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# taz.de -- Autor über die französische Gesellschaft: „Rechtes Denken verst…
> Sein Roman „Die siebte Sprachfunktion“ handelt nicht nur vom Ende des
> Strukturalismus, sondern auch vom Beginn des Neokonservatismus, sagt
> Binet.
Bild: Roland Barthes (3.v.r.), 1978 im Pariser Café Bonaparte
taz: Laurent Binet, Sie lassen Ihren Roman mit einem Zitat von Jacques
Derrida beginnen, in dem es um die Interpretation von Sprache geht. „Jeder
spricht seine eigene Sprache, selbst wenn er eine Ahnung von der Sprache
des anderen hat.“ Warum dieses Zitat?
Laurent Binet: Meinem Roman liegt die simple Idee zugrunde, dass Sprache
gleichbedeutend ist mit Macht. Also bin ich der Geschichte von der
Eroberung der Macht durch die Sprache nachgegangen. Als Machtzentrum habe
ich mir eine Geheimloge imaginiert, den sogenannten Logos Club.
Sie suggerieren, die Loge könne in den Unfall verstrickt sein, an dessen
Folgen der Semiotiker Roland Barthes gestorben ist. Aus der wahren
Geschichte machen Sie einen Krimi. Mit in den Plot fließen
wissenschaftliche Diskurse und der französische Präsidentschaftswahlkampf
von 1980 zwischen Valéry Giscard D’Estaing und François Mitterrand. Was ist
das Hauptmotiv?
Roland Barthes und sein Werk, das ich sehr bewundere. Dass er Semiotiker
war, nutze ich aus: Semiotik ist wie die Wissenschaft von Sherlock Holmes.
Die tragischen Umstände von Barthes’ Tod sind banal. Ich habe diese Fakten
als Grundlagen einer Detektivgeschichte verwendet. In den Stunden vor
seinem Unfall war er bei François Mitterrand zum Lunch. Also habe ich
daraus ein Motiv gestrickt. Es sind nicht die üblichen Verdächtigen, statt
um Bösewichte geht es mehr um Sprachwissenschaftler, die Kollegen von
Roland Barthes. Die Gemengelage fand ich reizvoll.
Einer seiner Kollegen, Michel Foucault, hat in „Die Ordnung der Dinge“
postuliert, Strukturalismus sei keine Methode, sondern „erwachtes und
unruhiges Bewusstsein des modernen Wissens“. Inwiefern spiegelt Ihr Roman
diese Unruhe wider?
Strukturalismus ist für mich schon eine wissenschaftliche Methode. Ich
glaube, Foucaults Zitat gibt den Geisteszustand seiner Entstehungszeit
wieder. Ich kann dem damaligen Diskurs, so wie er sich die Welt erklärt,
nach wie vor viel abgewinnen.
In den Jahren 1980 bis 1984 ist nicht nur Roland Barthes ums Leben
gekommen, auch Jacques Lacan und Michel Foucault sind gestorben und der
Soziologe Louis Althusser hat seine Frau umgebracht. Deshalb interpretierte
der Historiker François Dosse diese Ereignisse als Ausdruck von
Selbstzerstörung und schrieb vom „Ende einer Ära“.
Es ging definitiv eine Ära zu Ende. Ich bezeichne meinen Roman daher etwas
ironisch als „roman crépusculaire“ (Sonnenuntergangsroman). Mir ist
wichtig, dass Leser diese Zeitenwende nachvollziehen können. Die frühen
Achtziger waren auch politisch eine Zäsur. In England begann kurz vorher
Thatchers Regierungszeit und in den USA übernahm wenig später Ronald
Reagan. Ich würde sagen, momentan erleben wir das Ende jener Ära, die
damals begann. Mein Roman handelt nicht nur vom Ende des Strukturalismus,
sondern auch vom Beginn des Neokonservatismus.
Den Wahlkampf zwischen Giscard D’Estaing und Mitterrand beschreiben Sie
ausführlich. Wenn Sie einen Roman über den aktuellen Wahlkampf in
Frankreich schreiben müssten, wie sähe der aus?
Stoff für eine gute Story gäbe es allemal: Der Skandal um den Konservativen
François Fillon ist bizarr, alles, was mit seiner Person als Politiker
zusammenhängt. Viele Franzosen haben Angst vor einem Wahlsieg des Front
National. Auch darum sehne ich mich zurück in eine Zeit, als die
französische Linke stärker war. Heute ist sie zerstritten, das macht mich
wütend. Wir erleben eine Zeit, in der Unmögliches plötzlich denkbar
erscheint. Eine Lehre aus Trumps Wahlsieg ist, dass sogar Marine Le Pen als
französische Präsidentin möglich werden kann.
„Die siebte Sprachfunktion“, wie Ihr Roman heißt, die Ihre beiden
Protagonisten, Kommissar Bayard und der Sprachwissenschaftler Simon Herzog
zu entschlüsseln versuchen: Ist sie eher Zauberformel oder
wissenschaftliches Puzzleteil?
Für mich ist sie eine Allegorie, die auf Forschungen des Philosophen John
Searle basiert. Er kam darauf, dass alles, was sagbar ist und zu Handlungen
führt, ein performativer Akt ist. Die siebte Sprachfunktion existiert
nicht, ich habe wissenschaftliche Erkenntnisse magisch gestreckt.
Wahrscheinlich hegen viele Semiotiker diesen Traum, der in meiner Fantasie
Wirklichkeit geworden ist.
Sie vermischen wissenschaftliche Diskurse und schriftstellerische Fantasie
so virtuos, dass im Unklaren bleibt, was stimmt und was erfunden ist.
Dafür habe ich fünf Jahre im Werk Barthes’ und seiner Kollegen recherchiert
und daraus Dialoge geformt. Das war poststrukturalistische Arbeit und
schriftstellerische Narrenfreiheit, denn ich habe viele Originalzitate
benutzt und sie in neue Zusammenhänge gestellt. Die meisten sind korrekt
wiedergegeben. Einige wenige sind erfunden. Ich habe mich da auf Umberto
Eco gestützt. In seiner Literaturtheorie „Lector in fabula“ hat er
geschrieben, dass Wissenschaft zugleich eine Romanhandlung ist.
Umberto Eco taucht auch in „Die siebte Sprachfunktion“ auf: An seinem
Wohnort Bologna, wo sich ein rechtsradikaler Bombenanschlag ereignet. Es
gab nicht nur die Angst vor dem Kommunismus, auch der Faschismus war eine
latente Bedrohung. Das wurde von den Regierenden heruntergespielt.
In Italien war das Verhältnis zwischen links und rechts immer angespannt
und viel hasserfüllter als in Frankreich. Der Ausdruck bleierne Zeit passt
besser auf Italien. Mein Roman verfolgt die Idee, diesen Hass zu
konterkarieren. Ich bin zwar der historischen Wahrheit gefolgt, aber ich
stelle sie spielerischer dar. Meine beiden Protagonisten suchen Umberto Eco
auf, weil er mit Barthes befreundet ist. Eco lebte und arbeitete damals in
Bologna, wo sich exakt 1980 dieser Bombenanschlag ereignete.
Am Ende Ihres Romans spricht Simon Herzog davon, dass es nie zu spät sei,
den Lauf der Geschichte aufzuhalten. Glauben Sie, dass der Lauf der
Geschichte um 1980 unsere Gegenwart und die Konfrontation zwischen
Demokraten und Rechtspopulisten beeinflusst hat?
Unsere Gegenwart hat mit 1980 zu tun, aber auch mit Ereignissen, die weit
früher stattgefunden haben. Was Geschichtsschreibung anbelangt, denke ich
marxistisch. Die Geschichte der Menschheit ist die Geschichte der Kämpfe
zwischen links und rechts. Im Wesentlichen ist es eine Geschichte von
Klassenkämpfen.
Während wir uns nun auch mit der Stummelsprache von Fake News
herumschlagen, zelebriert Ihr Roman exakte Zitate und die Schönheit von
Sprache. Wie wichtig ist das Wissen um Sprache für unsere Zukunft?
Sprache wird immer unser Referenzsystem bleiben, sie ist ein rhetorisches
Werkzeug, um Menschen zu überzeugen und zu manipulieren. Die semiotische
Beschäftigung damit ist wichtig, dadurch verstehen wir, wie dies im
Einzelnen vor sich geht. Im guten wie im schlechten Sinne, Sprache ist
mächtig. Genau wie das Internet. Was uns Angst einjagt, ist, dass die
Unterscheidung zwischen wahr und falsch heute schwierig ist. Allerdings
sind Falschmeldungen keine Erfindung des Internetzeitalters. Neu ist, wie
schnell sich Falschmeldungen im Netz verbreiten. Auch vor 50 Jahren gab es
Holocaustleugner, im Unterschied zu damals schwirren heute noch mehr
Meinungen herum.
Die Tatsache, dass Roland Barthes mit François Mitterand zu Mittag gegessen
hat, zeigt, dass Ideen eines progressiven Wissenschaftlers offensichtlich
von Interesse für die Politik waren. Gibt es gegenwärtig Intellektuelle in
Frankreich, die Politiker positiv beeinflussen?
Da sieht es eher düster aus. Vielleicht ist mein Roman deshalb so
nostalgisch, weil ich damit an die große Zeit von Barthes und Co und deren
Forschungen erinnere. Heute haben wir Alain Finkielkraut und Bernard-Henri
Lévy. Die Debatten in Frankreich sind erhitzt. Finkielkrauts
Argumentationen ähneln denen von Marine Le Pen, beide sind in den letzten
Jahren von der nationalen Identität Frankreichs besessen. Die Fixierung auf
das Nationale ist verfehlt. Der Diskurs des Nationalen beruht doch auf
Fantasien. Im Vergleich zum Klassenkampf ist dieser Diskurs des Nationalen
unbedeutend. Ich behaupte nicht, dass es ihn nicht gibt, aber er hilft uns
nicht dabei, unsere Lebensumstände zu verbessern.
Barthes’ Werk genießt nach wie vor hohes Ansehen, auch hierzulande. Gibt es
in der französischen Wissenschaft der Gegenwart Vergleichbares?
Das Frankreich von Barthes und seinen Kollegen war ein goldenes Zeitalter.
Vergleichbar mit der Zeit der Aufklärung in England. Auch im Frankreich von
heute gibt es bedeutende Intellektuelle: Frédéric Lordon und Thomas Piketty
seien als aktuelle Beispiele genannt. Stärker in der Öffentlichkeit regiert
Mittelmaß, siehe Finkielkraut. Rechtes Denken verstopft die Diskurse. Ich
glaube nicht, dass wir momentan eine Dynamik haben wie zu Barthes’
Lebzeiten.
14 Apr 2017
## AUTOREN
Julian Weber
## TAGS
Roland Barthes
Französische Literatur
Kommunikation
Schwerpunkt Zweiter Weltkrieg
Rechter Populismus
Schwerpunkt Rassemblement National
EU-Finanzpolitik
Schwerpunkt Frankreich
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