| # taz.de -- Diskriminierung bei der Mütterrente: Mütter zweiter Klasse | |
| > In Osnabrück wehren sich Adoptivmütter dagegen, dass sie keine | |
| > Mütterrente bekommen. Ihre Kinder waren schon zu alt, als sie in die | |
| > Familien kamen. | |
| Bild: Hatten Union und SPD bei den Sondierungen nicht auf dem Zettel: Adoptivm�… | |
| Hannover taz | Gerade aus dem Kinderheim in die neue Familie gekommen, | |
| schlug die Tochter von Helga Bausch* immer wieder mit dem Kopf auf den | |
| Boden und weinte. „Sie hatte einen Trotzkopf“, sagt Bausch. Anders konnte | |
| sich das damals 14 Monate alte Mädchen noch nicht äußern. Die Familie, die | |
| sie adoptiert hatte, war fremd für sie, die ganze Umgebung ungewohnt. | |
| „Ich hatte damals viele Schwierigkeiten mit meinen Kindern“, sagt Bausch, | |
| die auch ihren Sohn adoptiert hat, über die 70er-Jahre. Bereut hat die | |
| heute 77-Jährige die Adoptionen nicht, zu beiden Kindern hat sie ein enges | |
| Verhältnis. Aber es ärgert sie, dass der Staat ihre Erziehungsleistung | |
| nicht anerkennt – mit der sogenannten Mütterrente. | |
| Den zusätzlichen Rentenpunkt, also einen Aufschlag auf die monatliche Rente | |
| (siehe Kasten), bekommt der Elternteil, der sich um ein Kind zum Zeitpunkt | |
| seines zwölften Lebensmonats gekümmert hat. | |
| Für viele Adoptivmütter ist aber genau das ein Problem, denn die Kinder | |
| kommen häufig erst zu einem späteren Zeitpunkt in die neuen Familien. | |
| Obwohl die Kinder dann zwar schon älter sind, bedeutet das für die Eltern | |
| aber nicht weniger Betreuungsaufwand. | |
| „Das Jugendamt hat mir damals dringend nahegelegt, meine Arbeit ruhen zu | |
| lassen“, sagt Bausch. Sonst hätte sie die Kinder nicht bekommen können. | |
| Dass ihr nun eben diese Erziehungszeit nicht anerkannt würde, findet die | |
| Adoptivmutter, die zuvor als Finanzbeamtin gearbeitet hat, unfair. | |
| Wie willkürlich die Zwölf-Monats-Regelung ist, zeigt das Beispiel von | |
| Bausch gut. Für ihren Sohn, der zu ihr kam, als er vier Monate alt war, | |
| bekommt sie die Mütterrente von 30,45 Euro im Monat. Für ihre Tochter, die | |
| bei ihrer Adoption 14 Monate alt war, bekommt sie gar nichts. „Großgezogen | |
| habe ich beide“, sagt Bausch. „Ich fühle mich total ungerecht behandelt.“ | |
| Die Osnabrückerin ist mit ihrem Frust nicht allein. Laut dem Bundesverband | |
| der Pflege- und Adoptivfamilien werden durch die Stichtagsregelung | |
| bundesweit rund 40.000 Mütter benachteiligt. Das habe eine Hochrechnung der | |
| Adoptionszahlen des Statistischen Bundesamtes ergeben, [1][heißt es auf der | |
| Website des Vereins.] | |
| In Osnabrück haben sich rund 20 Betroffene zu einer Selbsthilfegruppe | |
| zusammengeschlossen. Die Frauen wollen die Benachteiligung nicht einfach | |
| hinnehmen. Bausch ist mit ihrem Fall schon vor das Sozialgericht in | |
| Osnabrück gezogen – und hat verloren. | |
| Ebenso erging es Beate Meyer*. Auch sie ist Mutter einer Adoptivtochter. | |
| Das damals vierjährige Mädchen hatte Meyer in dem Kinderheim kennengelernt, | |
| in dem sie selbst Anfang der 70er-Jahre als Erzieherin gearbeitet hatte. | |
| Auch sie gab ihren Job auf, um sich rund um die Uhr um ihre Tochter kümmern | |
| zu können. „Es war schwierig, sie bei uns zu akklimatisieren“, sagt Meyer | |
| heute. „Sie hat sich gegen unsere Zuwendung gewehrt.“ | |
| Das Mädchen habe viel Förderung benötigt: „Sie konnte sich kaum ihrem Alter | |
| gemäß bewegen, stotterte und war in sich zurückgezogen“, sagt Meyer. Sie | |
| ist stolz darauf, dass ihre Tochter später trotzdem den Realschulabschluss | |
| schaffte. | |
| Sie findet, dass nicht das Alter des Kindes dafür entscheidend sein sollte, | |
| ob Anspruch auf die Mütterrente bestehe, „sondern wie sehr man sich bemüht | |
| hat, dass es lebensfroh wird und seinen Platz in der Gesellschaft findet“, | |
| sagt Meyer. Sie kämpft dafür, dass die Leistung von Adoptivmüttern | |
| gewürdigt wird – auch vor Gericht. | |
| Die 76-Jährige ist bis vor das niedersächsische Landessozialgericht | |
| gezogen, aber auch sie hatte keinen Erfolg. In seiner Urteilsbegründung | |
| fasste das Gericht zusammen: Meyer empfinde die Verweigerung der | |
| Mütterrente als Diskriminierung, „zumal auch dem Staat hierdurch viele | |
| Kosten für die Heimpflege erspart worden seien“. Meyer habe dennoch keinen | |
| Anspruch auf den Rentenzuschuss, da ihre Tochter eben älter als zwölf | |
| Monate gewesen sei. Damit folgt das Gericht dem Gesetz. | |
| ## Leibliche Eltern bevorzugt | |
| Das Bundessozialministerium erklärt die Stichtagsregelung so: Die | |
| Mütterrente solle „Nachteile ausgleichen, die Mütter oder Väter hinnehmen, | |
| wenn sie in der ersten Phase nach der Geburt eines Kindes wegen der in | |
| dieser Zeit besonders aufwendigen Betreuung häufig gar nicht oder nur | |
| eingeschränkt erwerbstätig sind“. Es sei deshalb nicht möglich, die | |
| Erziehungszeit für Adoptiveltern zu einem späteren Zeitpunkt anzurechnen, | |
| zumal es auch bei leiblichen Eltern Lebenssituationen gebe, in denen es | |
| vorteilhafter wäre, wenn man sich die Rentenpunkte anrechnen lassen könne, | |
| sagt ein Ministeriumssprecher. Durch die Stichtagsregelung würden alle | |
| Eltern rentenrechtlich gleich behandelt. | |
| In ihren jüngst abgeschlossenen Sondierungsgesprächen für eine Koalition | |
| auf Bundesebene haben sich SPD, CDU und CSU für eine Ausweitung der | |
| Mütterrente ausgesprochen. Frauen, die vor 1992 drei oder mehr Kinder zur | |
| Welt gebracht haben, sollen künftig einen dritten Rentenpunkt bekommen | |
| können. Von Adoptivmüttern steht in dem Sondierungspapier aber nichts. | |
| Die Bundestagsabgeordnete Pia Zimmermann von den Linken kritisiert das. „Es | |
| ist wunderbar, wenn Kinder in Familien kommen und es Eltern gibt, die sich | |
| um sie kümmern“, sagt sie. Es sei umso schwieriger, ein Kind aufzunehmen, | |
| dass schon älter sei und der Bruch mit der Herkunftsfamilie erlebt habe. | |
| Statt Adoptiveltern den Zugang zur Mütterrente zu verweigern, „sollte man | |
| lieber überlegen, wie man diese Menschen noch unterstützen kann, auch | |
| finanziell.“ Die jetzige Regelung hält Zimmermann für eine klare | |
| Diskriminierung. | |
| Ihre Fraktion hatte schon 2015 einen Antrag in den Bundestag eingebracht, | |
| in dem sie forderte, dass es Adoptiveltern ermöglicht werden soll, sich | |
| „für den 13. bis 24. Kalendermonat nach dem Geburtsmonat des Kindes | |
| Kindererziehungszeiten“ anerkennen zu lassen. Die große Koalition stimmte | |
| jedoch nicht zu. Ruhen lassen will Zimmermann das Thema trotzdem nicht: „Es | |
| wird mit Sicherheit auch wieder Thema in dieser Legislaturperiode werden.“ | |
| *Die Namen wurden zum Schutz der Kinder verändert. | |
| 19 Jan 2018 | |
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| ## AUTOREN | |
| Andrea Scharpen | |
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