwei oder drei
Projekttage im Jahr genügen würden, gehen die Meinungen auseinander.
Die von den Schülern benannte „Sache“ ist das erste Demokratiemodul
„Wahrnehmung und Wahrheit“, das derzeit an 15 sächsischen Oberschulen
erprobt wird. Die Oberschule ist die zehnklassige sächsische Realschule, an
der bislang Gemeinschaftskunde erst ab Klasse 9 unterrichtet wird. Für
Ethiklehrerin Schneider setzt das Modul Elemente des Ethikunterrichts fort.
Sie betont, dass man nicht bei null anfange und nach Kräften seit Jahren um
die Erziehung von demokratiefähigen Menschen mit Wert- und
Gerechtigkeitsvorstellungen bemüht sei. Neu sind freilich einige Formen.
„Es ist immer eine interessante Bereicherung, wenn jemand von außen kommt –
noch dazu in einer echten Richterrobe“, sagt Evelyn Schneider. Sie und ihre
Schüler sind sozusagen Versuchskinder, nach jedem Projekttag gehen
ausgefüllte Fragebögen an das Sächsische Bildungsinstitut.
## „CDU-Linie gescheitert“
Ohne Zweifel: die politische Bildung erlebt gerade eine Renaissance an
sächsischen Schulen, Überlegungen zu einem früheren Einsatz des
Gemeinschaftskundeunterrichts eingeschlossen. Nach der Kritik von
Wissenschaftlern und der Landtagsopposition räumt inzwischen auch das seit
jeher CDU-geführte Kultusministerium Fehler der Vergangenheit ein.
„Politik sollte draußen bleiben – das war falsch“, sagt
Politikwissenschaftler Hans Vorländer von der TU Dresden. Ganz ähnlich
klingt es bei Bildungspolitikerin Cornelia Falken von der Linken, aber auch
bei ihrem Kollegen Henning Homann von der SPD, die seit 2014 wieder
Koalitionspartner der Union ist. „Die CDU-Linie der politikfreien Räume in
der Schule ist gescheitert“, urteilt er.
Frank Richter, ehemaliger Direktor der Landeszentrale für Politische
Bildung, wurde beim Antrittsbesuch von Bundespräsident Steinmeier Mitte
November noch deutlicher. Die „PISAisierung“ des sächsischen
Bildungswesens, also die Dominanz der naturwissenschaftlichen MINT-Fächer,
habe die Menschenbildung vernachlässigt, kritisierte er in einer
öffentlichen Diskussion und erhielt damit starken Beifall.
## „Lasst uns mit Politik in Ruhe“
Mittlerweile rennen die Kritiker offene Türen ein. Bela Belafi, früherer
Chef der sächsischen Bildungsagentur und heute Referatsleiter im
Ministerium, übt Selbstkritik. Jenes „Lasst uns mit Politik in Ruhe“ sei
auch eine Reaktion auf die Indoktrination der Schule in der DDR gewesen,
unternimmt er nur noch einen Erklärungsversuch. Wann das Umdenken
einsetzte, wird verschieden datiert. Belafi nennt die alarmierende Wirkung
des ersten Sachsen-Monitors 2016.
Die starke Spaltung bereits der 18–29-Jährigen in besonders fremden- und
demokratiefeindliche und besonders weltoffene Gruppen fiel auf. Jeder
vierte zeigte antisemitische Haltungen. Politikwissenschaftler Vorländer
erinnert sich hingegen an die erste Kabinettssitzung nach der Blockade
eines Flüchtlingsbusses in Clausnitz bereits im Februar 2016. Er selbst
wurde als Berater von der Staatsregierung zu dieser Sitzung eingeladen, auf
der es um Antworten durch politische Bildung ging.
Jedenfalls setzte die damalige Kultusministerin Brunhild Kurth (CDU) eine
Expertenkommission ein, die im Sommer des vorigen Jahres unter dem Titel „W
wie Werte“ 31 Handlungsempfehlungen formulierte. Bereits im März 2016 hatte
die Ministerin mit einem Erlass zur politischen Bildung für eine
Gewichtsverschiebung gesorgt. Die Einbeziehung juristischer Kompetenz
gehört zu den Empfehlungen des neuen Wertekonzeptes. Allerdings lässt der
Versuch, bei einem dieser Projekttage zur Erprobung des ersten Moduls zu
hospitieren, auch die Schwierigkeiten bei dessen Umsetzung ahnen.
## Sofortprogramm „W wie Werte“
In Sachsen kann die Unterrichtsversorgung kaum gesichert werden, Lehrer
sind am Limit. Die Skepsis gegenüber einer weiteren zusätzlichen Aufgabe
ist spürbar, gekoppelt mit rechtlichen Absicherungsängsten bei einem
solchen Unterrichtsexperiment. Sehr wahrscheinlich werden solche
praxisbezogenen Elemente ab dem kommenden Schuljahr in den Unterricht
einbezogen werden.
Referatsleiter Bela Belafi im Kultusministerium bekräftigt noch einmal die
Auffassung, dass sich gesellschaftliche Kontroversen auch in der Schule
widerspiegeln müssen. Offen ist die Frage, ob der
Gemeinschaftskundeunterricht in allen Schularten ab Klasse sieben
eingeführt wird. Hinsichtlich der dafür nötigen Ressourcen zeigt sich
Belafi optimistisch, wenn nur die Wichtigkeit politischer Bildung erkannt
und akzeptiert sei.
„Eine neue Ausbalancierung der Stundentafel wird das System nicht
überfordern“, prescht er vor. Als weitere Hilfe in dieser Richtung ist
bereits ein Themenportal eingerichtet worden, das Materialien und
außerschulische Partner vermittelt. Schüler sollen ihre eigenen
Angelegenheiten mehr nach Regeln demokratischer Schulkultur vertreten und
lösen. Auch die Fortbildung der Lehrer soll intensiviert werden, wobei die
Frage der knappen Personalressourcen noch nicht gelöst ist. Daran scheitert
derzeit beispielsweise die generelle Einführung einer Klassenleiterstunde.
Die Umsetzung des „W wie Werte“-Konzeptes ist Bestandteil des
Sofortprogramms, das CDU und SPD mit dem Amtsantritt des neuen
Ministerpräsidenten Michael Kretschmer vereinbart haben. Das mahnen
Wissenschaftler wie Hans Vorländer oder die Landtagsopposition aber auch
an. Ginge es nach der Linken und ihrer Abgeordneten Cornelia Falken, würde
ein neues Fach „Politische Bildung“ bereits ab Klasse fünf mit zwei
Wochenstunden unterrichtet. So weit wollen auch neugierige Schüler nicht
gehen, aber sogar verwöhnte Gymnasiasten kritisieren den viel zu späten
Gemeinschaftskunde-Einstieg ab Klasse neun.
5 Jan 2018
## AUTOREN
Michael Bartsch
## TAGS
Sachsen
Bildung
Demokratie
DDR
Michael Kretschmer
Schwerpunkt AfD
Elke Twesten
taz.gazete
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