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# taz.de -- Kunst und Konstruktivismus: Die Wand ist kein Ruhebett für Bilder
> Der russische Konstruktivist El Lissitzky proklamierte eine neue
> Kunstform. Mit dem „Kabinett der Abstrakten“ konnten Besucher Raum und
> Kunst überwinden.
Bild: Rekonstruktion von El Lissitzkys Kabinett der Abstrakten aus dem Jahr 192…
Hannover taz | Das Sprengel-Museum in Hannover wagt sich wieder an das
„Kabinett der Abstrakten“ des russischen Konstruktivisten El Lissitzky. Die
erste Version entstand 1927 im Provinzialmuseum Hannover und gilt als
Meilenstein der Museumsgeschichte. 1937 von den Nazis zerstört, wurde das
Kabinett 1968 in Erinnerung an Alexander Dorner zum ersten Mal nachgebaut.
Nun also ein neuer Versuch, sich dem ursprünglichen Kabinett anzunähern.
El Lissitzky, diesem 1890 im russischen Potschinok geborenen Multitalent
und Avantgardisten, ging es um einen modernen, dynamischen Raumbegriff,
auch im musealen Gebrauch. Er forderte: „Wir zerstören die Wand als
Ruhebett für ihre Bilder“ und zeigte in seinem „Kabinett der Abstrakten“
Werke von Künstlern wie Pablo Picasso oder Piet Mondrian sowie eigene
Werke. Die Idee war, die Ausstellungsbesucher auch mit beweglichen
Elementen dazu zu bringen, sich aktiv zu beteiligen und so über die
Wahrnehmung der Kunst nachzudenken.
Von 1909 bis zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs studierte El Lissitzky an
der Technischen Hochschule Darmstadt Architektur, sein Diplom machte er
1918 in Moskau, 1921 kam er dann nach Deutschland zurück. Bis er 1941 in
Moskau starb, pendelte er zwischen Westeuropa und Russland und war eine
zentrale Figur des intellektuellen Austausches. Seine vielfältigen
künstlerischen Interessen galten der Malerei, Grafik und Typografie, dem
Fotografieren und der visionären Architektur.
Bereits um 1920 proklamierte er seine eigene Kunstform: Proun –
ausgesprochen Pro-un, das russische Akronym für Projekt zur Förderung neuer
Formen in der Kunst. Mit Proun, so formulierte es El Lissitzky, habe er
eine Umsteigestation von der Malerei zur Architektur geschaffen.
Proun ist die Komposition geometrischer Elemente wie Linie, Fläche oder
Quader, teils in abenteuerlicher, Schwerkraft und Logik negierender
Konstellation, schwebend im grenzenlosen Raum. Es kann Malerei oder Relief
in der Fläche sein, vor allem aber dreidimensionale Installation. In drei
„Demonstrationsräumen“, wie El Lissitzky das nannte, probierte er seine
Idee aus: 1923 als Proun-Raum in Berlin, 1926 als Raum für konstruktive
Kunst in Dresden und eben 1927 auf Einladung Alexander Dorners als
„Kabinett der Abstrakten“ in Hannover.
Die Geschichte der Kunst ist auch immer eine Geschichte des Sammelns und
Ausstellens. Mit der Galerie erfand man im 16. Jahrhundert den passenden
Gebäudetypus, die dem Schlossbau entlehnte, symmetrisch angelegte Folge
repräsentativer Säle. Unter dem Diktat der Architektur verschmolzen hier
Kunst, Natur- und Kultobjekte zu einem Gesamtkunstwerk, das die göttliche
Idee in der Vielfalt der sichtbaren Welt offenbaren sollte.
Um 1800, mit der Abspaltung wissenschaftlicher Sammlungen, entstand die
heutige Institution Museum, reine Kunstmuseen konstituierten sich. Sie
arrangierten ihre Sammlung, wenn überhaupt bewusst, nach Stilen, die Räume
in überbordender Fülle von Boden bis Decke dicht mit Bildern behängt. Nur
mit der aktuellen Kunst tat man sich schwer, sonderte sie lieber in
spezielle Häuser aus, vertraute auf die ewige Autorität historischer
Epochen, ohne die evolutionäre Rolle der Zeit erkennen zu wollen.
Ein derart statisches Kunstmuseum war auch das Provinzialmuseum Hannover,
Vorläufer des heutigen Landesmuseums, als der Kunsthistoriker Alexander
Dorner (1893–1957) im Sommer 1919 dort seinen Dienst antrat und 1923 die
Leitung übernahm. Dorner hatte jedoch während seines Studiums der
Kunstgeschichte – auch sie eine junge Disziplin des 19. Jahrhunderts – nach
einer dynamischen Erklärung des Stilwandels gesucht. Er hatte das Werden
eines Stils, sein Wachsen aus einem anderen, als eine zweite Wahrheit neben
das Ewigzeitliche gestellt. Sein sukzessiv verfestigtes Modell bezog
politische und gesellschaftliche Veränderungen ebenso ein wie es die Kunst
der Gegenwart als Perspektive benötigte.
Statt in Epochen ordnete Dorner die Hannoversche Sammlung nun in
Atmosphärenräumen an, die das Sehen und Empfinden früherer Zeiten
vermitteln wollten sowie ein Verständnis der Kunst als kontinuierlichem
Prozess schöpferischen Wachstums. Seine komplexen Installationen arbeiteten
mit farbigen und architektonischen Raumfassungen, stellten einzelne
Kunstphasen chronologisch aneinander und zeigten sowohl deren spezielle
Eigenart als auch die Integration in eine große Sequenz.
Nach 1922 war Dorner zudem in der Kestner-Gesellschaft aktiv, dem
großbürgerlichen Kunstverein Hannovers, den er gleichfalls modernisierte.
Er verschob den Schwerpunkt zur abstrakten Kunst, zeigte Filme und
Ausstellungen zum Bauhaus wie zu moderner Architektur. Durch die
Kestner-Gesellschaft bewegte sich Dorner in der künstlerischen Avantgarde
der Weimarer Republik um Walter Gropius, Kurt Schwitters in Hannover, den
Bauhäusler Moholy-Nagy oder den russischen Konstruktivisten El Lissitzky.
Das „Kabinett der Abstrakten“ in Dorners kunsthistorischer Chronologie
bereitete fortan der ungegenständlichen Kunst eine Bühne: die Wände durch
aufgesetzte, schwarz-weiß lackierte dünne Lamellen in ihrer physischen
Eindeutigkeit aufgelöst, der Boden in unendlich tiefes Schwarz getaucht,
die Kunst ihrer Rahmen befreit. Einige der Werke ließen sich auf
beweglichen Tableaus verschieben, andere durch Paneele abdecken, jeder
Besucher konnte sein ganz persönliches Kabinett genießen. Dafür stellte der
Raum auf nur 23 Quadratmetern Fläche etwa 25 Werke bereit.
Alfred Barr, Gründungsdirektor des New Yorker Moma, lobte nach einem Besuch
1935 das Kabinett als wahrscheinlich weltweit bedeutendsten Einzelraum für
die Kunst des 20. Jahrhunderts. 1937 wurde es von den Nazis zerstört. Eine
erste Wiederherstellung folgte 1968, sie wurde 1979 ins Sprengel-Museum
überführt. Jetzt zeigt das Haus eine vollkommen neue Rekonstruktion dieser
„Inkunabel der Moderne“, so Museumsdirektor Reinhard Spieler. Dieses Mal
werden auch aktuelle Forschungserkenntnisse berücksichtigt, etwa zur
ursprünglichen Polychromie. Wie ein roter Faden begleitet nun ein lineares
Element, weder der Architektur noch den Exponaten sklavisch verpflichtet,
den Besucher durch das Sammlungskabinett, überwindet mit ihm gleichsam Raum
und Kunst.
El Lissitzky. Das Kabinett der Abstrakten: bis 31. 12. 2018,
Sprengel-Museum Hannover, Kurt-Schwitters-Platz 1, Hannover
Ausstellung zur Entstehung des Kabinetts: ab 23. September, Revonnah,
Ferdinand-Wallbrecht-Straße 10, Hannover
24 Feb 2017
## AUTOREN
Bettina Maria Brosowsky
## TAGS
Kunst
Hannover
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