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# taz.de -- SPD-Kanzlerkandidat Martin Schulz: Retter der Sozialdemokraten
> Die SPD galt vor Martin Schulz im Wettstreit mit der CDU um die
> Kanzlerschaft als chancenlos. Rettet er die Idee von einer Volkspartei
> für alle?
Bild: Martin Schulz, der neue Megastar der Sozialdemokraten
Berlin/Bielefeld/Duisburg/Essen taz | Die Rettung mit Steckleiter aus dem
ersten Stock der Schule droht zu scheitern. Die Feuerwehrmänner in
Duisburg-Marxloh üben so etwas jeden Mittwoch, aber heute stehen ihnen
Kameraleute im Weg. „Geht mal zurück, Behinderung von Rettungseinsätzen ist
ein Straftatbestand“, sagt Martin Schulz, Kanzlerkandidat der SPD.
Eigentlich, sagt ein Feuerwehrmann zu Schulz, hätten wir ja am liebsten Sie
aus dem ersten Stock retten lassen. „Nee, ich bin rettungslos verloren“,
sagt Schulz.
Marxloh ist verrufen, ein Synonym für Armut, Ghetto, Verlotterung. Der
Zugführer, groß, bullig und seit 47 Jahren Feuerwehrmann, sagt: „Wir sind
die Feuerwehr in der No-go-Area“. Wer hier noch wählt, gehört zur
Minderheit. Bei der letzten Kommunalwahl blieben 80 Prozent zu Hause. Ein
perfekter Ort für Martin Schulz und seine Botschaft: Es gibt Probleme, aber
auch Leute, die etwas dagegen tun.
Später sitzen rotwangige Feuerwehrmänner mit einem Bier in der Hand in der
engen Wache. Schulz hält eine knappe Rede: Der Einzelne ist schwach
Gemeinschaft macht stark. Man hört das gern in der Feuerwache in Marxloh,
während draußen Würstchen brutzeln. Die Gefahr, das die Gesellschaft
zerfällt, ist erst mal gebannt, wenn man zusammen grillt.
Beim Fototermin nimmt er einen Feuerwehrhelm in die Hand. Er setzt ihn
nicht auf. Das wäre zu dick aufgetragen. Er achtet auf Distanzen. Kurz
bevor er wieder in seine Limousine steigt, sagt der Kandidat: „Ich komme
zurück, wenn ich Kanzler bin.“ Pause. „Wenn ich nicht Kanzler bin, dann
auch.“ Lachen bei der Löschgruppe 302.
Jeder kennt den Moment, in dem plötzlich etwas gelingt. Wenn beim Lernen
einer Sprache auf einmal die Hemmung verschwindet, zu reden. Wenn beim
Fußball der Pass ankommt, der sonst immer daneben ging. Was schwer schien,
ist auf einmal leicht. Warum sich die Blockade der Sozialdemokraten gerade
jetzt löst, ist so recht nicht zu erklären. Nach Brexit, Trump und zwölf
Jahren Merkel wirkt Schulz unverbraucht, wie jemand der den Zerfall der EU
aufhalten kann. Trotzdem bleibt ein rätselhafter Rest, Wissenschaftler
nennen das Kontingenz. Das meint etwas mehr als Zufall. Es ist einen Punkt,
an dem Gefühle, Fähigkeiten, Empfindlichkeiten, Hemmungen, die schon lange
vorhanden sind, in einer etwas anderen Mischung auftreten. Und etwas Neues
entsteht. Die SPD und ihr Kanzlerkandidat scheinen gerade an so einem Punkt
zu sein.
## Die SPD im Aufwind
Die Umfragen sind gut, die Kommentare in vielen Medien freundlich. Zu
Veranstaltungen der Partei kommen wieder Hunderte Genossen. In diesem Jahr
sind bereits zehntausend Menschen in die SPD eingetreten. Die Hälfte jünger
als 35 Jahre. Eine erfrischende Nachricht für eine Partei, die immer älter
und kleiner wird und in der auch SPD-Geschäftsführer in Großstädten
grübeln, wann sie ihren Laden dichtmachen müssen. In Zeitungen und im
Fernsehen heißt die SPD zwar noch Volkspartei, aber sie ist immer weniger
eine. Sie hat die Kraft verloren, Menschen von der mittelständischen
Unternehmerin bis zum Stahlarbeiter an sich zu binden. Ändert sich das
gerade?
Der Faktor, der die Stimmung verwandelt hat, ist 61 Jahre alt, eher klein,
einst Bürgermeister in einer Kleinstadt bei Aachen, dann 22 Jahre lange
Karriere im Europäischen Parlament. Also dort, wo Parteien lange vor allem
ausgedienten Politiker hinschickten. Brüssel ist eine Endstation, kein
Anfang. Wie mobilisiert ausgerechnet Schulz Sehnsüchte? Und welche?
Céline Göhlich sitzt in einem Cafe unweit von Kanzleramt und Reichstag in
Berlin. Gestreiftes Hemd, Businesslook. Der Blick der 23-Jährigen ist wach,
die Sätze druckreif. Sie hat einen deutschen Vater und eine französische
Mutter und spricht vier Sprachen. Vielleicht will sie ein halbes Jahr nach
Lateinamerika. Erfahrungen sammeln, Selbstverwirklichung. Göhlich hat
geerbt und finanziert damit ihr Studium – „International Affairs“ an einer
teuren Privatuniversität. Eigentlich hat sie mit der Linkspartei
sympathisiert.
## Und dann verschwand der Gewerkschaftsmacho
Wie Merkel in der Griechenlandkrise gehandelt hat, fand sie furchtbar. „Ich
bin in erster Linie EU-Bürgerin, in zweiter Deutsche, in dritter
Französin.“ Mit dem Gedanken, in eine Partei einzutreten, hat sie schon
länger gespielt. Ohne Sahra Wagenknechts Sprüche gegen Flüchtlinge wäre sie
jetzt vielleicht in der Linkspartei. Stattdessen ist sie am 1. Februar in
die SPD eingetreten. Wegen Schulz.
„Er hat als Präsident das Europäische Parlament stark gemacht, das war
super“, sagt sie. Céline Göhlich traut Martin Schulz zu, Wähler von der AfD
fernzuhalten – ohne sich an die Rechtspopulisten anzuschmiegen.
„Das Problem meiner Generation ist, dass wir so viele Möglichkeiten haben
und uns nicht entscheiden können“, sagt Göhlich. Jetzt hat sie sich für die
SPD entschieden. Erst mal. Wenn Schulz von Obergrenzen für Flüchtlinge
reden würde, wäre sie wahrscheinlich wieder raus aus ihrer neuen Partei.
Die SPD war mal eine Arbeiterpartei, aber das ist Geschichte. Sie ist seit
Langem eine Partei der Mittelschicht, für Menschen wie Céline Göhlich. Dass
viele dieser Menschen sich für die SPD nicht mehr begeistern können, hat
auch mit dem Wandel der Sozialdemokraten zu tun. Vor 30, 40 Jahren war das
Personal noch vielfältiger, schwieriger, streitbarer. Es gab kernige,
machohafte Gewerkschaftsführer, bürgerliche Sozialdemokraten, linke
AkademikerInnen, energische soziale Aufsteiger, ein paar Intellektuelle und
Unternehmer. Spätestens seit 1998, seit Schröder und Rot-Grün, dominiert in
der Parteielite der SPD der Bildungsaufsteiger; wortgewandt, aber
kantenloser als die alten Recken, blasser.
## Arbeiter sind eine Minderheit in der Partei
In der SPD-Parteielite 2017 gibt es zahlreiche Juristen und
Politikwissenschaftler. Sie kennen sich in Verwaltungen aus, aber weniger
in den Fabriken und Laboren der Republik. Nun braucht jede Organisation
Manager, anpassungsfähig, effektiv, kompromissbereit. Es gibt sie bei der
Union, den Grünen und bei der Linkspartei. Doch in der SPD scheint der
Frank-Walter-Steinmeier-Typus alle anderen an den Rand gedrängt zu haben.
Nur noch 16 Prozent der Genossen sind Arbeiter.
Dieses stromlinienförmige Profil hat wenig Strahlkraft. Wer gut verdient,
aber an eine Gesellschaft glauben will, in der es auch für
Hartz-IV-Empfänger und Teilzeitjobber gerechter zugeht, dem bietet die
Partei wenig. Vielleicht sind viele potenzielle Mitglieder und Wähler aus
der Mittelschicht auch einfach gelangweilt von einer Partei, die zu sehr
wie sie selbst aussieht.
Martin Schulz verdeckt dieses Manko der SPD. Er ist kein Jurist und kein
Politologe. Er hat nicht studiert und nicht die klassische Karriere gemacht
– Apparat, Verwaltung, Parlament. Er war, nachdem seine Fußballkarriere
nach Knieproblemen kaputt war, Alkoholiker. Und er ist da wieder
rausgekommen. Mit Schulz kehrt zurück, was der SPD fehlt – mehr Leben als
Aktenvermerk.
Céline Göhlich ist der eine Pol des sozialdemokratischen Spektrums. Ein
anderer ist Heinz-Peter Gajewski.
Ein kleines Büro im Verdi-Haus Essen, aus dem Fenster geht der Blick über
die Dächer der Stadt. Hier berät Heinz-Peter Gajewski, 72 Jahre, Jeans,
blauer Pulli, Pott-Dialekt, Mitglieder der Gewerkschaft Verdi, wie sie das
mit der Lohnsteuer richtig machen. Am 1. Februar ist er in die SPD
eingetreten. „Schulz will ja die Altersarmut stoppen“, sagt Gajewski. Er
erhofft sich von dem SPD-Mann keine Wunder, das nicht. Aber Reichensteuer
und Begrenzung der Managergehälter. „Ein bisschen mehr soziale
Gerechtigkeit“, sagt Gajewski.
## „Ich weiß, was Armut ist“
In der Gewerkschaft ist er seit 1957. Nach der achten Klasse ging er in die
Lehre, er war 13 Jahre alt. 1968 hatte er einen Arbeitsunfall. Ein poröser
Schlauch, Propangas, eine Explosion, beide Hände verkrüppelt. Seine Frau
war schwanger, das Einkommen klein. „Ich weiß, was Armut ist“, sagt er.
„Die Gewerkschaft hat mich getragen.“
Er arbeitete wieder, in der Gewerkschaft wurde er Vertrauensmann für
Schwerbehinderte im Fernmeldeamt Essen.
Heinz-Peter Gajewski wollte etwas von der Solidarität zurückgeben, die er
einst selbst erfahren hat. In die SPD einzutreten, darüber hat er schon
länger nachgedacht. Mit Sigmar Gabriel konnte er wenig anfangen. Mit Martin
Schulz schon mehr.
Am Stammtisch von Heinz-Peter Gajewski kam sein Parteieintritt nicht so gut
an. Er sei wohl bekloppt, sagten die anderen. Der Schulz rede jetzt was
Soziales, wenn der dran sei, werde er das Gleiche tun wie alle. Die oben
machen sich immer die Taschen voll. „Unterste Schublade“, sagt Gajewski.
Was er von manchen Exkollegen zu hören bekommt, ist der Echoraum des
Rechtspopulismus: das Ressentiment gegen die Aufsteiger, die das Volk
verraten.
## Die Aufsteiger verachteten ihre Eltern
Aber auch rüde und plumpe Vorurteile haben Anknüpfungen in der
Wirklichkeit. Ja, die SPD ist eine Partei des Aufstiegs. Das war mal ihr
großes Versprechen: Jeder kann alles werden. Die Eltern der
SPD-Aufsteiger waren kleine Angestellte, Krankenschwestern, Putzfrauen.
Aber als ihre Söhne studiert hatten und in der Partei Karriere machten,
da vergaßen sie die Stammtische, an denen ihre Eltern früher saßen oder
verachteten sie sogar.
Dass das den Kontakt zu bestimmten Milieus kosten würde, haben in der SPD
manche erkannt. Aber sie waren in der Minderheit. Und außerdem selbst
Politikwissenschaftler. Der scharfsinnigste Kritiker des sozialen
Aufsteigers, der französische Soziologe Pierre Bourdieu, war Aufsteiger.
Das Versprechen der SPD, ihre große Erzählung, hat sich in einen Makel
verwandelt.
Drei Kilometer entfernt von Heinz-Peter Gajewskis Verdi-Büro, in
Essen-Rellinghausen, schüttelt Martin Schulz Hände. Er eilt durch die
Jugendberufshilfe Essen, wo Männer und Frauen um die zwanzig ihre
Ausbildung nachholen. Er lobt die Berufsbildung und ist angemessen besorgt,
weil das Geld fehlt. Er stürmt in eine Küche, probiert ein Teilchen
(„Amerikaner, toll“), verabschiedet migrantische Lehrlinge, denen eine
Prüfung bevorsteht, mit „Macht’s gut, Männer“.
Im Revier, kleinbürgerlich und proletarisch, verdampft das Weihevolle
solcher Kontakte zwischen Macht und Volk schnell. Hier funktionieren die
Stärken von Martin Schulz: das Direkte, Unverstellte.
Zwei 24-Jährige arbeiten in der Schreinerwerkstatt an Holztischchen. „Was
habt ihr für einen Schulabschluss?“, fragt der Kandidat.
„Zehnte Klasse.“
„Den gleichen wie ich.“
„Vielleicht wird aus Ihnen ja trotzdem noch was“, sagt der Lehrling. „Hof…
ich auch“, sagt Martin Schulz.
## Ich vergesse nicht, wo ich herkomme
Er ist das Versprechen, ein anderer Typus SPD-Aufsteiger zu sein. Einer,
der nicht mit Dreireiher und Brioni-Mantel demonstrieren muss, dass er zur
Elite gehört. Einer, der die Arbeiter und Angestellten, deren Ängste und
Verunsicherungen er in seinen Reden beschwört, nicht verraten wird. Dem
seine Herkunft nicht bloß Sprungbrett nach oben ist.
Schulz trägt, bei seiner Tour durch die Republik oft einen blauen Anzug,
den auch sein Pressesprecher anhaben könnte. Wenn der nicht gerade etwas
Eleganteres trägt. Oder einen schwarzen Mantel von Bugatti, einer
Modefirma aus Herford im mittleren Preis- und Hippnesssegment. Der
Dresscode des Irgendwie-nicht-wichtig ist eine Aussage: Ich vergesse nicht,
wo ich herkomme. Ich bin nicht Schröder.
Die SPD war immer dann erfolgreich, wenn sie es schaffte, Industriearbeiter
und aufstiegsorientierte Mittelschichten für sich zu gewinnen.
Bildungshungrige wie Céline Göhlich und Malocher wie Heinz-Peter Gajewski.
So war es Anfang der siebziger Jahre, als sie die Kanzler stellte, und so
war es auch zu Beginn der rot-grünen Regierung ab 1998.
Bei Martin Schulz ist für jeden etwas dabei. Gefühl für die Partei, mehr
soziale Gerechtigkeit für die Gewerkschaften. Für die Zufriedenen das Lob
des blühenden Landes. Schulz kommt beim Bildungsbürgertum, das in die Oper
geht, genauso an wie beim Facharbeiter, der Helene Fischer hört. Damit
kehrt der ramponierte Traum der SPD zurück, Volkspartei zu sein.
Damit wieder mehr Leute in die Partei kommen und die die drin sind, nicht
weglaufen, muss der Kanzlerkandidat allerdings auch einen eleganten Umgang
mit der sozialdemokratischen Geschichte finden, die manchmal wie ein Alb
auf den Gemütern der Sozialdemokraten lastet.
## Die Utopie nicht vergessen
Die CDU beschwört zwar auch ihre Altvorderen wie Konrad Adenauer und Ludwig
Erhardt, aber dort ist es letztlich Folklore. Die Konservativen wollen die
Welt nicht verbessern, sie vollziehen Veränderungen höchstens nach. In der
SPD jedoch wird immer auch Utopie verlangt, die Gegenwart immer verglichen
mit den hehren Idealen aus über 150 Jahren Sozialdemokratie.
Freitagabend, Ende Februar. Martin Schulz steht bei einem Kongress der
Jusos, der Jugendorganisation der SPD, im Willy-Brandt-Haus locker an einem
roten Stehpult. Es ist ein Heimspiel, das Publikum begeisterungsbereit. Im
Hintergrund sieht man im Halbdunkel die überlebensgroße Bronzestatue von
Willy Brandt. Nach der Rede schenkt Juso-Chefin Johanna Uekermann Schulz
einen Spielzeugzug, in Erinnerung an Brandt, der beim Wahlkampf 1972 mit
der Eisenbahn durch die Republik fuhr. 1972, als die SPD mehr als 45
Prozent bekam und fast als eine Million Mitglieder hatte. Und Volkspartei
war, nah an den Gewerkschaften, mit einem Bein im Bürgertum. Als sie eine
Mission hatte, auch gleich mehrere: Demokratie, Ostpolitik, Bildungsreform.
Im Schatten der glorreichen Geschichte sieht die Gegenwart ziemlich grau
aus. Wo früher kühne Zukunftsentwürfe geschmiedet wurden, ist jetzt
Gewurschtel. Die Partei leidet unter dem bohrenden Gefühl, im grauen,
visionsfreien Heute nur noch technokratischer Sachverwalter zu sein. Gerade
in der Großen Koalition. Wenn die Jusos „Martin, Martin!“ skandieren,
scheint sich die Lücke zwischen dem Jetzt und dem besseren Gestern zu
schließen.
Was viele vergessen haben: Willy Brandt trug, bevor er 1969 Kanzler wurde,
den Spitznamen Willy Wolke. Weil viele bei Brandt vor lauter
Kompromissformeln nicht mehr wussten, wo es lang geht. Volksparteien
können nur in diesem unverbindlichen Raum existieren. Sie müssen
anschlussfähig an verschiedene Milieus sein, Kompromissmaschinen, die
widersprüchliche Interessen verarbeiten. Erfolgreich ist die SPD, wenn sie
beides kann: Kompromiss und Kampf.
## Unser blühendes Land
Stadthalle Bielefeld, ein regnerischer Montag im Februar. Die AfA, die
Organisation der Arbeitnehmer in der SPD, veranstaltet in dem kühlen
Funktionsbau einen Kongress, „Zukunft der Arbeit“. Es gibt glanzvollere
Ereignisse. Aber mehr als 700 Menschen sind gekommen. Schulz klingt mal wie
ein Pastor, mal wie ein Gewerkschafter. „Wenn die Bäckerei an der Ecke ihre
Steuern zahlt, aber der US-Kaffeekonzern daneben nicht, dann ist das
ungerecht“, ruft er. Er verdichtet Abstraktes, Steuerpolitik im
globalisierten Kapitalismus, in einfache Bilder. Botschaft: Viel ist gut,
aber längst nicht alles. Signalworte: Unser blühendes Land. Dankbarkeit für
die Älteren. Stolz auf die Flüchtlingshelfer.
„Wir schreiten Seit’ an Seit’“, das alte Lied der Arbeiterbewegung, ruft
Schulz den Betriebsräten zu, sei das modernste politische Konzept. Der
Plunder der SPD-Geschichte? So ein Satz kann in unfreiwillige Komik
stürzen. Hier nicht. Weil Schulz ein Gefühl ausstrahlt, das bei anderen,
bei Steinbrück, Steinmeier oder auch bei Sahra Wagenknecht, fehlt. Das
Vertrauen, dass er mit den Arbeitern und Altenpflegern, die er in seiner
Rede zitiert, auch einen Abend in der Kneipe verbringen würde, ohne sich zu
langweilen.
Martin Schulz riecht nach alter SPD. Das galt als jahrelang als
hoffnungslos out. Allerdings haben schon Bernie Sanders und Jeremy Corbyn
gezeigt, dass traditionelle Sozialdemokratie wieder ankommt, gerade bei
Jüngeren.
Die Agenda 2010 ist Symbol für die kaltherzigen Arroganz der Aufsteiger-SPD
gegenüber denen, die zurückblieben. Das von Gewerkschaften oft zitierte
Angstbild dafür ist der Mittfünfziger, der mehr als drei Jahrzehnte
gearbeitet hat, seinen Job verliert und nach zwei Jahren auf Hartz IV ist.
Vor Kurzem habe ihn ein 50-Jähriger angesprochen, der Angst um seinen
Arbeitsplatz hatte, sagt Martin Schulz in Bielefeld. „Wenn der seinen Job
verliert, bekommt er 15 Monate Arbeitslosengeld. Und dann geht es an seine
Existenz. Das darf nicht sein“, ruft er. „Wir haben Fehler gemacht.“ Das
ist tatsächlich neu.
## Fehler eingestehen
Noch nie hat ein SPD-Spitzenpolitiker Fehler bei der Agenda eingeräumt.
Schulz zeigt ein genau kalkuliertes Maß an Zerknirschung, im Ungefähren
zwischen Erneuerungsversprechen und Lob des Erreichten.
Zwei Wochen später präsentiert Arbeitsministerin Andrea Nahles konkrete
Pläne. Ältere Arbeitslose sollen länger Arbeitslosengeld bekommen, wenn sie
sich weiterbilden. Und Jüngere bekommen leichter Arbeitslosengeld. Das ist
eine Korrektur, keine Revision der Agenda. Doch das Wort, das nachhallt,
ist nicht das „Arbeitslosengeld Q“ von Nahles, sondern der „Fehler“ von
Schulz.
Seine Strategie ist es, forsch und schonungslos anzusprechen, was wehtut.
Und es dann in Watte zu packen. Versöhnen statt spalten. Und eher
Kompromiss als Kampf. Wenn das zu viele Schulz-Fans merken, könnte die
Euphorie leicht wieder abnehmen.
Aber was passiert dann? Die SPD-Umfragewerte werden auch mal wieder sinken.
Martin Schulz wird ein verhageltes Wahlergebnis erklären oder Klares zu
Griechenlands Schuldenkrise sagen müssen. Der Honeymoon mit den Medien wird
nicht bis zur Wahl währen. Der Geschichte von der Auferstehung der SPD wird
die vom Fall aus großen Höhen folgen. Martin Schulz kann nicht so
reibungslos bis zum Wahltag am 24. September kommen, wie er bisher durch
die Republik geeilt ist. Dann werden die kommen, die zweifeln, ob der
kleine Mann aus Würselen der Richtige ist. Kann Martin Schulz eigentlich
kämpfen, wenn er es muss? Wie reagiert er auf Rückschläge?
## Fehlt nur noch ein schöner Hitler-Vergleich
Daniel Cohn-Bendit, 71 Jahre alt und einst Chef der Grünen-Fraktion im
Europäischen Parlament, hat Schulz zwölf Jahre lang in Brüssel im
politischen Nahkampf erlebt. „Martin hat einen begnadeten Sinn für
machtpolitische Konstellationen“, sagt Cohn-Bendit, „und er ist ein
begnadeter Förderer seiner eigenen Karriere. Das ist nicht als Kritik
gemeint.“
1994, als Schulz nach Brüssel kam, saß er bereits nach einer Woche im
wichtigen Menschenrechtsausschuss. Später wurde er Fraktionschef der
Sozialisten. Dann Präsident des EU-Parlaments, das er aus dem Abseits
holte und zum machtpolitischen Player machte.
„Er hat Großes für Europa geleistet. Das muss man als erstes sagen, danach
kann man ihn kritisieren“, sagt der grüne Parlamentarier Sven Giegold. Da
gibt es einiges. Bei einem Untersuchungsausschuss über die
Dieselbetrügereien deutscher Autokonzerne verhinderte Schulz mit
freihändiger Gestaltung der Geschäftsordnung missliebige Abstimmungen.
Seinen Freund Jean-Claude Juncker bewahrte er vor einem
Untersuchungsausschuss. Juncker hatte jahrelang illegale Bankdeals in
Luxemburg zugelassen. Bei Luxleaks, sagt Giegold, hat Schulz „mit den
Ellenbogen gearbeitet, da kennt er nichts“.
## Steile EU-Karriere
Dass es in der Europäischen Union transparent zugeht, hat Martin Schulz
immer weit weniger interessiert als Machtpolitik und vorzeigbare
Resultate. Seine EU-Karriere war steil, es gab wenige gefährliche
Konkurrenten, die er aus dem Weg räumte. Kaum Niederlage oder existentielle
Krisen.
Die Konkurrenz tut sich schwer damit, das zu ändern. Auch die Kampagne, die
die Union gegen Schulz als angeblich korrupten EU-Bürokraten initiierte,
ist so erfolglos wie sie bigott war. Die Personalpatronage, die die Union
ihm vorwirft, betreiben die Christdemokraten in Brüssel nämlich selbst.
Auch die Angriffe gegen Schummel-Schulz zündeten nicht recht: Der SPD-Mann
hatte in einem Interview behauptet, dass 40 Prozent der Jüngeren nur
befristetet Jobs haben, es sind aber nur 14. Doch Schulz scheint derzeit
immun gegen Kritik.
Finanzminister Wolfgang Schäuble attackierte den SPD-Mann als deutsche
Ausgabe von Donald Trump. Im Willy-Brandt-Haus hörte man das gern. „Was
kommt als Nächstes? Ein Hitler-Vergleich?“ sagt ein Mitarbeiter des
Kandidaten fröhlich.
Es sieht so aus als gehe es für Martin Schulz erst einmal weiter bergauf.
19 Mar 2017
## AUTOREN
Stefan Reinecke
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