# taz.de -- Debatte Martin Schulz und Hartz IV: Wie sozial ist er? | |
> Kanzlerkandidat Schulz will Teile der Agenda 2010 zurücknehmen. | |
> Entscheidend wird, ob ihm ein Kurswechsel gelingt. | |
Bild: Zur Glaubwürdigkeit gehört, dass Martin Schulz genauer sagt, wie er Sch… | |
Nicht einmal mehr 7 Monate vor den kommenden Bundestagswahlen wird die | |
Politik noch einmal aufgemischt. Dies ist der SPD mit der überraschenden | |
Kanzler-Rochade von Sigmar Gabriel zu Martin Schulz gelungen; und zwar mit | |
keiner geringeren Botschaft als dem Verbalangriff auf die Agenda 2010. Ob | |
dies allerdings bis zu den Bundestagswahlen am 24. September trägt, ist | |
noch nicht ausgemacht. | |
Zum einen sind die Töne anderer SPD-Granden bei näherem Hinhören eher | |
verhalten. Zum anderen haben die Arbeitgeber und ihre Freunde in der | |
CDU/CSU bereits zum Gegenangriff geblasen. Entscheidend ist jedoch zum | |
Dritten, ob es Martin Schulz gelingt, einen grundlegenden Kurswechsel zu | |
der neoliberalen Agenda-Politik für die von ihm propagierte | |
Wiederherstellung sozialer Gerechtigkeit glaubwürdig zu vermitteln. | |
Auch Schulz versäumt es nicht, die wirtschaftlichen Vorzüge von Schröders | |
Agenda 2010 zu betonen. Er verspricht jedoch im nächsten Atemzug mit | |
unerwarteter „Chuzpe“, einige der schlimmen Giftzähne zu ziehen, wie | |
insbesondere die drastische Senkung des Arbeitslosengeldes oder die | |
ausufernde Befristung bei Neueinstellungen, die vor allem für jüngere | |
Menschen eine Planung von Arbeit und Leben kaum möglich macht. Auch für | |
andere sozial gebeutelte Personengruppen hat er längst überfällige | |
Vorschläge in seinem politischen Köcher: das Rentenniveau soll stabilisiert | |
und eine Mindestsicherung im Alter eingeführt werden. Für Familien und | |
Kinder verspricht er eine gebührenfreie Bildung von der Kita bis zur | |
Universität; Fort- und Weiterbildung sollen Arbeitnehmerrechte werden und | |
Betriebsräte in ihrer betrieblichen Arbeit besser geschützt werden. | |
## Die soziale Spaltung nimmt zu | |
Zur Glaubwürdigkeit wird allerdings auch gehören, dass er genauer sagt, was | |
er damit meint und wie er dies umsetzen will. Da reicht es nicht, dass er | |
seine Parteifreundin und Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles auffordert, | |
dazu Vorschläge auszuarbeiten. Ihre bisherigen Vorstellungen zum Beispiel | |
zur Stabilisierung des Rentenniveaus oder zur solidarischen | |
Lebensleistungsrente werden kaum große Begeisterung bei Arbeitnehmern und | |
Rentnern auslösen. Insgesamt fehlen Vorschläge zu einer sozial gerechten | |
Finanzierung, die endlich die Plünderungen der Sozialversicherung beenden, | |
wie bei der Mütterrente, der 63er-Regelung oder der gerade beschlossenen | |
Ost-West-Angleichung. Vor allem muss das ungerechte sowie löchrige | |
Steuersystem wieder vom Kopf auf die Füße gestellt werden. | |
Trotz mehr als tausend Seiten teurer vom Steuerzahler finanzierter | |
Gutachten ist bis heute nicht geklärt, wie die Beschäftigungswirkungen der | |
Agenda 2010 einzuschätzen sind. Von einem zweiten Beschäftigungswunder | |
sprechen die Agenda-Nutznießer in Wirtschaft, Politik, Wissenschaft und | |
Gesellschaft. In der Tat ist die Arbeitslosigkeit von über 5 Millionen in | |
der Spitze Anfang 2006 auf inzwischen unter 3 Millionen zurückgegangen und | |
die Beschäftigung erreicht mit 43,6 Millionen Rekordniveau. Was allerdings | |
schamhaft verschwiegen wird: die Arbeitszeit liegt noch unter dem Stand von | |
1990 und entsprechend sind auch die Einkommen niedrig geblieben. 40 Prozent | |
der Bevölkerung haben im vergangenen Vierteljahrhundert keinerlei | |
Wohlstandszuwachs erreichen können, 10 Prozent mussten sogar empfindliche | |
Einkommensverluste hinnehmen. | |
Langzeitarbeitslosigkeit, prekäre Beschäftigung, Niedriglöhne bis zu Armut | |
bei Arbeit und im Alter sind in vergleichsweise kurzer Zeit und | |
überdurchschnittlich hohem Ausmaß gestiegen. Dabei hat die skandalöse | |
Explosion der Minijobs im Zuge der Hartz-Gesetze einen wesentlichen Anteil. | |
Mit über 7 Millionen sind über ein Fünftel der abhängig Beschäftigten, | |
davon zwei Drittel Frauen, in dieser Armutsfalle gefangen. 20 Prozent der | |
Menschen am unteren Rand der Gesellschaft wissen vielfach nicht, wie sie | |
überleben sollen. Dies gilt inzwischen auch für viele junge Menschen. | |
Obdachlosigkeit und Ansturm auf gemeinnützige Tafeln oder Kleiderkammern | |
sind schon längst keine Randerscheinungen mehr, sondern nehmen im | |
öffentlichen Leben nicht nur in den Ballungszentren erschreckend zu. | |
## Generalrevision von Hartz IV | |
Dabei ist dies keinesfalls ein Zufallsergebnis, vielmehr zu erwartende | |
Folge dieser neoliberalen „Medizin“ gegen die hohe Arbeitslosigkeit durch | |
die auf die Entlastung der Wirtschaft bei den Arbeitskosten gezielten | |
Agenda 2010. Als Gegenstück gehörten dazu auch großzügige Steuergeschenke | |
für die Wirtschaft und die erhebliche Absenkung des Spitzensteuersatzes bei | |
der Einkommensteuer von 53 auf 42 Prozent. Die Wirtschaft nahm diese | |
Entlastungen gerne in Anspruch, allerdings ohne die erwartete Gegenleistung | |
von mehr Arbeitsplätzen zu erbringen, die sie lieber in das kostengünstige | |
Ausland verlagerten. Die SPD erhielt die Quittung und musste sich 2005 aus | |
der Regierungsverantwortung in NRW sowie im Bund verabschieden. | |
In Wirtschaft, Wissenschaft und Politik formieren sich die altbekannten | |
Truppen gegen die Verlängerung des Arbeitslosengeldes als ökonomisches | |
Teufelszeug. Dabei steigt trotz ständiger Beschwörungen des | |
Arbeitskräftemangels die Arbeitslosigkeit der über 55-Jährigen seit Jahren | |
erheblich an. Zudem ist Armut bei Arbeit unter den über 55-Jährigen in | |
Deutschland stärker ausgeprägt als in den übrigen EU-Staaten und liegt | |
gleichauf mit Italien. Entsprechend hoch ist auch die drohende Altersarmut. | |
Notwendig ist eine Generalrevision von Hartz IV. Arbeitslose mit vorheriger | |
Erwerbstätigkeit müssen wieder einen Anspruch auf Eingliederung in Arbeit | |
sowie Arbeitslosenunterstützung in den Arbeitsagenturen erhalten. Damit | |
würden sie von Stigma und Defiziten der Jobcenter befreit. | |
Patchwork-Aktionismus kleiner oder größerer Schritte der Verlängerung von | |
Arbeitslosengeld I reicht nicht aus. Seinen Feldzug für soziale | |
Gerechtigkeit wird Martin Schulz nur dann glaubwürdig durchhalten können, | |
wenn ihn die Initiatoren und Architekten der Agenda 2010, die in „Amt und | |
Würden“ die Geschicke der SPD seit Jahren lenken, dabei ohne Ranküne | |
unterstützen. | |
Lesen Sie auch: [1][Wahlkampf-Konzept der SPD – Das Schulz-Katapult] | |
26 Feb 2017 | |
## LINKS | |
[1] /Wahlkampf-Konzept-der-SPD/!5383930/ | |
## AUTOREN | |
Ursula Engelen-Kefer | |
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