| # taz.de -- Buch über Kunst und Ideen der Moderne: „Eine lebenssprühende Id… | |
| > Die Moderne war ein Ideengestöber voller Beginnergefühl. Robert Misik | |
| > versucht, diesen Veränderungshunger zu reanimieren. Ein Vorabdruck. | |
| Bild: „Les Demoiselles D`Avignon“ von Pablo Picasso, 1907 gemalt, im MOMA N… | |
| „Ich sah, dass alles getan war. Man musste sich überwinden, eine eigene | |
| Revolution vollbringen und bei null beginnen“, sagte [1][Pablo Picasso] im | |
| Rückblick auf die Jahre eines ästhetischen Umbruches, der Schritt für | |
| Schritt ins Unbekannte führen würde. „Um zu wissen, dass wir Kubismus | |
| machten, hätten wir ihn kennen müssen! Tatsächlich aber wusste niemand, was | |
| das war.“ | |
| Picasso und sein Freund Georges Braque entwickelten stilistische | |
| Neuerungen, die sie zu den bedeutendsten Künstlern des Jahrhunderts machen | |
| sollten. Sie fühlten sich, so drückte es Braque später aus, „wie zwei | |
| Bergsteiger am selben Seil“. Der „Moment des Kubismus“ war „ein Beginn�… | |
| eminenten Sinne, wie das [2][John Berger] nennen wird. | |
| Die Welt in Stücke, das Bild in Scherben, Wahrnehmungsweisen, die alles neu | |
| zusammensetzen. | |
| Die Moderne ist „die Kunst von morgen im Gegensatz zu den konservativen | |
| Geschmäckern von heute“, schrieb Berger in anderem Zusammenhang in einer | |
| schönen Wendung. „Es wäre absurd zu unterstellen, die großen Maler des | |
| letzten Jahrhunderts wären alle Sozialisten, aber was sicher wahr ist, ist, | |
| dass sie alle Erneuerungen brachten in der Hoffnung auf eine reichere | |
| Zukunft.“ | |
| ## Der Zeitgeist der Moderne | |
| Kunst und Revolution, oder anders formuliert: Moderne, Zeitgeist und | |
| radikale Politik, stehen seit gut zweihundert Jahren in einem komplexen | |
| Zusammenhang. Es sind nicht politische Bewegungen oder Parteien, die ein | |
| Zeitgefühl schaffen. Die Wissenschaften erobern der Erkenntnis neue | |
| Kontinente, die Philosophie setzt neue Ideen in den Umlauf, Literatur und | |
| Künste erschaffen neue Wahrnehmungs- und Darstellungsformen, was | |
| „Wirklichkeit“ sei, gerät unter Verdacht. | |
| Technologische Revolutionen, alles beschleunigt sich, die Städte ändern ihr | |
| Antlitz, ein Wandel kommt in Gang, explizite oder implizite Kritik. Vieles | |
| davon geschieht einfach „irgendwie“, als Summe von Kraftfeldern, die | |
| niemand steuern kann. Das, was wir gewohnheitsmäßig den Zeitgeist nennen, | |
| ist nicht zufällig schwer fassbar, es ist eher eine Atmosphäre. | |
| „Es braucht die große tabula rasa, auf der man spielt, das beginnergefühl�… | |
| notiert Bertolt Brecht in sein Arbeitstagebuch. Die moderne Kunst war immer | |
| Schrittmacherin des Fortschritts, weil sie neue Wahrnehmungsformen | |
| durchsetzte. | |
| Literaten und Literatinnen fanden Sprach- und Schreibweisen, die die | |
| politische Pamphletistik beeinflussten. Stilrevolutionen veränderten die | |
| Art, wie wir unsere Welt sehen, aber sie beeinflussten auch Menschenbilder. | |
| Die Introspektion, die Psyche und Gefühlswelten ergründete, brachte den | |
| modernen Individualismus hervor. Sprachrevolutionen sickerten in den | |
| Alltag, beeinflussten die Medien, Bildsprachen breiteten sich von der | |
| Avantgarde ausgehend aus, wurden vom Überraschenden zum Gewohnten. Wo | |
| progressive politische Bewegungen an die Schaltstellen kamen, wie etwa im | |
| Roten Wien, wirkten die Künste über Architektur, Design, neue Stilsprachen | |
| direkt auf Alltag und Lebenswirklichkeit ein. | |
| ## Eine „antibürgerliche Ästhetik“ | |
| Schon der alte Reaktionär Honoré de Balzac lieferte mit seinen Romanen ein | |
| bissiges Gesellschaftspanorama, das als schonungslose Zeitkritik | |
| funktionierte. Marx und Engels priesen Balzac, dessen „tiefe Auffassung der | |
| realen Verhältnisse“. Die bürgerliche Literatur begründete eine | |
| „antibürgerliche Ästhetik“, kritisierte das „niedrige Leben“ der | |
| konventionellen Existenzweisen – wie etwa Gustave Flaubert. | |
| „Die Künstler, die Schriftsteller sind Seismographen gesellschaftlicher | |
| Veränderungen und Erschütterungen“, sollte der große österreichische | |
| Kommunist Ernst Fischer später schreiben, und tragen dazu bei, „die | |
| kapitalistische Welt zu unterminieren“. | |
| Die Sprachrevolutionen der modernen Poesie entwickeln neue Schreibweisen, | |
| Baudelaire preist den „Heroismus des modernen Lebens“, ein Pathos der | |
| „Gegenwärtigkeit“ kommt auf. „Das Neue“ ist nicht bloß ein Attribut, | |
| sondern ein Schlachtruf. | |
| Impressionistisches „Flimmern“, Hass auf die Bourgeoisie, neue Begriffe wie | |
| „Nerven“, „Decadance“, „Tempo“, „Intensität“, „Revolte der J… | |
| prägend. „Wir wollen doch sehn, ob nicht die allermeisten sogenannten | |
| ‚unübersteiglichen Schranken‘, die die Welt zieht, sich als harmlose | |
| Kreidestriche herausstellen“, notiert die phantastische [3][Lou | |
| Andreas-Salomé] und lebt als eine der ersten Frauen dieser Zeit (alternativ | |
| wären George Sand, Louise Aston und einige andere zu nennen) ihr Leben | |
| danach, ein Leben in intellektuellen und Künstlerzirkeln von Friedrich | |
| Nietzsche über Rene Maria Rilke (sie wird ihm den Namen Rainer verpassen), | |
| bis zu [4][Sigmund Freud], dessen späte geistige Wegbegleiterin sie war. | |
| ## Suche nach dem „Eigentlichen“ | |
| Nicht die Wirklichkeit wird abgebildet, sondern die Wirkung, die sie | |
| hervorruft – das ist das Programm der Poesie, aber auch der Malerei und | |
| anderer Künste auf dem Weg in die Abstraktion. Die bildende Kunst wird zu | |
| einer zunehmend „konzeptionellen“ Tätigkeit, in deren Zentrum am Ende nicht | |
| ein Objekt steht, sondern eine Idee. Kubismus, Suprematismus, | |
| Konstruktivismus, Futurismus, brechen sich Bahn, die dann auch die | |
| Alltagsästhetik prägen, die Architektur etwa mit ihrer Ästhetik klarer und | |
| nüchterner Linien bis zu [5][Margarete Schütte-Lihotzkys „Frankfurter | |
| Küche“]. | |
| Die Motive der Kunst sind: Nicht das „falsche Leben“ führen, sondern das | |
| „Eigentliche“, was immer das ist. Nicht im Konventionellen verharren, | |
| sondern neue Bildsprachen, Erzählformen entwickeln. Auch, die Wut | |
| rauslassen. | |
| Die bildenden Künste wenden sich völlig vom Figuralen ab, Kandinsky, | |
| Malewitsch, El Lissitzky treiben auf die Spitze, was die Kubisten begonnen | |
| haben. Allesamt Spezialisten des Von-vorn-Anfangens. Nicht mehr nur alte | |
| ästhetische Formen werden kritisiert, sondern die Institution Kunst selbst, | |
| das ist das Programm der späteren Avantgarde. [6][Marcel Duchamp] wird zum | |
| zweiten großen Künstler des Jahrhunderts, der vielfältigen Wirkungen und | |
| Einflüsse wegen, die er zeitigt – beginnend bei Dada, endend bei Warhol und | |
| der „Gegenwartskunst“ (ein lustiges Wort, denn seit bald 60 Jahren heißt | |
| die Kunst „Gegenwartskunst“, früher hätten in eine solche Spanne locker | |
| fünf Epochen hineingepasst). | |
| ## Überall herrscht Sinnkrise | |
| „Von allen Bewegungen der frühen Avantgarde ist [7][Dada diejenige, die uns | |
| heute noch am meisten zu sagen hat]“, bemerkt Paul Auster. Überall herrscht | |
| Sinnkrise, das Gefühl, dass alles zusammenbricht, und Dadaisten wie Hugo | |
| Ball träumen den Traum „von einer vollkommenen Erneuerung“. Ball trägt | |
| Klanggedichte vor, als Protest gegen eine verdorbene und unmöglich | |
| gewordene Sprache. Daraus entstehen neue Arten von Textformen und | |
| Textflächen, liturgische Leiern, atemloses Gestammel auch, neue Rhythmen | |
| einer musikalischen Literatur. | |
| André Breton fährt im Sommer 1921 nach Wien, um Sigmund Freud | |
| kennenzulernen, kommt aber enttäuscht zurück, weil der Doktor kein | |
| Interesse an seiner Ansicht gezeigt hat, das Unbewusste sei besser als der | |
| bewusste Zustand. | |
| So wie die radikale Politik von einem Zeitgeist lebte, zu dem die | |
| avancierten Künste beitrugen, so lebte auch die radikale Kunst von einem | |
| Zeitgefühl, einem Fortschrittsgefühl, dass das Morgen reicher als das Heute | |
| sein würde. | |
| „Die Moderne war immer noch eine lebenssprühende Idee“, schrieb Susan | |
| Sontag knapp vor der Jahrtausendwende in Rückblick auf die sechziger Jahre. | |
| Es ist ein melancholischer, deprimierter Ton: „Wie sehr man sich wünschte, | |
| dass ein wenig von der Kühnheit, dem Optimismus überlebt hätte.“ | |
| ## Zweifel an der eigenen Wirksamkeit | |
| Irgendwann in den neunziger Jahren kam es auf, dass die Künste die Sorge um | |
| die „Relevanz“ zu plagen begann. Wofür diese „Relevanz“-Diskussionen | |
| natürlich ein Symptom sind, ist der Zweifel an der eigenen Wirksamkeit. | |
| Der „Zeitgeist“ heute ist eher ein Gefühl allgemeiner, gesellschaftlicher | |
| Stockung. Es fehlt nicht an innovativen Form- und Stilfindungen, aber | |
| vielleicht an so etwas wie einem strukturierenden Zentrum in einer | |
| multipolaren Kunstwelt ohne Verbindungsglieder. Der Zeitgeist weht | |
| anderswo. | |
| Bis zu einem gewissen Grad ist die radikale Kunst auch Opfer ihres eigenen | |
| Erfolges. Eine Strategie der „Störung“ dominanter Diskurse, wie sie | |
| beispielsweise Elfriede Jelinek betreibt, ist eine Weise, mit der Lage | |
| umzugehen. Aufgabe wäre, so der [8][Theatermacher Milo Rau], „das Zeitalter | |
| der Skandalisierung zu verlassen, in dem wir Künstler sehr lange festsaßen. | |
| […] Die postmoderne Vernunft gefiel sich sechzig Jahre darin, Institutionen | |
| zu hinterfragen, sie zu dekonstruieren. Ich glaube aber, das reicht nicht | |
| mehr.“ | |
| 16 May 2022 | |
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