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# taz.de -- Russlands ungeliebte Moderne: Von der Ikone zur Ruine
> Einst die radikalste Umsetzung modernen Wohnes, heute eine Ruine: Das
> Moskauer Narkomfin-Gebäude steht für das Schicksal der russischen
> Moderne.
Bild: Vorne: das ungeliebte Narkomfin-Gebäude, hinten: ein glänzender Stalin-…
Moskau taz | Die Nummer 25 auf dem Nowinski-Boulevard unweit der
Metro-Station Barikadnaja ist nicht leicht zu finden. Dabei gehörte das
Haus zu den schönsten der Stadt: Im Sommer kann man in einem halblegalen
Café auf dem Dach Instantkaffee trinken. In den Zwanzigern war das Haus
weltberühmt, denn es ist eine Ikone der modernen Architektur. Heute ist es
eine Ruine.
Gebaut wurde das Gebäude mit Gemeinschaftsblock und 54 Duplexwohnungen von
1927 bis 1930 von dem Architekten Moisei Ginzburg für die höheren
Angestellten des Kommissariats für Finanzen, kurz: Narkomfin. Es gilt als
radikalste Umsetzung eines modernen Wohnkonzeptes. „Diese Periode war die
wichtigste der russischen Architektur überhaupt“, sagt Alexei Ginzburg, der
Enkel des Architekten und nun selbst Architekt des neuen Eigentümers. „Aber
bis heute gilt sie als die hässlichste.“
In Russland hat der Konstruktivismus einen schlechten Ruf. Die
stalinistische Diskreditierung der Avantgarde war so nachhaltig, dass, als
Narkomfin 1931 bezugsfertig war, seine Zeit bereits vorbei war. Und sie kam
nie wieder. Und nur langsam erwacht ein neues Interesse an moderner
Architektur.
An einem eiskalten Nachmittag steht ein Dutzend Leute vor der Nummer 25.
Sie haben sich zu einer Führung von „Moskau durch die Augen der Ingenieure“
angemeldet, einem Projekt, in dem Studierende durch Avantgarde-Bauten
führen. Einige schauen kritisch die Fassade hinauf: Dicke Risse zerteilen
den Beton, und aus den Balkonen sind große Stücke gebrochen. Schwer
vorstellbar, das hier Menschen leben und arbeiten.
## Die russische Avantgarde setzte Maßstäbe
„Narkomfin ist Ginzburgs absolutes Meisterwerk“, sagt Daria Sorokina. Die
30-jährige Kunsthistorikerin führt durch das Gebäude. Etwas Besonderes sind
die Duplexwohnungen in verschiedenen Größen – vom großen Typ A bis zum
legendären, nur 41 Quadratmeter kleinen F-Typ. Die Raumaufteilung war hier
ganz anders als in den Kommunalkas, den Gemeinschaftswohnungen der 1930er.
„Die Idee war kein utopischer Lebensstil, sondern eine Antwort auf die
Bedürfnisse moderner Menschen“, erklärt Ginzburg.
Russland hat hier ganz eigene Maßstäbe gesetzt: vor allem die Whutemas –
höhere künstlerisch-technische Werkstätten –, die schon 1927 geschlossene
Kunsthochschule, die als Äquivalent des Bauhauses gilt. Neben hoher
Funktionalität bedeutete das auch einen Rückzugsraum, ein privates Bad,
eine Küche. Und günstig musste es sein. Nach 1917 schließlich war Wohnraum
knapp und Beton teuer.
„Ginzburg senkte die Kosten durch eine radikale Ökonomie des Raums“, sagt
Sorokina. Narkomfin hat fünf Stockwerke, aber nur zwei Korridore. Der
Architekt kippte die eineinhalbgeschossigen Wohnungen über den Flur nach
oben und unten. Die Türen sind deshalb weiß und schwarz, immer im Wechsel.
Sorokina schließt eine von ihnen für die Gruppe auf. Über eine niedrige
Treppe tritt man in den Wohnraum – drei wandbreite Fensterreihen reichen
vier Meter hoch. Eine enge Treppe höher liegt das niedrige Schlafzimmer.
Die Wohnung ist perfekt: klein, kompakt und trotz der Baufälligkeit
vollkommen durchdesignt.
## Le Corbusier war fasziniert
Auch Le Corbusier hatte Narkomfin bei seinen Besuchen in der Sowjetunion
studiert. Die Duplexwohnungen übernahm er 20 Jahre später im Unité
d’Habitation in Marseille. Narkomfin ist das erste Gebäude, in dem dessen
fünf Punkte für eine neue Architektur realisiert wurden – von den Pfosten,
auf denen das Gebäude saß, über das begehbare Dach bis zur freien
Grundrissgestaltung.
Der Schlüssel für die neue Freiheit war das Betonskelett. Ginzburg hat die
Reduktion des Materials perfektioniert: Statt Wände und Decken in einem
Stück zu gießen, wurden hohle Betonblöcke verbaut. In ihnen verschwand die
Elektrik. Als Dämmmaterial dienten gepresste Naturstoffe. Was von ihnen
übrig geblieben ist, hängt heute feucht aus Wandritzen.
Auch der Innenraum war radikal anders. Alle Möbel waren von der Whutemas
designt und gefertigt worden, etwa eine Narkonfin-Küche, die in einer Art
Schrank versteckt werden konnte. Die Idee eines wandelbaren Raums, wie sie
das Bauhaus propagierte, war in den 1920ern vollkommen neu. Als besonders
radikal galt die Farbgestaltung. Hinnerk Scheper vom Bauhaus Weimar hatte
lange experimentiert, um die Räume optisch zu strecken. „Boden und Decke
waren hell gestrichen, der Wohnraum war in warmen, das Schlafzimmer in
kalten Tönen“, sagt Sorokina. Sie zeigt Bilder, auf denen die Wände lila
bis hellblau bemalt sind.
Im fünften Stock liegt der zweite Flur, lang und mit schwarzen Säulen und
Fenstern zur Straße. Hier wird der Zerfall deutlich: Viele Doppelfenster
sind gesprungen, Ritzen wurden mit Bauschaum ausgesprüht, um die Kälte
draußen zu halten. Trotzdem weht ein eisiger Wind hindurch. An der Wand
kleben Zettel: „Rauchen im Haus verboten. Strafe: 5.000 Rubel“. Dutzende
freie Kabel und offenen Anschlüsse im Flur unterstreichen das Verbot.
## Die BewohnerInnen sind verunsichert
Eine Frau in Jogginghosen tritt aus einer F-Wohnung. Sie wohnt dort seit
vielen Jahren. Ob sie weiß, was mit dem Gebäude geschehen wird? Hier werde
ein Hotel gebaut, ist sie sich sicher. Andere reden von einem
Fitnesscenter. Seit Jahren leben die BewohnerInnen in Unsicherheit, nach
zig Eigentümerwechseln weiß hier niemand etwas Genaues.
An die vor Jahren verkündete Restaurierung scheint aber keiner zu glauben.
In Russland ist das so eine Sache mit dem Denkmalschutz. Anders als in
Europa gibt es dort ein lokales und föderales Punktsystem, das die
Schutzwürdigkeit bewertet – auch Deko-Elemente zählen. „Für die Avantgar…
ziemlich gefährlich“, sagt Sorokina dazu nur.
Narkomfin jedenfalls gilt seit zehn Jahren als Architekturmonument.
Geholfen hat das nicht viel. Es gab wilde bauliche Veränderung, aber vor
allem zerfiel das Gebäude. Die Unseco zählt es seit Jahren zu den
gefährdetsten Kulturdenkmälern. Dass dem so ist, liegt ausgerechnet an der
Stadt – jahrelang blockierte die als Eigentümerin von Gemeinschaftsblock
und Erdgeschoss die Restaurierung. „Eine Zusammenarbeit war unmöglich“,
erinnert sich Ginzburg. Die Befürchtung lag nahe, dass die Stadt am Gebäude
festhält, bis es abgerissen werden müsse. Der Baugrund ist extrem lukrativ.
1995 hatte sich eine US- Firma in den Wohnkomplex eingekauft. 2005 übernahm
die Investmentfirma Kopernik zwei Drittel der Wohnungen – 15 Millionen
Dollar wollte sie investieren, aber dann kam die Wirtschaftskrise.
## Die Stadt blockierte die Renovierung
2015 kaufte die weitgehend unbekannte Liga Prava unter dem Geschäftsmann
Garegin Barsumyan die Anteile auf und ersteigerte im Sommer die 1.600
Quadratmeter der Stadt – für nur 1,5 Millionen Euro. Unter ihrem Dach hatte
sich eine Eigentümergemeinschaft gebildet, die eine Restaurierung wünscht.
95 Prozent des Hauses gehören ihr. „So nahe waren wir der Restaurierung
noch nie“, sagt Ginzburg.
Und tatsächlich, anders als bei Dutzenden anderen Moskauer
Konstruktivismusbauten wie die Telefonstation, die aufgekauft, geräumt und
abgerissen wurden, könnte am Nowinski-Boulevard die Arbeit beginnen. Das
vielfach ausgezeichnete Büro von Alexei Ginzburg hat Erfahrung mit
aufwendigen Instandsetzungen. Narkomfin aber ist eine Herausforderung.
Über Konstruktion und Materialien weiß man schlicht nicht viel. Mit neuer
Technik ist es nun möglich geworden, die Wände für Studien anzubohren. So
viel immerhin scheint nach monatelanger Vorarbeit klar zu sein: Der
Stahlbeton ist in guter Verfassung. Beschädigte Teile können Stück für
Stück ersetzt werden. Genauso wie die verzogene vierstöckige Glasfassade
des kommunalen Blocks. Dort brach vor Jahren der Schornstein durch das
Dach. Ginzburg ist überzeugt, dass er auch das retten kann – zu einem
Preis, der geheim bleibt.
Die Arbeiten hatten eigentlich schon im Herbst beginnen sollen. Bisher aber
ist im Gebäude Narkomfin alles wie gehabt. Wer es am schlecht gelaunten
Wachmann im Erdgeschoss vorbeischafft, kann das Dachcafé besuchen, und
Daria Sorokina führt mehr und mehr Interessierte durch das zerfallende
Gebäude – seit Neuestem auch auf Englisch.
„Niemand weiß, was hier passieren wird“, sagt sie und zuckt mit den
Schultern. Vielleicht, so hofft sie, wird das steigende internationale
Interesse den Druck auf den Investor erhöhen.
17 Mar 2017
## AUTOREN
Sonja Vogel
## TAGS
Russland
Architektur
Moderne
Le Corbusier
Brutalismus
Bauhaus
Denkmalschutz
Architektur
Kunst
Russland
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