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# taz.de -- Ausstellung von Wieland Schönfelder: Untote aus dem 3D-Drucker
> Wieland Schönfelder geht im Haus Coburg in Delmenhorst auf die digitale
> Spurensuche einer futuristischen Oper. Dabei trifft er El Lissitzky.
Bild: „Was ist verloren?“: Szene der Ausstellung in Delmenhorst
Die Sonne vom Himmel zu reißen und sie einzusperren in ein „Haus aus
Beton“? Es ist heute nicht mehr so ganz einfach, das Utopische dieser
Erzählung zu erkennen oder gar nachzufühlen. So richtig leicht hatten es
aber auch 1913 die Zeitgenoss:innen nicht mit dem „Sieg über die Sonne“
– falls sie die futuristische Oper überhaupt zu Gesicht bekamen. Denn nach
nur zwei Skandalaufführungen in Sankt Petersburg verschwand sie direkt
wieder aus dem Spielplan.
Doch der „Sieg über die Sonne“ war und ist ein Schlüsselmoment für die
russische Avantgarde, für die vor- oder frührevolutionäre Kunst in
Osteuropa und – denkt man an die künstlerischen Verflechtungen dieser Zeit
– allgemein für die Kulturgeschichte des 20. Jahrhunderts. Und das nicht
nur, weil ein damals noch recht unbekannter Bühnenbildner und
Lichtregisseur namens [1][Kasimir Sewerinowitsch Malewitsch eben hier sein
erstes „Schwarzes Quadrat“] auf einen Bühnenvorhang malte.
Die kaum aufgeführte futuristische Oper hat jedenfalls Spuren hinterlassen,
in der bildenden Kunst vielleicht noch mehr als im Theater, wie sich auch
in der Ausstellung „Was ist verloren?“ des Berliner Künstlers Wieland
Schönfelder nachverfolgen lässt. In der Städtischen Galerie Delmenhorst
setzt sich Schönfelder mit dem Personal der Oper auseinander – mit einigen
ihrer Figuren und Theo reme – wenn auch auf einem Umweg.
## Menschen als architektonische Körper
Die Sammlung der Delmenhorster Galerie besitzt eine Lithografien-Mappe zur
Oper. El Lissitzky hatte das Original 1923 während eines
Deutschlandaufenthalts angefertigt. Der Avantgardist Lissitzky
interpretierte darin die Menschen als architektonische Körper, als
geometrische Formen und Figuren. Eine ästhetische Zuspitzung, zehn Jahre
nach der Uraufführung 1913 und kurz nach den Umwälzungen der russischen
Revolution.
Der 1985 geborene Schönfelder interessiert sich heute allerdings weniger
für die Details revolutionärer Kunsttheorie als vielmehr für die
Schauspieler:innen von der Bühne, bevor El Lissitzky sie auf dem Papier
zu Dreiecken, Quadraten und Linien werden ließ. Für „Was ist verloren“
birgt Schönfelder die Posen menschlicher Körper aus den Lithografien und
wandelt sie am Computer zu nun wieder dreidimensionalen Modellen um.
Die entsprechen allerdings nicht naturalistisch „echten“ menschlichen
Körpern, sondern sind wiederum nach dem Vorbild hölzerner Gliederpuppen
angefertigt, wie Zeichner:innen sie als Vorlage für realistische
Körperhaltungen verwenden.
Als „fiktiver Regisseur“ bezeichnet sich Schönfelder, der in dieser
Ausstellung ein ganzes digitales Theaterensemble inszeniert, als
Animationsfilm einerseits, aber auch gegenständlich aus dem 3D-Drucker.
Seine seltsamen Figuren verdichten Emotion, Plot und Rolle in einer Pose.
Der Schauspieler:innenkörper erfährt, was der Rolle widerfährt.
Schönfelder kommt übrigens selbst von der Bühne, hat Schauspiel am Wiener
Konservatorium studiert und in zahlreichen Film- und Theaterproduktionen
mitgewirkt, bevor er zur bildenden Kunst überwechselte.
## Metallisch schwer, trotzdem leicht
Das Material seiner Figuren gibt Rätsel auf. Weil der Kunststoff aus dem
3D-Drucker mit Grafit überzogen ist, wirkt er metallisch und schwer, die
akrobatischen Haltungen aber suggerieren Leichtigkeit. Ungenauigkeiten des
3D-Drucks – kleine Überstände oder Rillen auf der Oberfläche – tauchen a…
in der animierten Filmversion der Modelle wieder auf, obwohl doch gerade
das digitale Bild perfekte Oberflächen ermöglicht.
Ist man zunächst leicht irritiert von Schönfelders Ensemble, so gerät man
zunehmend in seinen entrückten Kosmos. [2][El Lissitzkys visuelle
Überbleibsel] eines vorsowjetischen Symbolismus verweisen darin ins Leere,
trudeln durchs dreidimensionale Koordinatensystem des Druckers – die
visionäre Energie der Oper ist als Behauptung allgegenwärtig und
tatsächlich irgendwie auch fühlbar, dabei aber sonderbar ziellos.
„Was ist verloren“, es spukt in dieser Ausstellung. In jeder Puppe und in
jedem Modell scheinen einem Untote zu begegnen. Sie wirken wie Geister
einer unmittelbar bevorstehenden Zukunft, die dann aber doch nicht
eintreten wollte.
21 Dec 2022
## LINKS
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## AUTOREN
Jan-Paul Koopmann
## TAGS
Bildende Kunst
Ausstellung
Installation
3D
Avantgarde
zeitgenössische Kunst
Schwerpunkt Krieg in der Ukraine
Mode
Kunst
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