# taz.de -- Idee einer kollektivistischen Gesellschaft: Leben im Einheitsgrau | |
> Erstmals erhält ein Umbauprojekt den Mies van der Rohe Award. Er geht an | |
> ein Sanierungskonzept für eine einst utopische Wohnburg in Amsterdam. | |
Bild: Der Brutalismus hat auch seine grünen Seiten | |
In Bijlmermeer, ein unter Touristen weitgehend unbekannter Stadtteil im | |
Südosten Amsterdams, leben heute 150 unterschiedliche Nationalitäten. | |
Allerdings war 1965, als das Modell-Viertel fertiggestellt wurde, von | |
Multikulti noch keine Spur. Tatsächlich war Bijlmermeer das größte | |
sozialutopische Experiment in der Geschichte der Niederlande. Leider ein | |
gescheitertes. Die Sache mit der Modellstadt mag man heute kaum glauben, | |
und doch trifft es zu, dass Bijlmermeer in den Zeiten des Kalten Kriegs mit | |
visionärem Überschwang für 100.000 Menschen gebaut wurde. | |
„Anfang der sechziger Jahre“, meint der Architekt Guus Peters, der sich mit | |
Bijlmermeer jahrelang auseinandersetzte, „ging die Amsterdamer Baubehörde | |
davon aus, dass die Altstadt für die wachsende Einwohnerzahl keine | |
lebenswerten Bedingungen bereitstellt. Das Verkehrsnetz war veraltet und | |
chaotisch. Deswegen ersannen die Stadtarchitekten eine neue Stadt, eine | |
riesige Satellitenstadt im äußersten Südosten. Ihre Leitvorstellung war: | |
Jeder ist gleich und jeder sollte die gleichen Möglichkeiten haben.“ | |
Tatsächlich wurde Bijlmermeer in den Zeiten des Wirtschaftswunders eine | |
höchst geordnete und ordentliche Stadt. 17.000 Familien aus der | |
holländischen Mittelklasse wurden Appartements in den wabenförmig | |
gestalteten Megawohnblocks angeboten – mit nahezu identischen | |
Grundrissen, mit internen endlosen Wegeachsen, die entlang der Wohnblocks | |
direkt zu den riesigen Parkhäusern der automobilen Stadt führen. Doch die | |
Stadtplaner wurden von der rückläufigen demografischen Entwicklung und der | |
Ölkrise von 1973 überrascht. | |
Der belgische Architekt Jürgen Vandewalle, der die Geschichte der Siedlung | |
erforschte, sagt heute: „Bijlmermeer war ein Produkt des CIAM, der | |
internationalen Architekten-Avantgarde, der sich viele Holländer | |
angeschlossen hatten. In einem gewaltigen Streich wollte man sich damals | |
des gewaltigen Wohnungsproblems entledigen. Nicht nur die Kleinteiligkeit | |
der Altstadt war ihnen ein Graus, auch die nach dem Kriege errichteten | |
Gartenstädte im Westen Amsterdams. Die Architekten träumten vom großen | |
Wurf, von einer Stadt mit riesigen Wohnscheiben und erdrückender | |
Uniformität.“ Die Amsterdamer Stadtplaner um Projektleiter Siegfried | |
Nassuth übernahmen völlig unkritisch Le Corbusiers funktionelles | |
Stadtmodell, das eine Trennung von Wohn-, Arbeits- und Freizeitsektoren | |
vorsieht. | |
Bijlmermeer war in den sechziger Jahren der ziemlich autoritäre Versuch, | |
innerhalb der kapitalistischen Wirtschaftsordnung den Nukleus einer | |
kollektivistischen Gesellschaft zu gründen. Zwar plante man zahlreiche | |
Grün- und gemeinschaftsorientierte Freizeitflächen. Doch die mächtigen | |
Baufirmen machten den idealistischen Stadtplanern einen Strich durch die | |
Rechnung. Guus Peters: „Die Baufirmen verringerten einfach die Zahl der | |
Aufzüge, erhöhten die Geschosszahl und begrenzten die Grünflächen. Das | |
geschah eindeutig aus Rentabilitätsgründen, ohne dass die Stadtverwaltung | |
irgendetwas dagegen unternehmen konnte.“ | |
Mit den gravierenden Planungsmängeln hatte Peters in den letzten Jahren zu | |
kämpfen. Er renovierte Kleiburg, die eindringlichste Hinterlassenschaft aus | |
den Jahren des sozialutopischen Experiments: „Kleiburg ist der größte | |
Wohnblock in den ganzen Niederlanden mit insgesamt 500 Wohneinheiten. Er | |
blieb von den vielen Hochhausscheiben übrig, die in den letzten Jahren | |
abgerissen oder renoviert wurden.“ | |
Im Kleiburg-Block und in Bijlmermeer kondensieren sich die | |
wirtschaftlichen und sozialen Wechselfälle der niederländischen | |
Gesellschaft. Die Mittelständler zogen während der Wirtschaftskrise aus, | |
und als Surinam 1975 unabhängig wurde, zog es Tausende aus der einstigen | |
holländischen Kolonie ins vermeintliche Siedlungsparadies. Erst nach und | |
nach wurde den Holländern klar, dass das Paradies eine Kopfgeburt von | |
Schreibtischfunktionären war. | |
Durch soziale Verelendung und anonyme Lebenswirklichkeit wurde Bijlmermeer | |
zum Ghetto. Zwar existierte eine Metro-Anbindung, aber ein Viertel mit | |
funktionierender Infrastruktur, mit Geschäften, Kneipen, Restaurants und | |
Freizeittreffs war Bijlmermeer nie. Hier lebten die Menschen auf einem | |
anderen Planeten. Als in den neunziger Jahren Meldungen über die in Holland | |
höchste Kriminalitäts- und Arbeitslosenrate und Pressefotos von | |
verwahrlosten Appartements kursierten, in denen sich mehrere Familien | |
einquartierten, um die teuren Mieten bezahlen zu können, war das Entsetzen | |
groß. | |
Jürgen Vandewalle kommentiert die Entwicklung: „Seit 1992 wurden hier | |
13.000 Wohneinheiten abgerissen, das macht 50 Prozent des gesamten | |
Gebäudebestands aus. Ein neuer Masterplan sah vor, durch Abriss zahlreicher | |
Superblocks und durch Errichtung von viergeschossigen Wohnhäusern, die von | |
Grünflächen und Wasser umgeben sind, das Viertel für die Mittelschicht | |
wieder attraktiv zu machen.“ Dieser Prozess zog sich fast 20 Jahre hin. | |
In den letzten Jahren, erzählt Guus Peters, standen in dem Viertel die | |
Renovierungen der verbliebenen Megablocks an: „Eine Wohnungsgenossenschaft | |
übernahm in den Krisenjahren die Leitung von Kleiburg. Anfangs entschied | |
die Genossenschaft, das Appartement-Monstrum einfach abzureißen, weil die | |
Renovierung für geschätzte 70 Millionen Euro zu teuer war. Allein für den | |
Abriss waren sieben Millionen Euro notwendig. Schließlich bot man die | |
Appartements für einen symbolischen Euro zum Kauf an.“ | |
## Mehr Freiheit wagen | |
Peters beschreibt das Genossenschaftsmodell als „Do-it-yourself-Methode“. | |
Die beauftragten Architekten von NL Architects sollten lediglich einige | |
konstruktive Verbesserungen durchführen: Die außen liegenden Aufzüge ins | |
Gebäudeinnere verlegen, Stellflächen für Fahrräder vom Erdgeschoss ans Ende | |
der Blocksegmente verlegen, großzügige Passagen durchs den Baukörper | |
schlagen und das Erdgeschoss für Wohnungen öffnen. Dagegen blieb die | |
Wohnungsrenovierung den neuen Eigentümern überlassen. „Wir wollten weg vom | |
groß angelegten sozialistischen Entwurf der sechziger Jahre. Die Menschen | |
sollten mehr Freiheit erhalten.“ | |
Der Kleiburg-Block verblieb als einziger unter den renovierten Wohnblocks | |
im ursprünglichen Zustand. Die Architekten, die durch Rem Koolhaas’ | |
Rotterdamer Kaderschmiede hindurchgingen, wollten jeden Postmoderne-Kult, | |
der noch in den Köpfen verblieb, austreiben: „Wir wollten die Schönheit des | |
modernistischen Betonbrutalismus freilegen und keineswegs die Uniformität | |
des Ganzen übertünchen.“ | |
Kleiburg war das letzte Relikt aus der Zeit des heroischen | |
funktionalistischen Städtebaus. Daher ließ Peters den weißen Farbanstrich | |
entfernen, um den grauen Waschbeton wieder sichtbar zu machen. Für ihn | |
liegt darin ein Bekenntnis zur ursprünglichen Materialität. „Im Gegensatz | |
zu den vergangenen Verschönerungsaktionen wollten wir herausfinden, was wir | |
am besten mit dem Superblock anstellen können und wie sich der monumentale | |
Eindruck durch einfache architektonische Eingriffe mildern lässt.“ | |
Für Kleiburg beginnt derweil eine neue Zeitrechnung: Den Galerietrakt, an | |
dem sich noch immer endlos die Wohnungen aneinanderreihen, gestalteten die | |
neuen Eigentümer nach eigenen Vorstellungen – mit Sitzbänken und Pflanzen. | |
Individuelle Lebenswelten sprießen aus dem Einheitsgrau. Das ist die | |
eigentliche Überraschung von Bijlmermeer. Völlig zu Recht wurde die | |
wegweisende Renovierung kürzlich mit dem Mies van der Rohe Award belohnt, | |
dem wichtigsten Architekturpreis Europas. Das macht Mut, denn mit „Hollands | |
neuem Wohnungsmodell“, so Peters, „zeigen wir, wie sich das Leben der | |
Menschen durch einfache Mittel verbessern lässt“. | |
28 Jul 2017 | |
## AUTOREN | |
Klaus Englert | |
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