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# taz.de -- Interdisziplinärer Totentanz in Osnabrück: Wiederbelebte Wichtel
> Das Projekt „Danse Macabre“ widmet sich Bildern vom tanzenden Tod vom
> Mittelalter bis in die Gegenwart – mit Tanz, Ausstellungen und
> Installationen in vier Häusern
Bild: Hundert Jahre nach der Uraufführung: Rekreation von Mary Wigmans „Tote…
Am Tod des Todes arbeiten Wissenschaft, Medizin und Religionen schon lange
– vergeblich. Die jederzeit mögliche, gnadenlose Nichtung aller
Lebensmöglichkeiten bleibt ein Skandal. Damit der unausweichliche Tod keine
unfassbare Absurdität bleibt, die wir erst erleben, wenn wir nicht mehr
leben, hilft die Kunst: Du sollst dir ein Bildnis machen von der
Vergänglichkeit alles irdischen Seins und das Wissen nutzen, dich auf den
Zahltag der Sühne Sold mit einem gottgefälligen Leben vorbereiten – schlägt
auch die katholische Kirche vor.
Als sie noch Alltagskultur mitbestimmte, war der Tod weniger tabuisiert,
als er es heute ist. Das zeigt die Ausstellung „Im Angesicht des Todes.
Begegnung zwischen Schicksal und Hoffnung“ im Osnabrücker Diözesanmuseum.
Dort wirkt aufdringlich, was einst selbstverständlich war, etwa
Memento-mori-Darstellungen, die auf Tabakdosen und Pfeifen prangen wie
„Rauchen ist tödlich“-Hinweise. Auch Vanitas-Wendeköpfe aus Elfenbein –
halb Totenschädel, halb Menschenantlitz – und in Holz geschnitzte
„Tödlein“-Figuren für kontemplative Stunden daheim präsentiert das Bistu…
das sich an der „Danse macabre“-Kooperation der örtlichen Kulturtempel
beteiligt.
Und gar nicht weiß, wohin mit all den tollen Exponaten: Hineingequetscht
sind sie in einen winzigen Saal. Historische Leichenpredigten hängen über
Totentanzdarstellungen in 500 Jahre alten Büchern und Porträts des großen
Gleichmachers. Egal ob fetter kirchlicher Würdenträger, schnieker Edelmann,
ranke Jungfrau, knuddeliges Wickelkind oder leibeigener Bauer: Der
Knochenmann tanzt mit allen gleichermaßen auf den großen Reigenbildern.
Aber wer genau hinschaut, entdeckt auch mal einen Schmetterling – als
Verweis auf die Wiederauferstehung.
## Wiederbelebter Tanz
Diese eher grundsätzlich theologische Auseinandersetzung mit der
Endlichkeit ergänzt das Theater Osnabrück, indem es toten Tanz
wiederzubeleben versucht – mit einer Rekreation von Mary Wigmans 1917
uraufgeführtem „Totentanz I“. Der gilt als Pioniertat der Mutter des
Ausdruckstanzes. Glücklicherweise ist die Choreografie notiert überliefert
und die dazugehörige Musik bekannt: Camille Saint-Saëns’ „Danse macabre�…
Kein expressiver Akt der Befreiung wird gezeigt, sondern ein Fallen,
Trippeln, Stolzieren und Toben, ein gespenstisch stummes Jauchzen und
lustvoll groteskes Spuken. Unerlöste Wiedergänger sollen das da auf der
Bühne sein, grabfrei haben sie bekommen, um ungelebtes Leben nachzuholen.
Aber das wirkt anno 2017, als würden putzige Zipfelmützenwichtel in
Schlabbersackkostümen eine Kinderparty bespaßen.
Es folgt „Totentanz II“. Über ihn gibt es kaum Zeitungsrezensionen, eher
theoretische Einlassungen Wigmans, einige Fotos, die Masken der Tänzer
sowie Kreideskizzen, Bewegungsstudien und Aquarelle Ernst-Ludwig Kirchners,
der mit zupackend-direktem Ausdruck auf die Bewegungskunst eingeht und auch
die damals neumodische abstrakte Übersteigerung von Form, Farbe und Gebärde
erkundet. Er begleitete die Probenarbeit 1926 in Dresden und entwarf aus
den Erfahrungen sein Ölgemälde „Totentanz der Mary Wigman“.
## Ausdruck von Ängsten
All das ist im Felix-Nussbaum-Haus anhand der Originale nachzuvollziehen.
Ergänzt wird die Schau durch Beispiele, wie das Totentanzmotiv als Ausdruck
verborgener Ängste oder drohender Krisen sowie zur fatalistischen
Gestaltung der Gräuel des Ersten und nahenden Zweiten Weltkriegs genutzt
wurde – etwa in Bildern von Ernst Barlach, Otto Dix und James Ensor.
Ein hinreißender „Skeleton dance“ (1929) von Walt Disney ist ebenso zu
sehen wie das Video „Dancing Auschwitz“, in dem ein Shoah-Überlebender und
israelische Vertreter seiner Enkelgeneration in KZ-Gedenkstätten zu Gloria
Gaynors Hit „I will survive“ tanzen – nach Youtube-Discohüpfvorlagen aus
den späten 1970ern.
Aufgrund der ganz anderen Aktenlage für „Totentanz II“ hat das
Rekonstruktionsteam diese Choreografie eher nachempfunden als
nachgestaltet. Da auch die befeuernde Schlagzeugmusik vollständig verloren
ist, muss der Perkussionist des Osnabrücker Symphonieorchesters eine
klangrhythmische Bewegungsbegleitung komplett neu erfinden.
Dazu erwachen nun Lemuren mit Totenmasken – als wären sie an
Marionettenfäden gezogen von einem höllisch fiesen Magier mit Tiermaske und
urwaldgrüner Verhüllung. Schlafwandelnd erhebt sich aus der Gruppe eine
Cleopatra-Gestalt mit Halbtotenmaske. Kräfte wogen, Körper wanken hin und
her. Aber willensschlapp ergeben sich alle und legen ihre Körper zu einem
Totenhaufen zusammen. Nur der dämonische Willensberserker setzt sich mit
buddhagleicher Majestät siegreich darnieder. Die Macht des Todes ist die
Ohnmacht des Menschen.
Jede diesbezügliche bildnerische Formulierung im Nussbaum-Haus ist
allerdings wirkungsstärker als diese elegante Tanzdarbietung des
„übergroßen Gesetzes“ (Wigman) vom Leben und Sterben. Die Dance Company
darf an dem vierteiligen Abend aber noch zeigen, wie sensationell gut sie
ist. Nämlich im Zeitraffertempo das Extremitätengewirbel und die brachial
synchronen Bewegungsabläufe von Marco Goeckes „Supernova“ mit akrobatischem
Wahnwitz über die Bühne jagen – als zittrig finale Energieexplosion vorm
Verlöschen im Nichts.
## Lauer Opferritus
Anschließend reißt Ballettchef Mauro de Candia mit seiner einfallslosen
Bebilderung der „Sacre“-Fassung für zwei Klaviere von Igor Strawinsky
niemanden vom Parkettstuhl. Kein Totentanz ist dieser Opferritus,
stattdessen konfrontiert de Candia uniforme Tänzergruppen in lauen
Arrangements mit Versuchen der Solisten, mal aus der Reihe zu tanzen – was
ein bisschen Unordnung in Zeitlupe zur Folge hat.
Die Kunsthalle hat einen reizvolleren Epilog zu bieten: „Verweile doch (ein
Abgesang)“. Geladen war der kolumbianische Künstler Icaro Zorbar. Er klebte
die Fenster der leeren Dominikanerkirche zu, ließ aber einige Minilücken
frei, sodass nun Lichtpunkte der Wintersonne über die Wände tanzen,
schwebende Staubpartikel werden dazu projiziert. Aus dem Knistern einer
ausgefrästen Holzkohlenschallplatte und zwei elektrischen Gongtönen sowie
reichlich Hall mixt Zorbar noch einen vibrierenden Klang, der das
Kirchenschiff erfüllt.
Im Kreuzgang nebenan sind dazu lustige Totentänze des technischen
Fortschritts zu sehen: Ein mit Kasettenrekorderschrott geschmückter
Ventilator von vorgestern bringt das aus seiner Plastikhülle flatternde
Kasettenband zum Tanzen, daneben drehen Plattenspieler ihre letzten Runden.
Tanz toter Technik, eine nostalgische Geste. Und: Memento mori.
„Danse Macabre“: bis 25. Juni 2017 im Theater Osnabrück, im
Felix-Nussbaum-Haus, im Diözesanmuseum, in der Kunsthalle Osnabrück,
Programm unter [1][www.dansemacabre-osnabrueck.de]
18 Feb 2017
## LINKS
[1] http://www.dansemacabre-osnabrueck.de
## AUTOREN
Jens Fischer
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