| # taz.de -- Erinnern an Ingenieur Paul Jaray: Der Mann der Tropfenform | |
| > Der Name Paul Jaray wurde von den Nazis aus der Geschichte gedrängt. An | |
| > den genialen Ingenieur erinnert eine Ausstellung im Kunsthaus Dahlem. | |
| Bild: Paul Jarays erster Stromlinienrennwagen neben konventionellen Rennautos d… | |
| Das Kunsthaus Dahlem ehrt den genialen Ingenieur und Konstrukteur Paul | |
| Jaray, der selbst ein passionierter Pianist war und vor 100 Jahren mit | |
| seinen aerodynamisch geformten Autos, Flugzeugen und Luftschiffen auch die | |
| notorisch Technik-begeisterten Künstler von Futurismus und Dada entflammte. | |
| Zugleich ist Jarays Lebensgeschichte ein Beispiel dafür, wie sehr sich | |
| nationalsozialistische Propaganda Erkenntnisse und Ergebnisse von Menschen | |
| einverleibte, die sie – kaum an der Macht – als Juden verfolgte und deren | |
| Beitrag sie massiv auszulöschen versuchte. | |
| Bei Jaray ging das bis hin zur Anfechtung von Patenten. Die Ausstellung | |
| „Paul Jaray – Die Vernunft der Stromlinie“ besticht mit einer minutiösen | |
| Aufarbeitung der ästhetischen, der physikalischen und der politischen | |
| Aspekte dieses Erfinderlebens. | |
| Dem idyllischen Kunsthaus Dahlem droht eine Übernahme der besonderen Art. | |
| Sollten die Biker, die sich an jedem Wochenende an der Autobahnbrücke am | |
| Rasthof Grunewald treffen, spitz kriegen, dass nur gute zehn Motorminuten | |
| entfernt eine Ikone des Geschwindigkeitsrauschs gefeiert wird, ist mit | |
| ganzen Karawanen röhrender Motoren auf der Clayallee zu rechnen. | |
| Im Zentrum der vom Philosophen Wolfgang Scheppe kuratierten Ausstellung | |
| steht ein legendäres Objekt: Ein in Originalgröße gefertigtes, silbern | |
| glänzendes Modell des Rennwagens der Auto Union vom Typ B. Es handelt sich | |
| um den ‚Lucca-Wagen‘, der 1935 auf der Autostrada Firenze – Mare einen | |
| Geschwindigkeitsweltrekord von 327 km/h für Verkehrsstraßen aufstellte. | |
| Verantwortlich dafür war neben dem Motor von Porsche und der am Steuer | |
| sitzenden Motorsportlegende Hans Stuck eben auch die aerodynamische | |
| Karosserie. Die war nach Prinzipien Jarays entwickelt. Bereits 1921 hatte | |
| er die Stromlinienform als Patent für Karosserien angemeldet. | |
| ## Die energetisch günstigste Hülle | |
| Über Dokumente in zahlreichen Vitrinen und das äußerst lesenswerte | |
| Begleitheft leitet der für seine „[1][Theorie-Installationen“ bekannte | |
| Philosoph Scheppe] her, wie Jaray von physikalischen Prinzipien her zur | |
| Tropfenform – vorne rund, hinten spitz auslaufend zur Ableitung der Winde – | |
| als der energetisch günstigsten Hülle für durch die Luft bewegte Objekte | |
| gelangte. Jaray entwickelte die Form für die großen deutschen | |
| Automobilfirmen jener Zeit. Am deutlichsten setzte sich das Design in der | |
| Massenproduktion sicherlich beim VW-Käfer, dem damals so genannten „Kraft | |
| durch Freude“-Wagen der NS-Propaganda, durch. | |
| Konkurrierende Autobauer, so mutmaßt Scheppe, wollten vor allem aus | |
| Marketing-Gründen ihre klassischen Formen nicht aufgeben. Und so blieb | |
| Jaray eben nur der Rennsport, und außerdem noch der Flugzeug- und | |
| Luftschiffbau. Jarays Arbeiten dort werden mit Konstruktionszeichnungen und | |
| Fotos von seinen Arbeitsplätzen in der Luftfahrtbranche nachgewiesen. | |
| Jarays Entwürfe zeichnen sich zudem durch eine spektakuläre Ästhetik aus. | |
| Er selbst stammte aus künstlerisch geprägtem Umfeld. Seine Mutter war eine | |
| Verwandte des Komponisten Arnold Schönberg. Sein älterer Bruder Paul, ein | |
| Architekt, versammelte als Mäzen und Verleger die damalige Wiener Künstler- | |
| und Intellektuellenszene um Alban Berg, Ludwig Wittgenstein und Alfred Loos | |
| um sich. | |
| ## Entwicklung eines Rauchkanals | |
| Von Jarays [2][aerodynamischen Objekten fühlten sich wiederum Künstler und | |
| Künstlerinnen von Futurismus, Dada und Konstruktivismus] angezogen. Bezüge | |
| dahin stellt Kurator Scheppe über einen reichen Fundus an Publikationen, | |
| Manifesten und auch Zeichnungen sowie einigen Skulpturen, unter anderem von | |
| Hans Arp, her. | |
| Reizvoll ist auch die Verbindungslinie zum Mediziner und Fotopionier | |
| Etienne Marey. Der entwickelte einen Rauchkanal, als eine Art Vorläufer des | |
| Windkanals. Und auch dort erwies sich – das zeigen Fotos von Marey in der | |
| Ausstellung – die Tropfenform als energetisch günstigste Form. | |
| ## Blankes Entsetzen ob heutiger SUVs | |
| Jaray soll den Aspekt der Energie-Effizienz bei seinen Arbeiten auch stets | |
| betont haben. Bei der heutigen Materialverschleißorgie der SUVs dürfte | |
| diesen vergessenen Pionier des Fahrzeugbaus das blanke Entsetzen packen. | |
| In Vergessenheit geriet er, weil die Nationalsozialisten jegliche | |
| Erinnerung an ihn und seine Beiträge zu solch ikonischen Produkten wie den | |
| „Silberpfeilen“ im Automobilrennsport, dem Käfer oder dem | |
| Zeppelin-Luftschiff, sehr konsequent und gründlich tilgten. Das ging so | |
| weit, dass Propagandaminister Joseph Goebbels bei einer Automobilmesse ganz | |
| eigenhändig das Namensschild von Jaray entfernt haben soll. | |
| Die Geschichte erzählte Kurator Scheppe bei der ersten Station der | |
| Ausstellung vor zwei Jahren in Venedig. Jaray starb verarmt und weitgehend | |
| vergessen 1974 in der Schweiz. „Paul Jaray – Die Vernunft der Stromlinie“ | |
| schlägt zumindest Löcher ins dunkle Feld des Vergessens. | |
| 25 May 2023 | |
| ## LINKS | |
| [1] /Biennale-Venedig-2019/!5594032 | |
| [2] /Visionen-vom-Stillstand/!5779058 | |
| ## AUTOREN | |
| Tom Mustroph | |
| ## TAGS | |
| Auto | |
| Technik | |
| Antisemitismus | |
| Kulturgeschichte | |
| Berlin Ausstellung | |
| Automobilbranche | |
| taz.gazete | |
| NS-Literatur | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Kinder fragen, die taz antwortet: Werden Autos fliegen können? | |
| Wir wollen von Kindern wissen, welche Fragen sie beschäftigen. Jede Woche | |
| beantworten wir eine davon. Diese Frage kommt von Filip, 10 Jahre alt. | |
| Buch über Kunst und Ideen der Moderne: „Eine lebenssprühende Idee“ | |
| Die Moderne war ein Ideengestöber voller Beginnergefühl. Robert Misik | |
| versucht, diesen Veränderungshunger zu reanimieren. Ein Vorabdruck. | |
| Zauberer-Enkelin über ihre Familie: „Ich gruselte mich“ | |
| Birgit Bartl-Engelhardt hat die Chronik ihrer Großeltern János und Rosa | |
| Bartl geschrieben. Die beiden Zauberer führten in Hamburg einen Fachhandel. |