# taz.de -- Sonderparteitag der SPD: Hundert Prozent Schulz | |
> Seine Wahl gerät zum Erweckungserlebnis. Die Partei lag lange am Boden | |
> und glaubt nun wieder an ihre Stärke. Hält die Euphorie an? | |
Bild: Demütig nimmt er die überwältigend einheitliche Zustimmung seiner Geno… | |
Als Martin Schulz am Sonntag um kurz nach halb zwölf die Halle betritt, | |
wird er empfangen wie ein Popstar. Der Jubel ist ohrenbetäubend auf dem | |
Berliner SPD-Bundesparteitag. Es ist nicht das übliche inszenierte | |
Applausritual. Die Begeisterung der rund 600 Delegierten ist nicht | |
gespielt. Die noch vor Kurzem so verzagten Genossen glauben tatsächlich | |
freudentrunken an den Mann aus Würselen. Ist es mehr als Autosuggestion? | |
Ein Hauch des Geistes von Willy Brandt weht durch die Arena in | |
Berlin-Treptow. „Seit ich Mitglied der SPD bin, schwärmen mir ältere | |
Genossinnen und Genossen von der 'Willy wählen’-Kampagne aus den 70er | |
Jahren vor“, sagt die Juso-Vorsitzende Johanna Uekermann. Langsam bekäme | |
sie „ein Gefühl dafür, was die Genossinnen und Genossen meinen“, meint die | |
29-Jährige. | |
[1][Martin Schulz hat der ermatteten SPD neues Leben eingehaucht]. 13.000 | |
Neuzugänge verzeichnet die Partei seit Januar. In Umfragen rangiert sie | |
fast gleichauf mit der Union. Vor seiner Ausrufung zum Kanzlerkandidaten | |
lagen die Sozialdemokraten noch bei 21 Prozent. „Es riecht nach | |
Veränderung“, sagt Berlins Regierender Bürgermeister Michael Müller. | |
Das ist auch das Gefühl von Marco Bülow. Anfang Februar lud der | |
Bundestagsabgeordnete am Stadtrand von Dortmund zu einer Veranstaltung zu | |
Langzeitarbeitslosigkeit ein. Normalerweise kommen zu solchen Themen zwei | |
Dutzend, davon die meisten aus Pflichtgefühl. Doch diesmal drängelten sich | |
hundert Interessierte im Saalbau in Mengende. Erstaunlich war das für | |
Bülow, weil an der SPD-Basis in Dortmund seit Langem „Frust herrscht“, nur | |
kurzzeitig aufgehellt, als die SPD Mindestlohn und Rente mit 63 für | |
langjährig Beschäftigte durchsetzte. Nun ist Bülow überzeugt: „Die Apathie | |
ist weg, die Motivation hoch.“ Ein Grund: Der neue SPD-Chef hat Fehler bei | |
der Agenda 2010 eingestanden. „Damit hat Schulz vielen an der SPD-Basis aus | |
der Seele gesprochen“, sagt Bülow. | |
## Keine Anspruch auf eine Revolution | |
Auf dem Parteitag nimmt Schulz das böse Agenda-Wort nicht in den Mund. „Es | |
geht nicht um Vergangenheitsbewältigung“, sagt er. Lieber spricht der | |
sozialdemokratische Hoffnungsbringer davon, die Arbeitsmarktpolitik | |
„weiterentwickeln“ zu wollen. Darunter stellt er sich eine moderate | |
Verlängerung des Arbeitslosengeldes I für ältere Beschäftigte vor, | |
gekoppelt mit Weiterbildungsmaßnahmen. Außerdem will er | |
Beschäftigungsbefristungen ohne sachlichen Grund „auf den Prüfstand | |
stellen.“ Revolutionär ist das alles nicht und soll es auch nicht sein: | |
„Soziale Gerechtigkeit ist kein Begriff aus dem Lehrbuch des | |
Klassenkampfs“, sagt Schulz. | |
Etwas mehr als eine Stunde spricht Schulz. Es ist eine Rede, wie man sie | |
von ihm aus den vergangenen Wochen kennt. Er erzählt von seiner Herkunft | |
„aus einfachen Verhältnissen“, seiner wilden Jugendzeit und der zweiten | |
Chance, die er bekommen und genutzt habe. Er vergisst auch diesmal nicht, | |
dass diejenigen, die hart arbeiten und sich an die Regeln halten, „unseren | |
Respekt verdient“ hätten. Genauso wie die Polizei, die Feuerwehr und die | |
Rettungskräfte. „Wir brauchen wieder mehr Respekt in dieser Gesellschaft“, | |
ruft Schulz in den Saal. „Das ist das, wofür wir streiten müssen!“ | |
Auch in dem noch nicht verabschiedeten SPD-Wahlprogramm werde es um | |
„Gerechtigkeit, Respekt und Würde“ gehen. Konkreter wird er in der | |
Bildungs- und Familienpolitik. „Wir Sozialdemokraten wollen, dass Bildung | |
gebührenfrei, wird von der Kita bis zu Studium“, sagt er. Zudem will Schulz | |
einen Rechtsanspruch auf einen Platz in Ganztagsschulen durchsetzen. Und er | |
verspricht Investitionen gerade in die Bildung: „Investieren ist das | |
zentrale, was wir in den nächsten Jahren vornehmen müssen.“ Ansonsten wehrt | |
sich sich Schulz gegen jegliches „Europa-Bashing“ und zieht klare Kante in | |
Richtung AfD, die er als „Schande für Deutschland“ bezeichnet. | |
Am heftigsten wird der Beifall allerdings bei seinem Schlusssatz: „Ich | |
will, Genossinnen und Genossen, der nächste Bundeskanzler der | |
Bundesrepublik Deutschland werden.“ Das ist das, was die Partei von ihm | |
hören will. Die Delegierten bedanken sich überschwänglich: Bei der Wahl zum | |
Parteivorsitzenden erhält er 100 Prozent der Stimmen. Das erinnert dann | |
allerdings weniger an Willy Brandt denn an Erich Honecker. | |
## „London – New York – Paris – Würselen“ | |
Auf Hochtouren läuft auch das Schulz-Merchandising. Es gibt den | |
Schlüsselbund „Ich bin ein Schulz-Anhänger“, den Baumwollbeutel „London… | |
New York – Paris – Würselen“ und einen lebensgroßen Schulz-Pappaufstell… | |
Bis der nach der Bundestagswahl im Kanzleramt aufgestellt werden kann, ist | |
es noch ein langer, steiniger Weg. | |
Das Dilemma der SPD bündelt sich in einem Begriff: Volkspartei. Das will, | |
muss sie sein. Für die SPD bedeutet das, mehr als von 30 Prozent gewählt zu | |
werden. Es ist die Raison d’être der Partei – die Idee, Unter-, | |
Mittelschicht und Bürgertum zu verbinden. Das ist irgendwo verloren | |
gegangen. Weil die Milieus zu verschieden wurden, weil die Stammtische gar | |
nicht mehr wählten, die Besserverdienenden Greenpeace-Sympathisanten die | |
Grünen, das liberale Bürgertum Merkel. | |
Was Volksparteien in individualisierten, auf Selbstverwirklichung geeichten | |
Gesellschaften eigentlich sind, ist nicht leicht zu sagen. Die SPD aber | |
wirkte zuletzt wie eine Verwaltung, die Beschlussvorlagen und Karrieren | |
produzierte, aber keinen Sinn, keine Erzählung stiftete. Dieser Eindruck | |
ist seit Schulz wundersamerweise verschwunden. | |
Für den Soziologen Oliver Nachtwey, Autor der auch in der SPD viel | |
beachteten Studie „Die Abstiegsgesellschaft“, ist das, was die Partei bis | |
jetzt an Veränderung angekündigt hat, noch zu wenig. Schulz habe als | |
Instinktpolitiker schnell gemerkt, dass Gerechtigkeit als Thema in der Luft | |
liegt. „Wenn er zu oft ‚Ja, aber‘ sagt, wird die Begeisterung wieder | |
verfliegen“ so Nachtwey. | |
Aber davon ist auf dem Berliner Parteitag nichts zu spüren. | |
19 Mar 2017 | |
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## AUTOREN | |
Pascal Beucker | |
Stefan Reinecke | |
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