| # taz.de -- Europäische Sozialpolitik: Brüsseler Fürsorge | |
| > Die EU zeigt im Jahr wichtiger Wahlen ein wenig soziales Gewissen. Die | |
| > Bekämpfung von Armut und Ungleichheit steht aber nicht zur Debatte. | |
| Bild: Elternzeit: Europa will sich nun auch um soziale Fragen kümmern – irge… | |
| Brüssel taz | Europa soll sozialer werden. Pünktlich zu den Wahlen in | |
| Frankreich und Deutschland hat die EU-Kommission am Mittwoch in Brüssel ein | |
| Maßnahmepaket vorgestellt, mit dem sie eine „europäische Säule sozialer | |
| Rechte“ schaffen will. Außerdem legte sie Optionen für eine „soziale | |
| Dimension“ vor. | |
| „Viele Diskussionen im französischen Wahlkampf kreisen um die soziale | |
| Sicherung und um die Globalisierung“, sagte Sozialkommissarin Marianne | |
| Thyssen. Die EU-Behörde nehme die Sorgen der Menschen ernst und wolle sie | |
| schützen. Die Globalisierung dürfe kein Verlierer-Thema werden. | |
| Allerdings enthält das Paket kaum konkrete Vorschläge. Nur zur | |
| Vereinbarkeit von Beruf und Familie legte Thyssen eine Gesetzesinitiative | |
| vor. Demnach sollen Mütter und Väter in ganz Europa künftig ein Anrecht auf | |
| jeweils mindestens vier Monate Elternzeit und ein Recht auf Teilzeit und | |
| Rückkehr auf eine volle Stelle bekommen. | |
| Die EU denkt vor allem an die Väter: Sie sollen Anspruch auf zehn Werktage | |
| Urlaub rund um die Geburt ihres Kindes erhalten. Bisher gibt es keine | |
| einheitlichen Regeln. Während in Deutschland kein gesetzlicher Anspruch | |
| besteht, bekommen Männer in Frankreich schon jetzt elf Tage | |
| Vaterschaftsurlaub. | |
| Von den Vorschlägen würden nicht nur die Eltern, sondern auch Unternehmen | |
| und Staaten profitieren, begründete Thyssen ihren Vorstoß. Sie verlieren | |
| nach Angaben der EU-Kommission jedes Jahr 370 Milliarden Euro, weil es eine | |
| „geschlechtsbedingte Beschäftigungslücke“ gebe. | |
| ## Mehr Ungleichheit statt Konvergenz | |
| Zusätzlich kündigte Thyssen Gespräche mit den Sozialpartnern über die | |
| „Modernisierung“ von Arbeitsverträgen und den Zugang zur Sozialversicherung | |
| an. Der soziale Dialog stehe weiter im Mittelpunkt, betonte die Belgierin. | |
| Die EU-Kommission wolle sich nicht über die Tarifparteien und nationale | |
| Regelungen hinwegsetzen. | |
| Bisher hat dieser Ansatz aber nicht zu mehr Konvergenz, sondern zu mehr | |
| Ungleichheit in der EU geführt. Dies geht aus einem Bericht hervor, den die | |
| EU-Kommission ebenfalls am Mittwoch vorlegte. Demnach habe die Ungleichheit | |
| in der Einkommensverteilung zwischen 2005 und 2015 stetig zugenommen. Auch | |
| die Armut sei gewachsen. | |
| Gegen Armut und Ungleichheit will die EU jedoch nichts unternehmen. Ein | |
| europaweiter Mindestlohn ist ebenso wenig geplant wie eine gemeinsame | |
| Arbeitslosenversicherung. Deutschland hatte gegen diese „Transferunion“ ein | |
| Veto eingelegt; Kommissionschef Jean-Claude Juncker will sich vor der Wahl | |
| nicht mit Berlin anlegen. | |
| ## EU-Mindesnormen könnten auch abgeschafft werden | |
| Stattdessen hält sich Juncker auch eine Option „Sozialabbau“ offen. Dies | |
| geht aus einem „Reflexionspapier“ hervor, das ebenfalls Teil des | |
| Kommissionspakets ist. Man könne die „soziale Dimension“ nur auf den freien | |
| Personenverkehr begrenzen und die bisher gültigen EU-Mindestnormen für | |
| Arbeits- und Ruhezeiten ganz abschaffen, schlägt Junckers Vize Valdis | |
| Dombrovskis vor. | |
| Sogar die gerade vorgeschlagene Ausweitung der Elternzeiten könne bis 2025 | |
| wieder zurückgenommen werden, heißt es in der Vorlage. Dombrovskis stellte | |
| zur Debatte, die sozialen Standards in allen 27 EU-Ländern auszuweiten – | |
| oder eine Gruppe von Freiwilligen, etwa in der Eurozone, in der | |
| Sozialpolitik vorangehen zu lassen. | |
| Entscheidungen sollen frühestens beim EU-Gipfel im Dezember fallen – also | |
| nach den Wahlen in Deutschland und Frankreich. Die EU-Staaten hatten sich | |
| zwar schon beim Jubiläumsgipfel in Rom Ende März zu einem „sozialen Europa�… | |
| bekannt. Gleichzeitig hatten sie das Nachdenken über die Zukunft der EU | |
| aber auf die Zeit nach den Wahlen verschoben. | |
| Für eine aktivere Sozialpolitik haben sich Frankreich, Italien, Portugal | |
| und Griechenland ausgesprochen. Dagegen haben vor allem die Osteuropäer | |
| Vorbehalte, weil sie eine indirekte Diskriminierung ihrer schlechter | |
| bezahlten und abgesicherten Arbeitnehmer fürchten. Bundeskanzlerin Angela | |
| Merkel (CDU) hat sich öffentlich nicht festgelegt. Vor dem | |
| Brexit-Referendum stand sie gemeinsam mit Großbritannien auf der Bremse. In | |
| Rom ließ sie sich dann aber ein vages Bekenntnis zum sozialen Europa | |
| abringen. Dass es noch ein hartes Ringen wird, lassen die heftigen | |
| Reaktionen auf die Kommissions-Vorlagen erkennen. Die Brüsseler Behörde | |
| habe ihre Chance „regelrecht verspielt“ und das Ziel eines sozialen Europas | |
| klar verfehlt, kritisierte der DGB-Vorsitzende Reiner Hoffmann. | |
| Demgegenüber warnen die europäischen Unternehmer vor einem Verlust an | |
| Wettbewerbsfähigkeit. Indirekt droht der Dachverband „Business Europe“ | |
| sogar mit weiterem Arbeitsplatzabbau – und das nur wegen der Elternzeit. | |
| 26 Apr 2017 | |
| ## AUTOREN | |
| Eric Bonse | |
| ## TAGS | |
| Elternzeit | |
| Schwerpunkt Angela Merkel | |
| EU-Kommission | |
| Sozialstandards | |
| Mindestlohn | |
| Europa | |
| Erziehung | |
| Eurozone | |
| Griechenland-Hilfe | |
| Schwerpunkt Krise in Griechenland | |
| Europäische Union | |
| Jean-Claude Juncker | |
| Teilzeitarbeit | |
| Pulse of Europe | |
| Familie | |
| Lesestück Recherche und Reportage | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Europamuseum in Brüssel: Aus dem Off tönt die Europahymne | |
| Das Museum zeigt europäische Geschichte und erzählt Geschichten. Selbst die | |
| 88.000 Seiten der EU-Gesetze sind erstaunlich unbürokratisch dargestellt. | |
| Kolumne „Heult doch!“: In der Berliner Eltern-Blase | |
| Gleichberechtigung ist noch längst keine ausgemachte Sache, weiß unsere | |
| Autorin und Mutter. Auch nicht an der Kaffeetafel bei Opa ICE. | |
| Kommentar Vorschläge zur Eurozone: Aus der Schneckenperspektive | |
| Armut und Arbeitslosigkeit lässt das EU-Papier aus. Es ignoriert den | |
| Kontext. Nur an Eurobonds wagt es sich heran – ohne sie zu nennen. | |
| Kommentar Griechische Austeritätspolitik: Macht der Gewohnheit | |
| Noch ein Sparpaket in Griechenland? Das empört kaum noch jemanden. Dabei | |
| wäre ein Aufschrei jetzt wichtiger denn je. | |
| Griechischer Gewerkschafter: „Die Regierung hat uns belogen!“ | |
| Griechenland wird mal wieder zum Sparen gezwungen. Giorgos Archontopoulos | |
| kämpft gegen die Wasser-Privatisierung in Thessaloniki. | |
| EU-Gipfel zu Brexit-Verhandlungen: Leitlinien verabschiedet | |
| Die verbleibenden 27 EU-Mitgliedsländer haben eine Schlussrechnung von bis | |
| zu 60 Milliarden Euro für den Austritt ausgemacht. Eine Strafe soll das | |
| aber nicht sein. | |
| Kommentar Europäische Sozialcharta: Das Märchen vom sozialen Europa | |
| Eine „soziale Säule“ in Europa ist längst überfällig. Doch die Vorschl�… | |
| der EU-Kommission sind allenfalls ein Feigenblatt. | |
| Soziologin über Arbeitszeitmodelle: „Frauen werden weiter diskriminiert“ | |
| Es wird kein Rückkehrrecht von Teilzeit- auf Vollzeitarbeit geben: Für die | |
| Soziologin Christina Mundlos ist das ein klarer Rechtsverstoß. | |
| March for Europe in Berlin: Grenzenlose Begeisterung | |
| Rund 4.000 feiern am Samstag 60 Jahre europäisches Miteinander. Um welches | |
| Europa der Zukunft es ihnen geht, bleibt indes vage. | |
| Väterbeteiligung beim Elterngeld: Komm zu Papa | |
| Immer mehr Väter gehen inzwischen in Elternzeit. Die Unterschiede zwischen | |
| den Bundesländern sind allerdings groß – mit einem überraschenden | |
| Spitzenreiter. | |
| FAQ zum Freihandelsabkommen Ceta: Trojanisches Pferd mit Sirup | |
| Das EU-Parlament winkt am Mittwoch Ceta durch. Was heißt das für Trump, die | |
| Bourgeoisie und Ahornsirup? |