# taz.de -- Genossenschaftswohnungen in München: Solidarität mit Ablaufdatum | |
> 2030 laufen die Erbpachtverträge der Eisenbahnergenossenschaften aus. In | |
> München fürchten die ersten Mieter, bald alles zu verlieren. | |
Bild: Die Bundesregierung verrät nicht, wie viele Genossenschaftswohnungen vor… | |
München taz | Mitten in München in bester Lage im eigenen Garten zu sitzen, | |
das ist, nun ja, irgendwie dekadent. Könnte man meinen. München, das ist | |
schließlich das Eldorado der Miethaie, die Stadt, in der alle leben wollen | |
und es sich doch keiner leisten kann, die Heimat von Managern, Zahnärzten | |
und Anwälten. Für normale Menschen ist hier längst kein Platz mehr, und | |
wenn doch, dann irgendwo draußen, in den Bezirken, die man früher | |
Glasscherbenviertel nannte. | |
Und doch, nicht immer trifft das Klischee zu: Petra Kozojed und ihr | |
Lebensgefährte Vincent Münscher sitzen mitten in Neuhausen, einer gefragten | |
Wohngegend im Herzen der Stadt, mit ihrer Nachbarin Petra Maier in deren | |
Garten. Eine Friseurin, eine freie Journalistin und ein Kunstdingmacher, | |
wie er sich selbst nennt. Alles andere als Spitzenverdiener oder reiche | |
Erben. Die Stühle sind aus Plastik, die Hollywoodschaukel hat schon bessere | |
Tage gesehen. Aber der Garten steht in voller Blüte, die Vögel zwitschern, | |
hin und wieder fällt eine Birne vom Baum. Ein Idyll. Noch. | |
[1][Möglich macht es das Genossenschaftswesen.] Die drei wohnen in einer | |
Wohnanlage der Baugenossenschaft München-West des Eisenbahnerpersonals. | |
Zwei Blocks, insgesamt 503 Wohnungen. 1908 wurde die Genossenschaft vom | |
Stellwerksmeister Wolfgang Früchtl und ein paar Dutzend Mitstreitern | |
gegründet, heute ist die Straße, die zwischen den beiden Blocks | |
entlangführt, nach Früchtl benannt. Noch immer wohnen hier zu einem großen | |
Teil Bahnmitarbeiter oder pensionierte Bahnbeamte. Nur wenn eine Wohnung | |
frei und kein Eisenbahner interessiert ist, wird sie auch mal im Internet | |
angeboten. Länger als ein paar Stunden steht die Anzeige dort nie. | |
Petra Maier wohnt hier schon seit 1993. Rund 60 Quadratmeter. Plus Garten. | |
Bis sie den bekommen hat, stand sie allerdings erst mal zehn Jahre auf der | |
Warteliste. „Ich bin Genossin mit Leib und Seele“, sagt Maier. „Ich finde, | |
das ist das genialste Geschäftsmodell für Wohnen.“ Damals arbeitete sie bei | |
der Sparda-Bank, einst ebenfalls eine Eisenbahnergenossenschaft, das ebnete | |
ihr [2][den Weg in die Baugenossenschaft]. Petra Kozojed lebt mit Vincent | |
Münscher im anderen Block. Sie ist vor elf Jahren eingezogen. 50 | |
Quadratmeter, zwei Zimmer, Küche Bad – und eben der kleine Friseursalon. | |
Next Door heißt er. | |
## Die Regierung weicht aus | |
Für ihre Wohnung zahlt Maier zwölf Euro pro Quadratmeter, Kozojed etwas | |
mehr. Das ist günstig für Münchner Verhältnisse, ein Schnäppchen ist es | |
nicht. Die Mieten seien sukzessive an den Mietspiegel angepasst worden, | |
erzählt Maier. „Die Leute denken ja immer, wer eine Genossenschaftswohnung | |
hat, der wohnt im Paradies. Das ist nicht so.“ Zufrieden sind sie dennoch, | |
denn sie haben das, was die Politiker in ihren Reden stets fordern und | |
„bezahlbaren Wohnraum“ nennen. Und wer hat das schon in München? | |
[3][Doch jetzt hat die Idylle ein Ablaufdatum aufgedrückt bekommen.] Denn | |
die Wohnungen gehören zwar der Genossenschaft, nicht aber der Grund, auf | |
dem sie stehen. Der gehört dem Bundeseisenbahnvermögen (BEV), einer | |
Gesellschaft des Bundes, die im Zuge der Bahnprivatisierung ehemaliges | |
Bahneigentum verwaltet und – wenn möglich – zu Gold macht. Sprich: Wenn die | |
Erbpacht ausläuft, muss dass BEV laut Bundeshaushaltsordnung zum | |
bestmöglichen Preis verkaufen. Bei den Neuhausenern ist das 2030 der Fall. | |
Dann könnte ihnen der Boden unter den Häusern weggezogen werden. | |
Die Mieter sind damit unter den ersten, aber nicht die einzigen | |
Betroffenen. Die Grünen-Bundestagsabgeordnete Daniela Wagner aus Hessen | |
hat dazu jüngst eine Anfrage an die Bundesregierung gestellt, wollte | |
wissen, wie viele Mieter von Genossenschaftswohnungen demnächst vor | |
demselben Problem stehen dürften. Die Regierung antwortete in weiten Teilen | |
ausweichend, immerhin aber war zu erfahren, dass insgesamt 90 | |
Eisenbahnergenossenschaften und 64 andere sogenannte Erbbaurechtsnehmer | |
ihre Wohnanlagen auf Liegenschaften des BEV stehen haben – die allermeisten | |
davon in Bayern und Nordrhein-Westfalen. Wie viele Wohnungen das allerdings | |
sind und wann die jeweilige Erbpacht ausläuft, das wird nicht verraten. | |
Allein in München gibt es zwölf solche Eisenbahnergenossenschaften, und von | |
einigen von ihnen war bereits zu hören, dass sie vor demselben Problem | |
stehen. Jeder Fall ist anders gelagert. Die finanzielle Situation der | |
Genossenschaften ist sehr unterschiedlich, manche könnten den Grund wohl | |
auch aus eigener Kraft kaufen. Das Problem der Baugenossenschaft | |
München-West: Sie hat bereits vor Jahren tief in die Tasche gegriffen, um | |
das Grundstück einer anderen Wohnanlage zu kaufen, jetzt stottert sie noch | |
die Schulden ab. | |
## Fatales Gutachten | |
„Wir haben dann gefragt, ob wir auch diese Grundstücke kaufen können“, | |
erzählt Maier. „Aber dann kam das fatale Ergebnis des Gutachters: Der hat | |
7.000 Euro pro Quadratmeter veranschlagt, insgesamt 126,5 Millionen Euro. | |
Plus 2 Prozent Inflationsausgleich und zahlbar 2025. Für uns ist das nicht | |
finanzierbar.“ Und doch hat die Genossenschaft einen Vorverkaufsvertrag | |
unterschrieben – aus Angst, der Preis könne sonst noch weiter steigen. | |
Das sei ein Fehler gewesen, sagt Diana Stachowitz. Seit Monaten schon ist | |
die SPD-Landtagsabgeordnete an dem Thema dran. Um bessere Bedingungen | |
auszuhandeln, müsse die Genossenschaft nun erst mal wieder aus dem Vertrag | |
rauskommen. Dazu müssten aber beide Seiten einvernehmlich davon | |
zurücktreten. Stachowitz hat bereits diverse Minister angeschrieben, | |
darunter auch den für das BEV zuständigen Bundesverkehrsminister Andreas | |
Scheuer und den Bauminister Horst Seehofer. Immerhin: Seehofer versprach, | |
in dieser Sache auf das Verkehrsministerium zuzugehen. Scheuer jedoch | |
schweigt. Auch der örtliche CSU-Bundestagsabgeordnete Stephan Pilsinger | |
reagiert nicht auf Anfragen. | |
Als die Mieter sich vor ein paar Wochen vor Petra Kozojeds Friseursalon zu | |
einer Protestaktion versammelt haben, ist auch Dieter Janecek | |
vorbeigekommen, um seine Solidarität zu zeigen. Janecek ist der örtliche | |
Bundestagsabgeordnete der Grünen. Auch für ihn steht fest: Jetzt ist die | |
Bundespolitik am Zug. Dreh- und Angelpunkt ist die Bundeshaushaltsordnung. | |
Sie müsse geändert werden. | |
Das könne der Bundestag mit einfacher Mehrheit verabschieden und auf diese | |
Weise verfügen, dass das Bundeseisenbahnvermögen nicht nur zum Höchstpreis | |
verkauft werden darf. Dann könnte man den Genossenschaften finanziell | |
entgegenkommen, so dass diese die Möglichkeit haben, die Grundstück selbst | |
zu übernehmen, oder zumindest wäre die Bemessungsgrundlage für eine | |
Fortsetzung der Erbpacht für sie günstiger. | |
## Heikles Thema | |
Immer wieder sind auch andere Ansätze im Gespräch, beispielsweise, dass die | |
Stadt oder der Freistaat die Grundstücke erwerben könnten. Schließlich hat | |
Ministerpräsident Markus Söder gerade erst eine Wohnungsoffensive gestartet | |
und eine eigene Wohnungsbaugesellschaft ins Leben gerufen. Die Stadt könnte | |
zudem über eine Erhaltungssatzung versuchen, die Bewertung des Grundstückes | |
und damit den Preis zu drücken. „Klar, bayerische und Münchner Lösungen | |
hören sich zunächst gut an“, sagt Janecek, „wären aber letztlich wohl | |
schwer umsetzbar.“ | |
Er sei nicht völlig pessimistisch, sagt Janecek, schließlich sei die CSU | |
auf kommunaler Ebene ebenfalls daran interessiert, dass der Grund nicht | |
meistbietend verhökert werde und die Mieter dann das Nachsehen hätten. | |
Vielleicht, so die Hoffnung, lenkt nun auch CSU-Minister Scheuer ein. | |
Außerdem stehe das Thema Wohnen ja im bayerischen Landtagswahlkampf im | |
Mittelpunkt. Umso wichtiger sei es nun, den Druck aufrechtzuerhalten. | |
„Scheuer muss sich jetzt dazu bekennen, ob er Handlungsspielraum sieht und | |
wie groß der ist.“ | |
Wohnen ist ein heikles Thema, im Wahlkampf will sich jeder zumindest | |
gesprächsbereit zeigen. Auch ein Dringlichkeitsantrag der Grünen im | |
Landtag, wonach sich der Freistaat auf Bundesebene dafür einsetzen soll, | |
die Genossenschaftswohnungen zu erhalten, wurde von der CSU-Mehrheit nicht | |
abgeschmettert, sondern in die Ausschüsse verwiesen. Man habe das Problem | |
nun zumindest erkannt, sagt die Sozialdemokratin Stachowitz. „Wenn es | |
jetzt drei CSUler – Seehofer, Scheuer und Söder – nicht schaffen, für | |
München so wichtigen bezahlbaren Wohnraum zu erhalten, dann weiß ich auch | |
nicht mehr.“ | |
Die Mieter in Neuhausen haben indes schon den Worst Case vor Augen: 2030 | |
geht der Grund an einen privaten Investor, und nach ein paar Jahren | |
Mieterschutz werden die Bewohner der Häuser raussaniert. Um das Schlimmste | |
abzuwenden, haben sie sich nicht nur hilfesuchend an Politiker aller | |
Parteien gewandt, sondern auch Protestaktionen organisiert und eine | |
Petition an den Bundestag gestartet. Dabei, und das ist ihnen wichtig, geht | |
es aber nicht nur um die 503 Wohnungen ihrer Genossenschaft – sondern auch | |
um die anderen betroffenen Genossenschaften in Deutschland. „Die schauen | |
jetzt alle auf uns“, sagt Petra Maier, „weil wir die Ersten sind.“ | |
6 Aug 2018 | |
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## AUTOREN | |
Dominik Baur | |
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