| # taz.de -- Biografie einer Pariser Bohemienne: Königin des Undergrounds | |
| > Mark Braudes Porträt über Kiki de Montparnasse nimmt mit an eine | |
| > Brutstätte zeitgenössischer Künste. Es zeigt, wie Kiki diese geprägt hat. | |
| Bild: Unbekümmert, talentiert, auratisch: Kiki de Montparnasse 1930 | |
| Berlin taz | Wie kommt eigentlich das Neue in die Welt? In den Künsten | |
| entstehen Stilrevolutionen, indem neue Schreibweisen und Sprachformen | |
| erprobt werden, neue Sehweisen, neue Empfindungen, neue Wahrnehmungsweisen | |
| sich durchsetzen. Alle diese Entwicklungen gehen einher mit stetigen | |
| Neuinterpretationen dessen, was Kunst eigentlich sei, bis zu den Readymades | |
| von [1][Marcel Duchamp] und zu Dada, die proklamieren, dass alles „Kunst“ | |
| sein kann. | |
| All das ist wiederum mit vielerlei Kapillaren, mit dem gesellschaftlichen | |
| Wandel verbunden, mit dem „Zeitgeist“, der die Künste prägt und den sie | |
| umgekehrt, auch mit prägen. An manchen Orten bilden sich verdichtete | |
| Atmosphären, in denen sich diese Wechselwirkungen zu Wogen auftürmen. | |
| Mark Braude hat eben mit „Kiki Man Ray: Liebe, Kunst und Rivalität im Paris | |
| der 20er-Jahre“ eine packende, unterhaltsame und gut lesbare Geschichte | |
| eines dieser Brutplätze der Moderne vorgelegt. Hauptfigur ist Alice Prin, | |
| die als Partnerin des legendären Künstlers, Fotografen und | |
| Dada-Wegbegleiters Man Ray eine Zentralfigur der Pariser Bohème war. | |
| Allseits wurde sie Kiki gerufen, nachdem sie es geschafft hatte, in die | |
| Kreise rund um [2][das Café Rotonde] hineinzukommen, und als „Kiki de | |
| Montparnasse“ wurde sie quasi zur Queen des Undergrounds gekürt. | |
| Dabei war sie doppelter Outcast: Einerseits als Bohéme-Figur gegenüber der | |
| konformistischen Bürgerwelt, andererseits als Unterschicht-Geschöpf in den | |
| Künstlerkreisen, die in erheblichem Maße den bürgerlichen Bildungsschichten | |
| entsprangen. | |
| ## Mehr als ein Modell | |
| Alice alias Kiki wurde 1901 als Kind eines unverheirateten Landmädchens | |
| geboren und von ihrer Großmutter gemeinsam mit ihren ebenso unehelichen | |
| fünf Cousins und Cousinen aufgezogen. Die markante Schönheit Kiki war Muse | |
| der Künstler – sie stand Modigliani Modell und vielen anderen Malern, Man | |
| Ray hat mit ihr seinen Stil entwickelt – aber sie war mehr als nur ein | |
| Modell. | |
| Es war eine Generation, die den Krieg gerade überstanden hatte und jetzt | |
| leben wollte, gewissermaßen um jeden Preis. Bereits 1924 schrieb Djuna | |
| Barnes eines ihrer berühmten Frauenporträts über Kiki, in dem es hieß: „In | |
| alten Zeiten war ein Modell nur ein Modell; sie brach die Herzen der | |
| Männer, nicht aber ihre Konventionen.“ | |
| Kiki verwandelte die Modell-Figur von der passiven Figur zum aktiven Typus. | |
| Zu einem Charakter, der Kunst selbst seine Handschrift aufdrückte. Und sich | |
| um Konformismus nichts scherte. „Unbekümmertheit“ taucht wohl nicht | |
| zufällig als eines der ersten Attribute in Barnes' Kiki-Porträt auf. | |
| In den Cafés sang Kiki eigene Lieder und eigene Texte, sie war eine | |
| Künstlerin des Flüchtigen, sammelte danach ein paar Francs und Centimes | |
| ein. Sie wurde sogar zum Vorbild einer Edith Piaf, die später bekundete, | |
| Kikis Talent habe sie in jungen Jahren regelrecht eingeschüchtert. Kiki | |
| malte und schrieb eine Autobiografie, deren englische Ausgabe mit einem | |
| Vorwort von Ernest Hemingway, einer ihrer vielen Bekannten, veröffentlicht | |
| wurde. Arno Breker, der Bildhauer, der später zu Hitlers führendem | |
| plastischen Künstler werden sollte, bewunderte sie und nannte sie | |
| „zweifelsohne die herrlichste (Frau in Paris), ein wahres Phänomen“. | |
| ## Alkohol und Kokain | |
| Um sich bei Laune zu halten und ihre dunklen Stimmungen zu bekämpfen, trank | |
| sie viel. Kokain half auch. André Breton, der Papst der Surrealisten, | |
| Duchamp, Paul Éluard, Georges Braque, der Maler Léger, die ganze Bubble | |
| möblierte ihr Leben. „Kiki war ein Reality-Star in surrealistischen | |
| Zeiten“, schreibt Braude. | |
| Sie hat Spuren hinterlassen, aber in die Kunstgeschichte ging sie nicht | |
| ein, auch, weil die Geschichtsschreibung sich immer noch auf die genialen | |
| Männer konzentrierte, aber auch, weil ihre Kunst eine flüchtige war. Einen | |
| Tanz, eine Pose, einen Gesang, der in Kneipen vorgetragen wird, kann man | |
| nicht verkaufen. Man kann aber eine Fotografie verkaufen, die eine Pose | |
| einfängt. | |
| Sie hatte einen scharfen und auch durchaus kritischen Blick auf die | |
| „Genies“ und aufgeblasenen Wichtigtuer um sie herum. Breton, Tzara, Picabia | |
| und die anderen Dada-Revoluzzer porträtierte Kiki als dumme Kinder aus | |
| guten Familien, die ein gefährliches Spiel spielten, bestens ausgestattet | |
| mit dem Geld ihrer Familien. Sie nennt sie „Leute, die die Bourgeoisie | |
| beschimpften … aber die genau wie die Leute lebten, die sie auf dem | |
| Scheiterhaufen sehen wollten. Mir waren sie zu zynisch. Ich habe sie nie | |
| verstanden.“ | |
| Über Man Ray schrieb sie, sie habe früh gewusst, dass er ein großer | |
| Künstler würde. „Seine besten Fotos hat er mit mir gemacht, er verstand | |
| meinen Körper, meinen Typ. Letzten Endes habe ich, das Modell, sein Genie | |
| zum Vorschein gebracht.“ | |
| ## Die befreite Frau | |
| Man Ray, 1890 in Philadelphia als Sohn jüdischer Einwanderer geboren, | |
| geriet in die Künstlerkreise von New York, lernte dort Duchamp kennen, | |
| verschiffte sich mit diesem später nach Paris, wo er die Fotografie | |
| revolutionieren, neue Techniken entwickeln und auch den Avantgardefilm | |
| prägen würde. Er überschritt alle Genres, und auch die Generationen. | |
| Jahrzehnte später machte er sogar noch für die Rolling Stones | |
| Cover-Entwürfe, namentlich für das Album Exile on Main Street. Wenige Jahre | |
| vor seinem Tod porträtiert ihn Andy Warhol. Da war er schon ein | |
| schelmischer Alter. | |
| Alice Prin alias Kiki de Montparnasse war das nicht vergönnt. Im Rückblick | |
| schrieb sie, im Grunde hätten sie und andere weibliche Personen der Bohème | |
| das Konzept der befreiten Frau erfunden, „aber wir waren uns dessen gar | |
| nicht bewusst.“ | |
| Djuna Barnes beschrieb sie als eine, die „das Establishment in ihren | |
| wirbelsturmartigen Streifzügen aus den Angeln hob“. In einem | |
| zeitgenössischen Zeitungsbericht ist über die Untergrund-Königin zu lesen: | |
| „Ihr Name wird vielleicht nicht in die Annalen der Kunst eingehen, aber sie | |
| verschaffte einer jungen Generation Träume, indem sie ihr Unterhaltung | |
| schenkte“. Kiki war damals noch keine dreißig Jahre alt. Bald geht sie in | |
| das über, was sie die „Dämmerung ihres Lebens“ nennt. | |
| Verarmt, kaputt, von Alkohol und Drogen ruiniert stirbt Kiki früh, | |
| vergessen, mit nur 52 Jahren. | |
| 10 May 2023 | |
| ## LINKS | |
| [1] /Duchamp-Ausstellung-in-Frankfurt/!5850928 | |
| [2] https://de.wikipedia.org/wiki/Caf%C3%A9_de_la_Rotonde | |
| ## AUTOREN | |
| Robert Misik | |
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