# taz.de -- Ulrike Guérot über Pulse of Europe: „Eine Art bürgerliches Kaf… | |
> Bei Sonnenschein mit Luftballons für die EU zu demonstrieren sei schön | |
> und gut, sagt Ulrike Guérot. Doch der Bewegung fehlten konkrete Ziele. | |
Bild: Eine deutsche Bewegung? Pulse of Europe hat kaum Anhänger in Spanien und… | |
taz: Frau Guérot, ist das reine Bekenntnis zu Europa die richtige Antwort | |
auf die Krise der Europäischen Union? | |
Ulrike Guérot: Das emotionale Bekenntnis von „Pulse of Europe“ ist sehr | |
viel wert. Ich finde es großartig, dass die Deutschen endlich mal für | |
Europa auf die Straße gehen, dass viele intuitiv verstanden haben, dass | |
etwas passieren muss und dass Deutschland nicht ohne Europa kann. Und doch | |
stellt sich die Frage: Was machen wir jetzt damit? | |
Die Menschen, die [1][jede Woche auf die Straße gehen], scheint nicht zu | |
stören, dass diese Frage noch nicht beantwortet ist. | |
Das stimmt. Das ist so eine Art bürgerliches Kaffeetrinken geworden, was da | |
gerade passiert. Man stellt sich bei schönem Wetter auf den Berliner | |
Gendarmenmarkt, es ist freundlich und gemütlich, die Leute haben ihre | |
Kinder dabei, blau-gelbe Luftballons schweben über allem. Das ist das | |
traditionelle Bildungsbürgertum, das ein Zeichen setzen will, weil es durch | |
die akute Gefahr des Rechtspopulismus – Ungarn, Polen, Österreich, die | |
Niederlande, Frankreich – jetzt aufgewacht und ernsthaft besorgt ist. | |
Ist es insofern ganz gut, auf Sichtbarkeit zu setzen und dieser Sorge | |
entgegenzutreten? | |
In einem ersten Schritt sicher. Zivilgesellschaft hat mediale Macht. Wenn | |
Politiker unter Druck kommen, weil Pulse of Europe sagt, wir wollen mehr | |
Europa, dann ist es etwa auch für Herrn Kauder oder Herrn Schäuble nicht | |
mehr so einfach zu sagen, Europa ist zu komplex, die Leute wollen das | |
nicht. Trotzdem muss man sich jetzt eben überlegen, wie die Energie dieser | |
Bewegung kanalisiert werden kann, wie ein Signal an die Politik als Ganzes | |
gesendet werden kann. | |
Wie könnte so ein Signal aussehen? | |
Zunächst hat Pulse zu Recht ein großes Interesse daran, die Bewegung nicht | |
in eine Politisierung für die eine oder andere Partei umzumünzen. Er | |
funktioniert ja genau deshalb, weil er sich nicht rechts oder links, grün | |
oder rot positioniert. Der Charme des derzeitigen Pulse ist das | |
Unpolitische. Es ist leicht, das abzugreifen, und die Hoffnung ist, dass | |
man über Emotion zum Inhalt kommt. | |
Aber der Inhalt ist bisher maximal vage: „Europa darf nicht scheitern“, | |
„Grundrechte sind unantastbar“, „alle können mitmachen“… | |
Sobald Ziele konkretisiert werden, besteht immer das Risiko, dass sich eine | |
Bewegung spaltet. Das Problem ist nur, dass ich davon überzeugt bin, dass | |
die EU, wie sie derzeit aufgestellt ist, nicht mehr lange Bestand haben | |
wird. Sie ist in der Flüchtlingsfrage nicht handlungsfähig, die Eurokrise | |
ist nicht gelöst, die Schuldenfrage ist offen. Wenn jetzt keine klaren | |
Forderungen formuliert werden, fürchte ich, dass die zersetzenden Kräfte | |
sehr stark sind. Die Frage ist natürlich, welche Verantwortung Pulse da | |
überhaupt haben kann. Aber wenn die Bewegung keinen inhaltlichen Akzent | |
setzt, wäre auch mit ihr nichts gewonnen. | |
Sie haben kürzlich vorgeschlagen, sich auf nur eine Forderung zu | |
konzentrieren: die nach Wahlrechtsgleichheit. Wieso genau die? | |
Was ich fordere, ist bierdeckeltauglich: den allgemeinen | |
Gleichheitsgrundsatz für alle europäischen Bürger, gleiches Recht für alle. | |
Das ist eine normative Forderung, der sich alle Parteien anschließen | |
könnten und müssten, wenn sie wirklich Europa wollten. Es gibt also keine | |
parteipolitische Bindung, aber großes Potenzial für die institutionelle | |
Fortentwicklung der EU. Wenn wir noch die Absicht haben, auf diesem | |
Kontinent ein politisches Projekt zu begründen, dann kann das nur | |
funktionieren, wenn alle Bürger vor dem Recht gleich sind. | |
Momentan ist Pulse of Europe sehr stark in Deutschland, von wo es auch | |
ausging, dagegen kaum oder gar nicht präsent in Spanien, Portugal, | |
Griechenland oder Italien. Ist das eine Bewegung für ein deutsches Europa? | |
Diese Schere zeigt: In Deutschland ist Europa nicht von den Bürgern | |
verraten worden, sondern von der nationalen Elite. Was genau passiert ist, | |
welche Mitverantwortung Deutschland an der Krise trägt, das haben die | |
meisten Bürger hierzulande nicht mitbekommen. | |
Sie hätten Zeitung lesen können. | |
Es gab eine richtige Dunstglocke der Presse, eine Deutungshoheit, die einem | |
normal informierten deutschen Publikum hat suggerieren können: Wir machen | |
das ganz toll – und wenn die anderen das machen wie wir, schaffen die das | |
auch. Nur leider sind die nicht so toll. Darüber, was wirklich passiert | |
ist, haben die FAZ oder die Bild doch nicht berichtet. Und jetzt auf einmal | |
kommt aus der deutschen Zivilgesellschaft heraus dieses Moment für Europa. | |
Natürlich verstehen das die Menschen in den europäischen Nachbarländern | |
nicht unbedingt. Die fühlten sich verraten von Europa und konnten nicht | |
sehen, dass es einen Unterschied zwischen den deutschen Bürgern und der | |
Politik gibt. Und was die deutschen Bürger machen, ist ja gerade das, was | |
die deutschen Politiker nicht gemacht haben: Sie strecken den anderen | |
Europäern die Hand zur Versöhnung aus. | |
Da kommen die Verursacher und Krisenprofiteure und sagen, war nicht so | |
gemeint? Das stelle ich mir schwierig vor. | |
Da bin ich bei Ihnen. | |
Zudem kommen im Europabild von Pulse weder Austeritätspolitik noch | |
europäisches Grenzregime noch Intransparenz … | |
… noch Ceta, Wallonie oder die deutsche Rolle in den vergangenen Jahren | |
vor. Pulse of Europe hat derzeit noch nicht einmal das Spannungsverhältnis | |
zwischen der EU und Europa verstanden. Für welches von beidem sind die | |
Leute? Ich würde sagen, erst mal vage für Europa, weil sie im Zweifel die | |
Details der EU gar nicht kennen. Aber haben sie auch verstanden, dass und | |
an welchen Stellen die EU dringend reformiert werden muss? Ich glaube | |
nicht. | |
Leistet eine so kritiklose Europabegeisterung nicht dem Neoliberalismus | |
Vorschub? | |
Genau an den Punkt kommt Pulse of Europe doch jetzt, genau das müssen sie | |
doch langsam merken. Bisher verteidigen die TeilnehmerInnen die EU, ohne zu | |
wissen, was wirklich kritisiert gehört. Darin liegt auch das Risiko: Wenn | |
sie das nicht merken, gebe ich ihnen keine Chance. Dann kann auch im | |
Ausland nicht erkannt werden, was die Deutschen wollen – dass es nicht | |
darum gehen kann, dass das deutsche Europa einfach weitergeht. Insofern hat | |
Pulse jetzt eine doppelte Aufgabe. Sie müssen erstens politisch | |
formulieren: Europa ja, aber EU nein. Und zweitens müsste man ins Ausland | |
spielen: Wer hier auf die Straße geht, sind die Bürger, die im Zweifelsfall | |
nicht mitbekommen haben, welche Verantwortung Deutschland an der Krise hat, | |
welches Missmanagement stattgefunden hat. Das ist eine sehr schwierige | |
Aufgabe. | |
Haben Sie darüber mit den OrganisatorInnen gesprochen? | |
Ich habe den Gründer Daniel Röder in Frankfurt kennengelernt. Wir haben | |
telefoniert und gemailt und ganz vage darüber gesprochen, wie es | |
weitergehen könnte. | |
Am Sonntag wurden bei der Kundgebung in Berlin Karteikarten ausgeteilt, auf | |
denen beschrieben werden konnte, wie der Pulse nach den Wahlen in | |
Frankreich weitermachen und wie er in einem Jahr aussehen soll. Auf einem | |
Kongress Ende April wollen die OrganisatorInnen dann intern darüber | |
beraten. Das ist kein sehr basisdemokratischer Ansatz, oder? | |
Das muss auch nicht sein. Partizipative Elemente sind gut, aber Sie können | |
nicht mit 1.000 Leuten, die auf dem Boden sitzen, eine neue europäische | |
Verfassung schreiben. Repräsentation ist nötig. | |
Dann würde die Bewegung Ihrer Ansicht nach viel organisierter werden | |
müssen? | |
Die Frage ist ja, was sie machen, wenn sie sich Ende des Monats auf dem | |
Kongress treffen. Gründen die einen Verein, oder vielleicht eine Partei? | |
Oder gründen sie wie Yannis Varoufakis, der ehemalige Finanzminister von | |
Griechenland, eine Bewegung … | |
… DiEM25, die basisdemokratisch und stärker inhaltlich arbeitet als Pulse | |
of Europe, aber deutlich weniger sichtbar ist. | |
In der Tat ist Pulse noch viel unpolitischer als DiEM25. Die großen | |
inhaltlichen Vorschläge fehlen da aber auch noch. Die beste inhaltliche | |
Arbeit in dem Bereich macht im Moment der französische Ökonom Thomas | |
Piketty. Er hat das „Kapital im 21. Jahrhundert“ geschrieben und hat | |
interessante Vorschläge zur institutionellen Neugestaltung der Eurozone | |
vorgelegt. Aber das Problem ist ja gerade, dass alle so vor sich hin | |
wurschteln. Es wäre schön, wenn man sich auch untereinander austauschen | |
würde, Varoufakis mit Piketty, der vielleicht mit Pulse. Es wäre wirklich | |
wunderbar, wenn dieses ganze kreative Nachdenken gebündelt werden könnte in | |
ein paar strukturelle Reformvorschläge für die EU. | |
Sehen Sie Pulse of Europe innerhalb dieser Szene? | |
Ich bezweifle, dass er in eine so konkrete inhaltliche Ausarbeitung will. | |
Das wäre mir an deren Stelle viel zu groß. Aber natürlich entsteht | |
öffentlicher Druck, nach dem Motto: Kommt da irgendwann mal was Präzises? | |
Die zehn Punkte, die sie haben, reichen auf Dauer eben nicht. | |
Und wenn die Bewegung es nicht schafft, sich weiterzuentwickeln? | |
Ich würde mir wünschen, dass sie es schafft. Mal angenommen, Macron gewinnt | |
in Frankreich, dann sind Sommerferien, und danach geht im September bei den | |
deutschen Wahlen alles gut. Wenn Pulse of Europe sich bis dahin nicht | |
weiterentwickelt hat, wird die Bewegung nicht überleben. | |
10 Apr 2017 | |
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## AUTOREN | |
Patricia Hecht | |
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