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# taz.de -- Wahlkampf-Konzept der SPD: Das Schulz-Katapult
> Tausende Neueintritte, steigende Umfragewerte – die SPD jubelt. Hat
> Sigmar Gabriel das alles geplant? Ein Video mit klarer Botschaft weist
> darauf hin.
Bild: Hat Gabriel alles hinter seinem Rücken geplant?
Ob am vergangenen Montag auf einer [1][Arbeitnehmerkonferenz in Bielefeld]
oder an diesem Sonntag im Kunstkraftwerk Leipzig: Wo auch immer Martin
Schulz zu seinen Genossen spricht, kann er mit frenetischem Beifall
rechnen.
Die SPD befindet sich im Höhenrausch. Tausende Neueintritte verzeichnet die
Partei, seit sie Schulz vor einem Monat zu ihrem neuen Messias erkoren hat.
Und täglich werden es mehr. Die tiefe Depression, in der die
traditionsreiche Partei gerade noch zu versinken drohte, ist in kürzester
Zeit einer Zuversicht gewichen: Die schon verloren geglaubte Bundestagswahl
im kommenden September wird spannend.
„Die Sozialdemokratie tritt mit dem Anspruch an, die stärkste politische
Kraft in unserem Land zu werden“, verkündet Schulz landauf, landab.
Inzwischen sorgt ein solcher Satz selbst bei der politischen Konkurrenz
nicht mehr für Lacher.
Die Unionsstrategen im Konrad-Adenauer-Haus werden langsam nervös. Aus
gutem Grund: Ob Allensbach, Forschungsgruppe Wahlen, Forsa oder Insa – bei
allen Umfrageinstituten, die in dieser und der vergangenen Woche die
sogenannte Sonntagsfrage gestellt haben, kommt die SPD auf 30 Prozent und
mehr. Bei Emnid und Infratest dimap liegt sie inzwischen sogar knapp vor
der Union.
## Wie konnte das passieren?
Auch wenn Umfragen noch keine Wahlergebnisse und mit Vorsicht zu genießen
sind, ist das schon ziemlich beeindruckend für eine Partei, die vor dem
„Schulz-Effekt“ hart an der 20-Prozent-Marke entlangschrammte. Wie war
dieser Stimmungsumschwung nur möglich?
Anfang Mai 2016: In den Umfragen liegt die SPD zwischen 19,5 und 22
Prozent. Der Abstand zur Union beträgt mehr als 10 Prozentpunkte.
Gesundheitlich angeschlagen, muss Parteichef Sigmar Gabriel
Rücktrittsgerüchte dementieren.
Mit einer „Wertekonferenz Gerechtigkeit“ startet die SPD am 9. Mai ihre
[2][Programmarbeit] für die Bundestagswahl. Gabriel geht in einer
37-minütigen Grundsatzrede hart mit sich und der SPD ins Gericht. Diese
wirke zu sehr wie „eine emotional ermüdete Partei im Hamsterrad der
Sozialreparatur“, beklagt der Vizekanzler der Großen Koalition.
„Wir schreiben Gesetze, Verordnungen und Ausführungsbestimmungen – in der
Gesellschaft aber tobt ein neuer historisch bedeutender Kampf um globale
Gerechtigkeit.“ Eindringlich warnt er: „Wer die kleinen Schritte geht, kann
die Richtung aus den Augen verlieren.“
## Schulz erfüllt Gabriels Plan
Es stelle sich die Frage, „ob wir den Gerechtigkeitshunger unserer Zeit
noch begreifen“, schreibt Gabriel seinen Genossen ins Stammbuch und spricht
von der „Wut und Enttäuschung, weil die Erwartungen und wohl inzwischen
auch die Abstiegsängste größer sind als das Erreichte“.
Der tiefe Vertrauensverlust, den auch andere Parteien spürten, träfe die
Sozialdemokraten ganz besonders hart, weil Gerechtigkeitsfragen „zugleich
Glaubwürdigkeitsfragen an die SPD“ seien. Denn für viele Menschen würden
die Sozialdemokraten inzwischen eher zu „denen da oben“ gehören. Gabriels
Resümee: „Wir brauchen also ein tiefergehendes Verständnis für das, was um
uns herum passiert.“
Seine Zustandsbeschreibung ist zu diesem Zeitpunkt recht präzise. Und
Gabriel hat auch klare Vorstellungen, wie ein Ausweg aus dem
sozialdemokratischen Elend gefunden werden kann.
Er plädiert nicht für einen radikalen Politikwechsel, gar einen Bruch der
Großen Koalition, sondern für eine grundlegend andere Performance. Die SPD
müsse zum einen wieder „die arbeitende Mitte der Gesellschaft im Blick“
haben. Zum anderen sei es für die Partei entscheidend, „ihren
gesellschaftspolitischen Gestaltungsanspruch zu erneuern und sich nicht mit
Einzelreformen zufrieden zu geben, mögen sie auch noch so wichtig sein“.
## Das Große gestalten statt das Kleine zu loben
Was Gabriel da formuliert, wird acht Monate später das Erfolgsrezept von
Martin Schulz.
Der Mann aus Würselen scheint perfekt geeignet, die von Gabriel vorgedachte
Strategie mit Leben zu füllen. „Schulz verbindet den Habitus des Populisten
mit linksliberalen Inhalten“, schreibt der Spiegel. Dabei bringt Schulz
eine entscheidende Qualität mit, die die Bürger dem Noch-Parteichef Gabriel
absprechen: Obwohl seit Jahrzehnten im Politgeschäft, hat Schulz den Flair
des Neuen, des Unverbrauchten.
Der langjährige EU-Parlamentarier, der seit 1999 dem SPD-Präsidium
angehört, versteht es, [3][sich als bodenständig] zu präsentieren – als
„einer aus dem Volk“, der im Gegensatz zum „Establishment“ noch die Sor…
und Nöte der Bürger kennt.
Wahlkampf ist stets auch Suggestion. Und Autosuggestion: Nicht nur, dass
der 61-Jährige jenen Machtanspruch formuliert, der aus dem Mund eines
treuen Koalitionspartners Angela Merkels wenig glaubwürdig klingen würde.
Er ist auch offenkundig selbst davon überzeugt, das Kanzleramt erobern zu
können – etwas, was für seine Vorgänger Frank-Walter Steinmeier und Peer
Steinbrück nicht galt.
Es hat einige Zeit gedauert, bis Sigmar Gabriel eingesehen hat, dass nicht
er, sondern Schulz der Richtige ist, um die SPD wieder dem Morgenrot
entgegenzuführen. Laut eigenem Bekunden begann im Sommer vergangenen Jahres
sein Nachdenkprozess. Im Frühherbst 2016 traf er sich mit Schulz zu einem
längeren Vier-Augen-Gespräch. Endgültig entschieden will er sich erst im
Januar haben.
Sigmar Gabriel hat seinen Schulz-Coup beinahe perfekt inszeniert – was
nicht zuletzt die lange geplanten Veröffentlichungen im Stern und in der
Zeit belegen, mit denen er seinen Verzicht auf die SPD-Kanzlerkandidatur
medial zelebrierte. Nur das vorzeitige Bekanntwerden des Stern-Covers und
damit auch das seines Rückzugs entsprach nicht so ganz seinen
Vorstellungen, aber es nahm Gabriels spektakulärem Schritt nicht die Wucht.
Sowohl inhaltlich als auch dramaturgisch wirkt der Schulz-Start erstaunlich
gut vorbereitet. Wer beispielsweise am 29. Januar, also nur wenige Tage
nach seiner Ausrufung, den Werbespot für den neuen Hoffnungsträger bei
dessen offizieller Präsentation im Willy-Brandt-Haus gesehen hat, konnte
leicht erkennen: Das Video wurde nicht mal eben zusammengeschustert,
sondern hat ein klares Konzept und ist technisch professionell gestaltet.
Die schlichte wie einprägsame Botschaft des Spots: „Zeit für mehr
Gerechtigkeit. Zeit für Martin Schulz“.
Mitte Dezember gab die SPD bekannt, dass sie die Werbeagentur KNSK für ihre
Bundestagswahlkampagne verpflichtet hat. Anders als noch vier Jahre zuvor
fiel diese Entscheidung ohne Pitch, also vorherigen Agenturenwettbewerb.
Auf KNSK hatte die SPD bereits in den erfolgreichen Wahlkämpfen für Gerhard
Schröder 1998 und 2002 gesetzt. Bei den folgenden Bundestagswahlen waren
andere Agenturen zum Zuge zu kommen.
Ein Comeback feierte KNSK bei der Europawahl 2014 – und zwar, wie es heißt,
auf Betreiben des damaligen EU-Spitzenkandidaten Martin Schulz. Dass die
Hamburger Werbeschmiede auch für die Bundestagswahl engagiert wurde,
erscheint im Nachhinein wie ein Fingerzeig auf seine erst knapp eineinhalb
Monate später verkündete Kanzlerkandidatur.
## Schulz lernt von Clinton
Wann immer auch Schulz genau von den Absichten Gabriels wirklich erfahren
haben mag, unvorbereitet trafen sie ihn nicht. Vom Berliner „Basiskongress“
des linken Parteiflügels Mitte Oktober (der übrigens unter dem Motto stand:
„Zeit für mehr Gerechtigkeit“) bis zur SPD-Wahlkreiskonferenz im
niedersächsischen Walsrode einen Monat später: Zentrale Elemente seiner
Standardrede, mit der er seine Anhänger begeistert, hatte er schon bei
diversen Auftritten in der zweiten Hälfte des vergangenen Jahres intensiv
getestet.
Zu seinen bereits damals ausgiebig erprobten Sprachbildern gehört auch das
von den „hart arbeitenden Menschen, die sich an die Regeln halten“. Schulz
spricht auch weiterhin sehr gern von ihnen. Wobei die deutsche Adaption der
zentralen Parole Bill Clintons aus seinem US-Präsidentschaftswahlkampf von
1992 („I want a country where people who work hard and play by the rules
are rewarded, not punished“) keine Erfindung von Schulz ist. Sie stammt
vielmehr von SPD-Bundestagsfraktionschef Thomas Oppermann. Dass jene
legendären „hart arbeitenden Menschen, die sich an Regeln halten“, im
Mittelpunkt sozialdemokratischer Politik stünden, sagte Oppermann bereits
bei der Vorstellung der SPD-Programmarbeit für die Bundestagswahl im April
2016. Schulz hat die Parole übernommen – und zu seiner eigenen gemacht.
Ob Martin Schulz letztlich bei der Bundestagswahl erfolgreich sein wird,
ist völlig offen. Noch stehen ihm rund sieben Monate Wahlkampf bevor – eine
lange Zeit.
Sein Start allerdings ist gelungen. Was sich nicht zuletzt der klugen
Vorarbeit Sigmar Gabriels verdankt. Von der „Rückkehr des Robin Hood“ und
vom „Held der Arbeiter“ schreibt das Handelsblatt besorgt über den
SPD-Kanzlerkandidaten. Schulz wie Gabriel können solche Schlagzeilen
freuen.
26 Feb 2017
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## AUTOREN
Pascal Beucker
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