# taz.de -- Europamuseum in Brüssel: Aus dem Off tönt die Europahymne | |
> Das Museum zeigt europäische Geschichte und erzählt Geschichten. Selbst | |
> die 88.000 Seiten der EU-Gesetze sind erstaunlich unbürokratisch | |
> dargestellt. | |
Bild: Europaweiter Widerstand, Ausstellungsobjekte im Brüsseler Museum | |
Im Halbdunkel, nur akzentuiert beleuchtet, sind aufgeschlagene alte | |
Schriften in den Vitrinen zu sehen. Der Code civil Frankreichs ist dabei, | |
das Manifest der Kommunistischen Partei, alte Gesetzestexte, der Code | |
Napoléon. Darüber in einer Fotoinstallation auf Großleinwand schaurige | |
Stillleben des Daseins vor 200 Jahren: Kriegsschlachten, Heldentum, | |
Revolution, Glanz und Gloria zur See, dampfende Schlote, brennende | |
Barrikaden – in schnellem, fließendem Wechsel, den man früher Diashow mit | |
Überblendungen genannt hätte. Und aus dem Off dazu freudetrunken die | |
Europahymne in Endlosschleife; im Wechsel instrumental mit bratschigen | |
Streichern und dann mit donnernd vielstimmigem Chorsatz. | |
Europas Geschichte – so viele Aspekte, Geschichte und Geschichten. So | |
kakofon wechselhaft, fast wirr. In dieser zentralen historischen Ecke des | |
neuen Museums Haus der Europäischen Geschichte in Brüssel ist alles | |
miteinander verquirlt, sinnemischend, anstrengend, verstörend. | |
Das Haus, Anfang Mai eröffnet, ist in einem großzügig umgebauten | |
Kinderkrankenhaus untergebracht. Die Assoziation zum Patienten Europa ist | |
naheliegend, wiewohl bei der ersten Idee noch nicht abzusehen. Der deutsche | |
CDU-Politiker Hans-Gert Pöttering brachte sie auf, 2007, bei seiner | |
Antrittsrede in Straßburg als EU-Parlamentspräsident. Heute ist er | |
Kuratoriumsvorsitzender. | |
## Wo ist das gemeinsame Erbe | |
Das Projekt ähnle einem „großen, langen Marathonlauf“. Mauern, sagt er, | |
entstünden erst in den Köpfen, dann an den Grenzen. „Und Werte kommen immer | |
vor Interessen.“ Europa – wieder mal will sich unser Kontinent als | |
Friedensbewahrer und Zukunftsgarant beweisen. Aber braucht es ein Museum? | |
Klingt nicht eben sexy. Man läuft in den sieben Stockwerken gern herum. | |
Hell ist es und weitläufig, abwechslungsreich, immer überraschend neu. | |
Schritt für Schritt gerät man mehr ins Staunen. | |
Ein Schriftstück ist sechs Meter breit: Es sind die 88.000 Seiten der | |
kompletten EU-Gesetze. In einer Sprache. Das hat schon Selbstironie, wie | |
auch die Idee, die komplexen europäischen Institutionen per Comic zu | |
erklären. | |
Komplex bliebe auch das einigste Europa: Ein großes halbrundes Regal | |
beherbergt Hunderte Wörterbücher, ob Dansk-Fransk, Português-Inglês oder | |
Tedesco-Italiano. Die braucht man weiter – nicht dagegen das alte Geld vor | |
dem Euro, geschreddert als Haufen oder Ziegelstein, mal D-Mark, mal | |
slowenisches oder lettisches Geld. Zu den 1.500 Ausstellungsstücken aus 35 | |
Ländern auf 4.000 Quadratmetern zählen nur Dokumente, die Auswirkungen auf | |
den Kontinent hatten und haben. | |
Wo ist das gemeinsame europäische Erbe, das zur europäischen Leitkultur | |
werden könnte? Der rumänische Demonstrant gegen Ceauşescu 1989/90 kann das | |
nicht mehr erleben. Hier ist sein Originalpullover zu sehen. Mit | |
Einschussloch. Der Mann starb. Ein Stück weiter ein Original-Stimmzettel | |
für den Brexit-Vote. So banal. Und so auswirkungsreich. Die Briten wollen | |
aus Europa wegsterben. | |
## Ein postnationales Haus | |
Beschriftet ist fast nichts, abgesehen von einer glitzernden Girlande aus | |
Metall mit klugen Sprüchen, das die Stockwerke verbindet. Da stehen solche | |
Sachen: „Wer aus der Geschichte nicht lernt, ist dazu verdammt, sie zu | |
wiederholen.“ Die Franzosen haben das gerade beherzigt. BesucherInnen | |
bekommen ein Tablet mit Headset, wählbar in den 24 EU-Sprachen von | |
Griechisch bis Gälisch. Dazu mussten 3.500 Texte erstellt und eingesprochen | |
werden. Direkt vor dem eleganten Art-déco-Gebäude im Léopold-Park sind acht | |
Straußen-Skulpturen versammelt. Sieben von ihnen stecken den Kopf unter die | |
Erde. Weggucken – wird schon gutgehen mit uns? Immerhin: Ein Vogel Strauß | |
bleibt aufrecht wachsam. | |
Das Museum will ermuntern, auf Europa aufzupassen, die Sinne zu schärfen in | |
schwammigen Zeiten. Es geht nicht um die Konstruktion EU, sondern um den | |
ganzen Kontinent mit seinen vielen Kulturen, Geschichten, Grotesken. Ein | |
postnationales Haus. Alle gewohnten nationalen Perspektiven ergeben | |
tatsächlich eine europäische Sicht. | |
Und allmählich wundert man sich, warum es so was in EU-Landen nicht längst | |
gibt. Europa, so verschieden und doch so alltäglich gleich: Bierkästen und | |
Küchenmaschinen sehen immer etwas anders aus und sind verschieden | |
beschriftet, haben aber die gleichen banalen Funktionen. SchülerInnen | |
wollen überall Zeichen hinterlassen, das zeigen ihre bemalten Pulte: „Ist | |
so langweilig hier“, „Aznar Muerete!“, „Maultasche rules“. | |
Ein Ensemble Dutzender Klassenfotos nebeneinander zeigt überall den | |
gleichen Stolz, einen wichtigen Moment für immer festzuhalten. Die | |
Werbeplakate der Nachkriegszeit wollen europaweit zur Heimatflucht in eine | |
fernere Heimat nebenan anstacheln: „Interflug: Visit the USSR“, „No rain … | |
Portugal, but tourists pour in“, „Air France befliegt ganz Europa“. Ein | |
Kontinent, der wirtschaftlich weltenwichtig ist, aber seine Identität | |
weiter sucht. | |
Und der sich gleichzeitig für viel größer hält, als er ist. Ein halbes | |
Dutzend Landkarten dokumentiert das. In unseren eurozentristischen Karten | |
erscheint das zentral abgebildete Europa übergroß. Daneben hängt eine | |
chinesische Landkarte, mit dem Reich der Mitte in der Mitte: Europa so ein | |
buntes Appendix-Häuflein links oben. Und die Karte aus Australien: | |
Südhalbkugel oben, wir sind nur ein Weltenrest unten rechts, zudem auf dem | |
Kopf stehend. Das niedlich kleine Europe down under. Und, beim Zeus: Unsere | |
Namenspatin Europa stammt als phönizische Königstochter nicht mal aus | |
Europa. | |
## Geschichtsscreening | |
Beim Thema transnationale politische Kämpfe der Nachkriegszeit berührt das | |
Haus besonders. Was uns alle in der Rückschau verbindet: die | |
Anti-AKW-Aufstände, die (west-)europaweite Friedensbewegung, die Debatten | |
um das Recht auf Abtreibung. Schön zu sehen, wie fantasiereich die | |
Holländer auf die Straße gingen, die Franzosen, die Briten. | |
Verbindend auch das Leid der Schoah, der linke Terror (mit | |
Original-RAF-Knarre), der widerliche Bosnienkrieg und die Erosion der | |
OstWest-Welt: Solidarnośćin Polen, der Mauerfall. Von der Berliner Nacht | |
laufen Szenen auf sieben Bildschirmen parallel. Geschichtsscreening. | |
Offenbar muss alles heute multi sein. Nur Günter Schabowski spricht sieben | |
Mal parallel gleichzeitig das Gleiche: „…nach meiner Kenntnis … ist das | |
sofort …“ | |
Im Erdgeschoss zum Abschluss eine Spielerei zum Mitmachen: „Meine Spuren in | |
Europa“. Man gibt seine Daten ein: Geburtsort, den der Eltern, Wohnort, | |
Urlaubsziele, woher kommt die Liebe, Lieblingsessen und -musik. Auf einem | |
Wandbildschirm entsteht so ein Stern des eigenen Daseins. Alle Besucher | |
zusammen produzieren schon bald ein enges Spinnennetz des Miteinanders. | |
Derweil kommen aus Stockwerk 3 die Klangfetzen der Europahymne. | |
Museumswärter möchte man da oben auf Dauer nicht sein. | |
17 Jun 2017 | |
## AUTOREN | |
Bernd Müllender | |
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