# taz.de -- Interview mit Senatorin Regine Günther: „Wir brauchen eine mobil… | |
> Die neue Verkehrssenatorin hat einen Konflikt und eine Chance geerbt: Das | |
> Fahrradgesetz kann der Startschuss zur Neudefinition des Berliner | |
> Verkehrs sein | |
Bild: Das muss noch reibungsloser werden: Verkehrsarten im Konflikt | |
taz: Frau Günther, wie lange sind Sie schon auf Berlins Straßen unterwegs? | |
Regine Günther: Ich wohne hier mit Unterbrechungen seit 1986 und kenne mich | |
gut aus. | |
Hat sich Ihre Perspektive als Verkehrssenatorin verändert? | |
Ich bin früher viel mehr mit dem ÖPNV oder dem Fahrrad gefahren oder zu Fuß | |
gegangen. Heute muss ich mehr den Dienstwagen nutzen, auch weil der eine | |
Art zweites Büro ist. Da merke ich schon viel unmittelbarer, wie lange man | |
im Stau steht und dass das für die Betroffenen ein echtes Problem ist. In | |
der wachsenden Stadt müssen wir zu einem anderen, reibungsloseren | |
Miteinander kommen. Veränderungen für alle Verkehrsträger stehen also an. | |
Sie haben im Dienstwagen mehr Empathie für Autofahrer entwickelt? | |
Bei mir hat es den Blick geschärft. Aber man muss nicht im Auto sitzen, um | |
zu wissen, dass zu viele Pkws auf den Straßen unterwegs sind – und dass wir | |
eine mobilere Stadt brauchen, in der alle in kürzerer Zeit sicherer und | |
bequemer von A nach B kommen. Das packen wir an, kurzfristig und in | |
längerfristiger Perspektive durch den Umbau der Infrastruktur. | |
Autofans würden sagen: Es sind nicht zu viele Autos unterwegs, es braucht | |
mehr, breitere und bessere Straßen. | |
Das wird nicht funktionieren. Wie wollen Sie etwa die Leipziger Straße | |
breiter machen? In Berlin können Sie ja nicht, wie auf dem flachen Land, | |
einfach noch eine weitere Spur neben eine vierspurige Straße bauen. Wir | |
haben hier ein Verteilungsproblem, zumal immer mehr Menschen in die Stadt | |
kommen und auch die Pendlerströme aus dem Umland bewältigt werden müssen. | |
All diese Menschen und ihre Bedürfnisse müssen wir in den Blick nehmen, die | |
ÖPNV-Nutzer, die Fußgänger, die Rad- und die Autofahrer. Konkret ist schon | |
seit Längerem klar, dass viel mehr Menschen Fahrrad fahren. Aber es gibt | |
dafür keine gute Infrastruktur. Die wollen wir jetzt verbessern und | |
sicherer machen. | |
Sie führen Gespräche über ein Fahrradgesetz mit den Aktivisten vom | |
„Volksentscheid Fahrrad“. Die fühlen sich aber von Ihnen und Ihrer | |
Verwaltung nicht wirklich wertgeschätzt. Fremdeln Sie denen gegenüber? | |
Gerade die Initiative Volksentscheid Fahrrad hat sehr viel dazu | |
beigetragen, Dynamik in das Thema zu bringen. Warum sollten wir da | |
fremdeln? Auch viele Grüne waren daran beteiligt, die große Zahl von | |
Unterschriften zu sammeln, da gibt es eine sehr große Überlappung. Wenn es | |
stimmen sollte, dass die Initiatoren Wertschätzung vermissen, kann ich | |
nicht erkennen, woran sie das festmachen. Im Dialog Radgesetz spielt die | |
Initiative natürlich eine große Rolle. Aber man muss die ganze | |
Stadtgesellschaft einbeziehen, wenn man einen solchen Prozess aufsetzt. | |
Dazu gehören auch der ADFC, der BUND, die Koalitionsfraktionen und meine | |
Verwaltung mit ihrem Know-how. Es haben in sehr kurzer Zeit schon sehr | |
viele Gespräche stattgefunden. Nach meiner Einschätzung sind wir | |
augenblicklich auf einem konstruktiven Weg. | |
Sie hätten auch sagen können: Es gibt den Gesetzentwurf der Initiative. Der | |
ist in Teilen nicht rechtskonform, aber den nehmen wir und machen ihn fit. | |
Aber wäre das für alle Beteiligten eine Option gewesen? Ich bin seit über | |
20 Jahren in solche Prozesse involviert und habe noch nie erlebt, dass man | |
die Vorlage eines der „Stakeholder“ nimmt und sagt: Daran arbeitet ihr euch | |
jetzt alle ab. Das wäre nicht auf viel Akzeptanz gestoßen. Jetzt können | |
alle gleichberechtigt ihre Anliegen einbringen, und für die Vorarbeit der | |
Initiative ist natürlich so viel Raum vorhanden, wie gewünscht wird. | |
Der „Volksentscheid Fahrrad“ hat 100.000 BerlinerInnen im Rücken, das ist | |
eine nicht zu vernachlässigende Größe. | |
Wir vernachlässigen sie auch nicht. | |
Hakt es denn noch an Grundsatzfragen oder nur beim Wie, Wann und Wie viel? | |
Der Dialog hat verschiedene Etappen. Jetzt schauen wir uns an, welche Ziele | |
wir teilen, da gibt es bereits einen langen Katalog. Welche genauen | |
Ausprägungen das dann bekommt, ob es unterschiedliche Auffassungen oder | |
rechtliche Bedenken gibt, muss dann besprochen werden. Im Moment kann ich | |
Ihnen noch gar nicht sagen, ob es überhaupt hakt. Wir sollten dem Prozess | |
jetzt den notwendigen und ruhigen Raum geben. | |
Der Zeitplan ist ja ambitioniert: Bis Ende März soll der Gesetzentwurf | |
stehen. | |
Das haben wir so aufgesetzt, und es wäre günstig, wenn der Zeitplan | |
eingehalten werden könnte. Sollten aber mehr Gespräche nötig sein, werden | |
wir auch das ermöglichen. | |
Die Initiative behält sich weiterhin vor, das Projekt Volksentscheid | |
wiederaufzunehmen. Setzt Sie das unter Druck? | |
Jeder kann bei solchen Fragen tun, was er für richtig hält, das ist ein | |
demokratisches Recht. Ich kann niemanden davon abhalten, einen anderen Weg | |
einzuschlagen. Aber wir wollen ein Radgesetz mit breiter Akzeptanz und | |
arbeiten sehr ernsthaft daran, dass alle relevanten Kräfte der | |
Stadtgesellschaft ihre Ideen einbringen, damit das Gesetz ambitioniert wird | |
und wir es schnell auf den Weg bringen. | |
Der ADAC sitzt nicht am Tisch, der gehört auch zur Stadtgesellschaft. | |
Es wird einen Mobilitätsbeirat geben, an dem alle Gruppen beteiligt sein | |
werden. Das wird kein exklusiver Zirkel. Das Dach für das Radgesetz ist ja | |
das geplante Mobilitätsgesetz. In anderen Teilen dieses Gesetzes wird es um | |
die Fußgänger gehen, auch das noch zu überarbeitende ÖPNV-Gesetz kommt | |
unter dieses Dach, ebenso wie voraussichtlich ein Teil zu innovativer | |
Mobilität. Mit dem Radgesetz haben wir angefangen, weil es in der | |
Koalitionsvereinbarung so prominent auf Frühjahr 2017 terminiert ist. | |
Wird es wieder einen Fahrradbeauftragten geben? In der | |
Koalitionsvereinbarung zumindest steht davon nichts. | |
Wenn viel dafür spricht, wäre ich nicht dagegen. Man muss aber erst mal | |
definieren, welche Rolle er haben soll und kann. | |
Was darin steht, ist, dass Berlin den Straßenraum zugunsten von ÖPNV, | |
Fahrrad und Fußgängern umverteilt. Wie viel Platz werden Sie den Autos | |
wegnehmen? | |
Wir sind gerade im Prozess, die Infrastruktur zu schaffen, um Alternativen | |
zum Auto anzubieten. Weniger Autos zu fordern, ohne dass es einen besser | |
ausgebauten, dichter getakteten ÖPNV gibt oder schnellere und sicherere | |
Radwege, ist schwierig. Diese Alternativen hängen eng damit zusammen, dass | |
Nutzer auch umsteigen wollen. Wenn Sie 20 Minuten auf die S-Bahn warten | |
müssen oder die Autos zu dicht und zu schnell am Radstreifen vorbeifahren, | |
vergeht die Lust darauf. Das muss alles besser ineinandergreifen, und dazu | |
braucht es zugegebenermaßen Zeit. Wenn dann aber mehr Menschen umsteigen, | |
werden weniger Autos auf der Straße sein. Mir geht es auch nicht nur um | |
weniger Autos. | |
Nein? Worum denn? | |
Um die Verbrennungsmotoren. Die sollten in der Stadt perspektivisch nicht | |
mehr vorkommen. Wir müssen auch die Voraussetzungen dafür schaffen, dass | |
schmutzige zu sauberen Autos werden. Dazu gehört, dass wir mehr Ladesäulen | |
aufstellen, aber auch dass die Autoindustrie endlich liefert. Wir haben im | |
absoluten Hochpreissegment den Tesla und auf der anderen Seite Kleinwagen | |
verschiedener Hersteller. Aber den typischen Mittelklassewagen als Elektro- | |
und Hybridfahrzeug mit angemessener Reichweite haben wir von deutschen | |
Herstellern immer noch nicht. Die deutsche Industrie hinkt hinterher. Ich | |
hoffe, es stimmt, was die Hersteller sagen: dass sie in zwei, drei Jahren | |
solche Modelle auf den Markt bringen. | |
Ihr Staatssekretär Jens Holger Kirchner wird mit dem Satz zitiert, Autos | |
würden auf Hauptstraßen nur noch eine Fahrspur bekommen. Richtig? | |
Dieser locker formulierte Halbsatz wurde medial maximal aufgepustet. Es | |
werden sicher nicht alle Hauptstraßen einspurig. Was wir jetzt machen, sind | |
Pilotvorhaben wie in der Frankfurter Allee. Dort haben wir drei Spuren für | |
Kfz pro Richtung, und eine wird auf 900 Metern stadtauswärts zu einer | |
bestimmten Zeit für Fahrräder reserviert. Mittelfristig soll das auch in | |
der Schönhauser Allee passieren. Dann prüfen wir, wie es sich bewährt hat | |
und inwieweit das auf andere Straßen übertragen werden kann. | |
Viel Raum verbrauchen parkende Autos. Ihre Vorgänger Müller und Geisel | |
hatten einen „Masterplan Parken“ versprochen. Der wurde jahrelang | |
verschleppt und kam am Ende nie. Liefern Sie den nach? | |
Das Thema ist wichtig, auch für den Radverkehr, wo mehr Raum für | |
Abstellanlagen benötigt wird. Ob es jetzt einen Masterplan geben wird, kann | |
ich Ihnen nach acht Wochen im Amt noch nicht sagen. | |
Noch ein Schocker für Autofahrer: Sie haben neue Tempo-30-Abschnitte an | |
Hauptverkehrsstraßen angekündigt, um die Stickoxidbelastung zu senken. Wann | |
geht das los? | |
Das ist schon losgegangen. Auf hoch belasteten Abschnitten in der | |
Größenordnung von 22 bis 29 Kilometern liegen die Emissionen doppelt so | |
hoch wie der Grenzwert. Und Stickoxide sind sehr stark | |
gesundheitsgefährdende Reizgase. Da müssen wir reagieren. Auch weil ein | |
Vertragsverletzungsverfahren der EU läuft und uns Gerichte zwingen, endlich | |
die Gesundheit der Bevölkerung zu schützen. Mittelfristig ist die Antwort | |
klar: Wir steuern um, bauen den ÖPNV aus, schaffen eine bessere | |
Radinfrastruktur, Dieselfahrzeuge dürfen nicht mehr in die Stadt. Aber wir | |
können nicht 20.000 bis 25.000 Leute, die an diesen Abschnitten wohnen, auf | |
einen Zeitpunkt in fünf Jahren vertrösten. Tempo 30 dauert bis zur | |
Umsetzung nur 4 bis 6 Monate. | |
Und es hilft, wenn die Autos ein bisschen langsamer fahren? | |
Es geht um die Verstetigung des Verkehrsflusses. Inwieweit wir die | |
Emissionen damit in Richtung Grenzwerte herunterbringen, werden wir | |
beobachten. Sicherlich wären andere Maßnahmen wirkungsvoller. Aber der Bund | |
unter Minister Dobrindt hat 2016 die Blaue Plakette blockiert, was ein | |
riesiger Fehler war. Wir versuchen jetzt, mit dem ungenügenden | |
Instrumentenkasten der Länder und Kommunen, die Handlungsdefizite des | |
Bundes zu beheben und diese besonders gesundheitsgefährdenden Autos | |
temporär und erkennbar aus der Innenstadt herauszuhalten. Die Kommunen sind | |
in der bizarren Lage, dass der Bund Anreize für Dieselautos gibt und EU und | |
Gerichte sie nun zwingen, genau diese Autos wegen ihrer | |
gesundheitsschädlichen Abgase nicht mehr in die Städte zu lassen. | |
Willkommen in Schilda. | |
Setzt sich Berlin im Bundesrat für die Blaue Plakette ein? | |
Ja, wir werden das versuchen. Mir wird oft entgegengehalten, dass Maßnahmen | |
gegen Dieselautos unsozial seien, da gerade weniger begüterte Menschen | |
diese Autos viel nutzen. Ich kann nur darauf verweisen, dass die, die an | |
den belasteten Hauptstraßen wohnen, auch nicht die Privilegierten der | |
Gesellschaft sind und ich es schon als meine Aufgabe begreife, diese | |
Menschen vor Gesundheitsrisiken zu schützen. | |
Ist der Verkehr zentral für Berlins Klimaziele? | |
Wenn wir den Verkehrssektor nicht angehen, gelingt uns die Dekarbonisierung | |
nicht. Wenn wir bei der Strom- und Wärmeerzeugung nichts tun, ebenso wenig. | |
Die Emissionen aus Verkehr und Energie sind infrastrukturgetrieben, das | |
heißt, sie haben lange Vorlaufzeiten. Wenn wir jetzt nicht handeln, | |
erreichen wir unsere Ziele für 2050 nicht. Und die für 2030 auch nicht. | |
28 Feb 2017 | |
## AUTOREN | |
Claudius Prößer | |
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