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# taz.de -- Wohnsiedlung aus den 1970ern in Wien: Das Dorf im Hochhaus
> Während andere Großsiedlungen bereits wieder abgerissen wurden, feiert
> der Wiener Wohnpark Alt Erlaa sein 40-jähriges Bestehen.
Bild: Detailansicht eines Terassenhauses in Alt Erlaa
Jeder Wiener kennt sie, die drei parallelen, 300 Meter langen und bis zu 94
Meter hoch aufragenden Häuserzeilen von Architekt Harry Glück. Bis zum
Hochhausboom der 1990er Jahre waren sie die höchsten Wohnbauten der
Donaumetropole, und noch heute prägen sie die Silhouette der Stadt: die
Blöcke A, B und C des Wohnparks Alt Erlaa mit insgesamt 3.200 Wohnungen.
Während zeitgleich andere Großsiedlungen entstanden, die schon nach Kurzem
als öde Schlafstädte oder soziale Brennpunkte verrufen waren, wurde Alt
Erlaa ab 1976 als beinah autarkes Wohnviertel mit der kompletten sozialen
und kommerziellen Infrastruktur für insgesamt 10.000 Menschen bezogen – und
ist bis heute die größte nichtkommunale Wohnanlage Österreichs.
„Besuchern kommt es oft komisch vor, dass sich die Leute hier alle grüßen�…
nennt Susanna Röser eine der vielen Ausprägungen des für Wien untypischen
Zusammenlebens in Alt Erlaa. Auch dass die 88-Jährige so gut wie jeder im
Wohnpark kennt, zeugt von der großen Vertrautheit innerhalb der
Großsiedlung – obschon Frau Röser über ihren liebevollen Beinamen
„Wohnparkmama“ nie so richtig glücklich war.
1976 kam sie als erste Hausverwalterin nach Alt Erlaa, übergab Tausenden
von Bewohnern die Schlüssel zu ihren Wohnungen und bezog selbst eine
Garçonnière im 12. Stock von Block A. „Das Interessante ist, dass sich der
nachbarschaftliche Umgang miteinander nicht auf die Erstbezieher
beschränkt. Die zweite und dritte Generation hat das übernommen, und auch
von denen, die später hierher gezogen sind, schätzen die meisten die fast
dörfliche Atmosphäre.“
## Vier Quadratmeter Erde
Die unmittelbarste Erfahrung von „Landleben in der Stadt“ stellt für die
Häfte aller Mieter aber ihr eigener „Garten“ dar, den Harry Glücks Konzept
des Terrassenhochhauses ermöglicht. Im Bestreben, vielen Großstädtern eine
leistbare Alternative zum Häuschen im Grünen zu bieten, hat der heute
91-jährige Architekt die unteren zwölf Etagen seiner sich nach oben hin
verjüngenden Bauten Stock für Stock zurückversetzt und jeder der ost-
beziehungsweise westorientierten Wohnungen eine großzügige bepflanzbare
Terrasse unter freiem Himmel vorgelagert.
Jede Terrasse ist entlang der gesamten Brüstung mit großen Trögen
ausgestattet, die mit einer Erdfläche von knapp vier Quadratmetern für
deutlich mehr als ein paar Balkonblumen Platz bieten. In der
Vegetationszeit setzt sich die Landschaft im Wohnpark so die Fassaden
entlang bis in eine Höhe von 40 Metern fort. Nicht umsonst bezeichnen viele
Bewohner die drei Gebäudezeilen als gestapelte Reihenhäuser.
Ab der 13. Etage verjüngen sich die Blöcke nicht mehr und reichen bis in
das 22. oder 26. Vollgeschoss hinauf. Hier verfügen so gut wie alle
Wohnungen über eine geräumige Loggia. Was in anderen Siedlungen laut
Susanna Röser gang und gäbe sei, nämlich „Satellitenschüsseln auf Balkone…
oder „Loggien als Rumpelkammern“, findet sich in Alt Erlaa so gut wie
nirgends: „Unsere Pflanzentröge bilden eine ganze Arche Noah. Im Frühling
blühen da Obstbäume, Büsche und Blumen, es wachsen Beeren, Heilpflanzen und
Küchenkräuter, es gibt Tomaten, Paprika, Gurken, Radieschen – ich kenne
kein heimisches Gewächs, das ich auf den Terrassen noch nicht gesehen habe.
Auch die Loggien sind voll mit Topfpflanzen – und man kann von dort an
schönen Tagen sogar die Alpen sehen.“
## Planschen wie die Reichen
Auf Ebene 23 beziehungsweise 27 schließlich hat Harry Glück seine zum
Markenzeichen gewordenen Dachschwimmbäder errichtet. Der Anspruch „Wohnen
wie die Reichen“, den der Architekt auch in sozialen Wohnbauten wie Alt
Erlaa erhebt, erfüllt sich spätestens hier oben, wenn man in rund 90 Metern
Höhe aus dem Wasser steigt und einem ganz Wien zu Füßen liegt.
Ein Luxus ist auch die Betreuung der Anlage durch die im Wohnpark
stationierte Hausverwaltung mit 50 Mitarbeitern aus allen Gewerken, die
sich um die Instandhaltung der Freizeit- und Sportanlagen ebenso kümmern
wie um die Pflege der Grünflächen oder die Wartung der 52 Aufzüge. Ihr
24-Stunden-Service ist für Susanna Röser ein wichtiger Teil der
„einzigartigen Lebensqualität“ in Alt Erlaa – und genauso wie die
Dachschwimmbäder nur durch die große Zahl an Nutzern finanzierbar.
Ungewöhnlich ist auch das Vereinsleben im Wohnpark, das in einer
funktionierenden Dorfgemeinschaft nicht reger sein könnte.
Infolge ihrer Terrassierung weisen die drei Wohnblöcke in den unteren
Geschossen eine Trakttiefe von bis zu 50 Metern auf, was im Gebäudeinneren
große Bereiche ohne Tageslicht mit sich bringt. Harry Glück nutzte diese
Volumen, um eine Vielzahl von 60 Quadratmeter großen Raumeinheiten für
Gemeinschaftseinrichtungen zu schaffen. Zum einen wurden darin sieben
Hallenschwimmbäder, Saunen und Solarien, Dampfkammern und Fitness-Center
sowie acht Kinderspielräume untergebracht.
## Keine Abschottung
Zum anderen übergab man die Zellen im Rohzustand an mehr als 30 Vereine aus
dem Wohnpark – die Palette reicht von Tischtennis, Schießsport, Jiu Jitsu
und Gymnastik über Tanzsport und Theater bis hin zu Schach, Bridge und
Philatelie, Keramik, Handarbeit und Modellbau. Die Clubs sind auch offen
für Mitglieder von außerhalb des Wohnparks, der sich zu keiner Zeit
gegenüber seinem Umfeld abgeschottet hat – auch wenn ihm oft das Gegenteil
unterstellt wurde.
Der Vielfalt an gemeinschaftlichen Einrichtungen steht die Ausstattung mit
öffentlichen und kommerziellen Angeboten in nichts nach. Quer zu den drei
Wohnblöcken schuf Harry Glück eine Versorgungsachse, die eine Kirche,
Kindergärten, Schulen, einen Jugendclub, zwei große Sporthallen und als
Zentrum der Anlage den sogenannten Kaufpark umfasst. Das barrierefreie
zweigeschossige Einkaufszentrum umschließt einen urbanen Platz, gesäumt von
Läden wie Cafés, und zählt insgesamt 45 Händler und Dienstleister. Ein
Dutzend Gastronomen, ein Ärztezentrum, einige Büros und Kanzleien sowie
eine städtische Bücherei ergänzen das Angebot.
Auch damit hat sich Alt Erlaa von einer vermeintlich auf sich bezogenen
Satellitenstadt zu einem Bezirkszentrum entwickelt. Da Harry Glück die
Baumasse im Wesentlichen auf die drei Terrassenhäuser konzentrierte,
blieben trotz der hohen Einwohnerdichte beinahe zwei Drittel des 20 Hektar
großen Areals unbebaut. Das Freihalten des parkartig gestalteten Freiraums
von oberflächigem Autoverkehr ermöglichen den Kindern und Jugendlichen in
Alt Erlaa einen gefahrlosen Schulweg sowie einen quasi uneingeschränkten
Bewegungsraum.
## Bei jungen Leuten Kult
Trotz allem wurde das Großprojekt von Anfang an als unmenschlicher Wohn-
und Städtebau angefeindet – weniger von der breiten Bevölkerung als von der
Wiener Architektenschaft und dem Architekturfeuilleton, die sich freilich
kaum einmal die Mühe gemacht hatten nachzuschauen, was hinter den
funktionalistischen Fassaden steckt. Erst in den letzten Jahren schlossen
die Baukünstler und Kritiker ihren Frieden mit dem Großarchitekten und
seiner Siedlung, die junge Planer inzwischen wieder als Inspiration sehen.
2004 veröffentlichte die Stadt Wien eine sozialwissenschaftliche Analyse
der Wohnzufriedenheit ihrer Bürger im geförderten Wohnbau: Unter allen
ausgewählten Anlagen ging der damals schon 30 Jahre alte Wohnpark als
Sieger hervor – selbst bei der Frage nach der architektonischen
Erscheinung. „Ich weiß gar nicht, warum vielen Außenstehende den Wohnpark
hässlich finden“, wundert sich auch Susanna Röser. „Mir gefällt er. Und
dieser 70er-Jahre-Stil ist bei den jungen Leuten doch heute wieder Kult.“
21 Aug 2016
## AUTOREN
Reinhard Seiß
## TAGS
Sozialer Wohnungsbau
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