# taz.de -- Vernichtungslager Sobibór: Das gefundene Amulett | |
> Wo das Vernichtungslager Sobibór stand, wurde ein Anhänger entdeckt. | |
> Unser Autor hat dessen Geschichte recherchiert: Er gehörte Karolina Cohn. | |
Bild: Überreste aus dem Vernichtungslage: Eine Museumsmitarbeiterin präsentie… | |
Der Anhänger ist dreieckig, die Kanten sind 2,5 Zentimeter lang. Oben ist | |
ein Ring eingefasst, mit dem er an einer Kette befestigt werden kann. Auf | |
der Vorderseite trägt das aus Silber gefertigte Amulett das Datum „3. Juli | |
1929“ und die Ortsbezeichnung „Frankfurt a. M.“. Darüber steht in | |
hebräischer Schrift „Mazal tov“, „viel Glück“. Auf der Rückseite fin… | |
sich der hebräische Buchstabe „He“, der für den Namen Gottes steht, und | |
drei Davidsterne. | |
Das Amulett ist alles, was von einem Menschen übrig geblieben ist. | |
Eine verlassene Gegend im Dreiländereck von Polen, der Ukraine und | |
Weißrussland. Nahe eines Bahnhofs mit verrosteten Schienen breiten sich | |
schlanke Pinien aus, die erst in den 1940er Jahren gepflanzt wurden, um ein | |
Menschheitsverbrechen zu verbergen. Nichts sollte kenntlich bleiben vom | |
Vernichtungslager Sobibór im von den Deutschen besetzten Polen, in dem die | |
Nazis zwischen Mai 1942 und Oktober 1943 bis zu 250.000 Juden ermordeten. | |
Das Lager wurde aufgelassen, die Baracken wurden abgerissen, die Toten | |
verbrannt. | |
Hier hat der Archäologe Yoram Haimi Hinterlassenschaften von Ermordeten | |
gefunden. Seit zehn Jahren gräbt der Israeli zusammen mit polnischen | |
Kollegen an der früheren Mordstätte, deren Topografie lange unbekannt | |
geblieben war; unterstützt wird er von der Jerusalemer Gedenkstätte Jad | |
Vaschem. Er fühle sich wie ein Kriminalist in einem forensischen Labor, | |
sagt der 55-Jährige. Sie haben die Fundamente der Gaskammern entdeckt und | |
konnten die Lage der hölzernen Baracken bestimmen. Sie fanden eine | |
Halskette mit Davidstern, eine Damenarmbanduhr, Brillen, Kämme, Löffel und | |
Gabeln, weiteren Schmuck – mehr als 3.000 solcher Gegenstände. | |
Haimi ist in Sobibór auch mit seiner eigenen Familiengeschichte | |
konfrontiert: „Zwei meiner Onkel sind im März 1943 von Paris nach Sobibór | |
deportiert und dort ermordet worden“, sagt er. Wie er das aushält? „Ich | |
versuche den Job und die Familie zu trennen. Aber manchmal geht das nicht. | |
Dann muss ich eine Pause machen.“ | |
Im Oktober 2016 graben Haimi und seine Kollegen an der Stelle, an der die | |
Baracke stand, wo sich die weiblichen Opfer ausziehen mussten und ihnen die | |
Haare geschoren wurden, bevor sie im Laufschritt in die Gaskammern | |
getrieben wurden. „Himmelfahrtsstraße“ nannten die Täter diesen 150 Meter | |
langen Weg. Hier entdeckt ein polnischer Arbeiter das Amulett. Experten von | |
Jad Vaschem vermuten, dass es zwischen die Dielenbretter der Baracke | |
gefallen ist und im Erdboden verschwand, 1942 oder 1943. | |
Wem aber hat es gehört? | |
Am 15. Januar 2017 macht Jad Vaschem auf den Fund des Amuletts aufmerksam. | |
Die Meldung findet weltweit Beachtung. Die Gedenkstätte bittet Verwandte | |
der früheren Besitzerin, sich zu melden. Am selben Tag beginnt unsere Suche | |
in Archiven, Museen und Gedenkstätten, unter Judaica-Experten und | |
Historikern. Sie führt von Frankfurt nach Sobibór, im Zickzackkurs um einen | |
Lebensweg herum, sie bleibt in Sackgassen hängen und findet neue Wege. Sie | |
bleibt unvollständig, zeigt aber, dass Geschichte auch nach dem Tod der | |
letzten Zeitzeugen erzählbar bleiben wird. | |
## War Karolina Cohn mit Anne Frank verwandt? | |
33 Jahre nach Kriegsende, mit Datum vom 6. April 1978, füllt eine Sophie | |
Rollmann aus Zürich ein Formblatt von Jad Vaschem aus. Handschriftlich | |
zeigt sie den Tod von Karolina Cohn an, geboren am 3. Juli 1929 in | |
Frankfurt am Main. Karolina Cohn sei am 11. November 1941 von Frankfurt | |
nach Minsk in Weißrussland deportiert und 1945 für tot erklärt worden. Als | |
Verwandtschaftsgrad gibt Rollmann „Cousine 2. Grades“ an. Das Gedenkbuch | |
des deutschen Bundesarchivs bestätigt, dass Karolina das einzige an diesem | |
Tag geborene jüdisches Kind in Frankfurt ist. | |
Sie muss die Besitzerin des Amuletts gewesen sein, sind sich die Experten | |
von Jad Vaschem sicher. Auf niemanden sonst passen die Angaben auf dem | |
Anhänger. Doch Sophie Rollmann ist 1985 verstorben, über Verwandte nichts | |
bekannt. | |
Heute, in der Zeit, in der die letzten Überlebenden der Schoah hoch betagt | |
sterben und bald niemand mehr da sein wird, der die Geschichte aus erster | |
Hand erzählen kann, sind die Dokumente des Massenmords sorgfältig in | |
Archiven verwahrt. Und sie werden auch noch gelesen werden können, wenn | |
selbst die Enkel der Zeitzeugen verstorben sind. Was erzählen sie über | |
Karolina Cohn? | |
Der Internationale Suchdienst im hessischen Bad Arolsen, 1946 im | |
Nachkriegschaos gegründet, um den Überlebenden Hilfe bei den | |
Nachforschungen nach ihren Angehörigen zu ermöglichen, verwahrt rund 3 | |
Millionen Dokumente. Darunter befindet sich die Frankfurter | |
Deportationsliste vom 11. Oktober 1941. „II. Transport nach Polen“ ist oben | |
auf der ersten Seite der bräunlich vergilbten Blätter notiert – gemeint ist | |
damit die zweite Deportation aus Frankfurt. Darunter steht: „wahrscheinlich | |
Kowno“, wobei die Stadt in Litauen später durchgestrichen und durch „Minsk… | |
ersetzt wird. Es folgen in Maschinenschrift die Namen der Deportierten, | |
säuberlich nach Namen, Vornamen, Adresse, Geburtsdatum und -ort geordnet. | |
Von den vermutlich 1.042 Menschen, die transportiert werden, überleben | |
neun. | |
Auf der fünften Seite findet sich „Cohn, Karolina S.“ – das S. steht für | |
ihren Zwangsvornamen Sara – unter der Wohnadresse Thomasiusstraße 10 in | |
Frankfurt, geboren am 3. 7. 29 in Frankfurt. Auf derselben Seite stehen die | |
Namen der Eltern Else und Richard Cohn und der von Karolinas kleiner | |
Schwester Gitta. Es sind die letzten papierenen Lebenszeichen der Familie. | |
Ihr Amulett trägt Karolina wohl von ihrer Geburt an. Der Judaika- und | |
Numismatik-Experte Ira Rezak aus New York kennt eine ganze Reihe ähnlicher | |
Anhänger. Diese wurden, so Rezak, einer jahrhundertelangen jüdischen | |
Tradition folgend, zur Geburt als Talisman hergestellt, ursprünglich | |
ausschließlich für Knaben. Vom Ende des 19. Jahrhunderts an aber bekamen | |
auch neu geborene Mädchen ein solches Amulett geschenkt, gefertigt meist | |
aus Silber oder Gold. Angesichts der hohen Kindersterblichkeit sollte das | |
Geburtsamulett das Leben der Kleinen beschützen. Die Aufschrift „Mazel | |
tov“ entspricht nicht der Tradition, aber „könnte erklären, warum eine 19… | |
geborene Person diesen Viel-Glück-Talisman noch als junge Erwachsene | |
getragen hat“, sagt Ira Rezak. | |
Anne Frank, im selben Jahr wie Karolina Cohn in Frankfurt geboren, trug | |
einen fast identischen Talisman, was Jad Vaschem zunächst vermuten lässt, | |
sie und Karolina könnten verwandt gewesen sein. Yad-Vashem-Mitarbeiter | |
Yoram Haimi berichtet jedoch, dass die Jerusalemer Forschungs- und | |
Gedenkstätte nach der Veröffentlichung des Funds von Sobibór innerhalb | |
weniger Wochen Informationen über acht nahezu identische Anhänger erhalten | |
hat, davon zwei in Israel und sechs in den USA. Sie gehören Jüdinnen, die | |
vor dem Holocaust hatten fliehen können. Alle Amulette betreffen | |
ausschließlich die Geburtsjahrgänge 1928 und 1929 aus Frankfurt. „Nur | |
neugeborene Mädchen haben ihn bekommen“, sagt Haimi, wohl von der Jüdischen | |
Gemeinde. | |
1929, das ist der Beginn schwerer Zeiten. Am „schwarzen Donnerstag“ kracht | |
die New Yorker Börse zusammen, eine Wirtschaftskrise in Deutschland ist die | |
Folge, die Arbeitslosigkeit steigt stark. Familie Cohn war schon vorher | |
nicht wohlhabend. Akten des Hessischen Wirtschaftsarchivs lässt sich | |
entnehmen, dass der Vater Richard seit 1919 eine Buchhandlung mit | |
Antiquariat in der Bornheimer Landstraße betreibt. Das ist, gerade während | |
der Inflationszeiten zu Beginn der 1920er Jahre, eine häufig genutzte | |
Möglichkeit, um sich selbstständig zu machen, denn viele Menschen müssen | |
ihre alten Bücher verkaufen, während andererseits ein hoher Lesebedarf | |
besteht. Doch Cohns Buchladen geht es nicht mehr gut. Die an die Stadt | |
abgeführten Steuern dokumentieren den Niedergang ab 1926. Zuletzt, im Jahr | |
1931, führt Richard Cohn nur 95,38 Reichsmark Jahressteuern an die Stadt | |
ab. | |
Mehr als 55.000 Arbeitssuchende verzeichnet Frankfurt in diesem Jahr, im | |
ganzen Reich sind es über 5,5 Millionen. Wer kauft da noch Bücher? Im | |
selben Jahr muss Richard Cohn sein Geschäft zusperren. | |
„Zahlungsunfähigkeit“, vermerkt eine Karteikarte der Industrie- und | |
Handelskammer. Das Konkursverfahren wird drei Jahre später mangels Masse | |
eingestellt. | |
Wer waren Karolinas Eltern? Richard Cohn, 1884 in Darmstadt geboren, wächst | |
in sehr ärmlichen Verhältnissen auf. Sein Vater Julius ist Hausierer, die | |
Mutter Carolina Arbeiterin. Richard hat zwölf Schwestern und Brüder, davon | |
fünf aus früheren Ehen des Vaters und der Mutter. Achtmal müssen die Cohns | |
in Darmstadt innerhalb weniger Jahre umziehen. | |
Richard lernt Tapezierer und zieht nach Frankfurt um. Mehrfach wird er | |
wegen Betrugs und Körperverletzung verurteilt, 1908 muss er einen Monat und | |
zwölf Tage im Mainzer Gefängnis absitzen. | |
Der Staat zieht ihn im Ersten Weltkrieg als Soldat ein. Wo er zum Einsatz | |
kommt und welchen Rang er bekleidet, bleibt ungewiss. Anhand der deutschen | |
Verlustlisten lässt sich aber belegen, dass er am 17. April 1918 schwer | |
verwundet wird. Ein Lungendurchschuss macht den Mann für den Rest seines | |
Lebens zum Invaliden. Als Tapezierer kann er danach offenbar nicht mehr | |
arbeiten. | |
Wo und wie Richard seine spätere Frau Else kennengelernt hat, wissen wir | |
nicht. Beim Institut für Stadtgeschichte Frankfurt weiß man, dass sie am 8. | |
August 1928 in Frankfurt geheiratet haben, elf Monate vor Karolinas Geburt. | |
Else, geborene Eisemann, kommt aus Bad Orb im Taunus. Elses Vater Salomon | |
arbeitet dort als Händler und Dienstmann. Else wird als Zweitälteste von | |
fünf Geschwistern 1895 geboren. | |
Nach der Pleite seines Buchladens ist Karolinas Vater Richard zu Beginn der | |
1930er Jahre auf eine dürftige Kriegsinvalidenrente angewiesen, um seine | |
Familie durchzubringen. Mehrfach muss die Familie umziehen, bis sie 1935 in | |
der Thomasiusstraße 10, 1. Stock rechts, im Frankfurter Ostend unterkommt. | |
Mit der Machtübernahme der Nazis 1933 wird seine Invalidenrente offenbar | |
gestrichen. Richard Cohn untervermietet zeitweise ein Zimmer der Wohnung. | |
Er erhält Unterstützung von der jüdischen Wohlfahrtspflege. Ab dem 1. | |
September 1940 sind es 103 Mark und 20 Pfennige im Monat, umgerechnet etwa | |
300 Euro. | |
Diese Informationen finden sich in Dokumenten des Hessischen | |
Hauptstaatsarchivs, das die Akten des Oberfinanzpräsidenten verwahrt. | |
Dessen Beamte registrieren den Besitz aller Juden, um ihn später zu rauben. | |
Doch bei den Cohns ist nichts zu holen: Sie besäßen „weder Vermögen noch | |
Grundbesitz“, geben Karolinas Eltern im Oktober 1940 an. Die vierköpfige | |
Familie lebt von monatlich 120 Reichsmark. Die Miete beträgt 60 Mark. Der | |
Vater, inzwischen 56, ist krank und in Behandlung bei einem jüdischen | |
„Krankenbehandler“, wie jüdische Ärzte im NS-Jargon diskriminierend genan… | |
werden. | |
## Die Cohns müssen bleiben, zur Flucht fehlt das Geld | |
Viele Frankfurter Juden sind inzwischen vor den Drangsalen des Naziregimes | |
ins Ausland geflüchtet. Doch dazu benötigt man nicht nur ein Visum, einen | |
Reisepass, steuerliche Unbedenklichkeitsbescheinigungen, Devisenerklärungen | |
und eine Beurlaubung von der Wehrpflicht, der Juden ansonsten längst nicht | |
mehr „würdig“ sind. Zuallererst braucht es Geld für Bahnfahrkarten, | |
Schiffsbilletts und Vermögensnachweise zur Erlangung einer | |
Einreisegenehmigung im Fluchtland. Die Cohns haben kein Geld. | |
Sie müssen bleiben, müssen die Pogromnacht im November 1938 miterleben, in | |
der die Frankfurter Synagogen niederbrennen. | |
Karolina wird zu Hause „Karola“ gerufen, das gehe aus ihrer Geburtsurkunde | |
hervor, berichtet die Historikerin Monica Kingreen, die auf die Geschichte | |
der hessischen Juden spezialisiert ist. Seit dem August 1938 muss das | |
Mädchen den Zwangsvornamen Sara tragen. Von September 1941 an wird sie | |
gezwungen, mit einem gelben Stern an der Brust herumzulaufen, der sie in | |
der Öffentlichkeit als ein verfemtes jüdisches Kind kennzeichnet. Sie darf | |
Frankfurt nicht mehr verlassen. Sie darf nicht im Park spielen. Sie erhält | |
weniger und minderwertige Lebensmittel als „arische“ Kinder. Seit November | |
1938 ist ihr der Besuch einer öffentlichen Schule verboten. Doch ob sie | |
zuvor noch auf eine solche gegangen ist? Nachfragen bei öffentlichen | |
Grundschulen in der Umgebung des Wohnorts der Familie Cohn bleiben | |
ergebnislos. | |
Welche jüdische Schule aber hat Karolina besucht, das Philanthropin der | |
Jüdischen Gemeinde oder die Jüdische Volksschule der orthodoxen | |
Israelitischen Religionsgemeinschaft? Lassen sich vielleicht einstige | |
Mitschüler finden, die sich an Karolina erinnern? | |
Die Mitgliedskarteien beider jüdischen Gemeinden sind von den Nazis | |
vernichtet worden. Aber Karolina Cohn und Anne Frank trugen den gleichen | |
Talisman, ausgegeben von einer der beiden Gemeinden. Anne Franks Großvater | |
Michael war Mitglied der mehrheitlich liberalen Hauptgemeinde, in späteren | |
Jahren war die Familie der Gemeinde zumindest verbunden. | |
Das heißt: Auch Familie Cohn gehört wohl der Hauptgemeinde an. Also geht | |
Karolina spätestens seit November 1938 auf das Philantropin. Weitere | |
Recherchen aber sind ergebnislos. Die Schülerverzeichnisse sind von den | |
Nazis weitgehend vernichtet worden. | |
Und so erfahren wir nicht, was für ein Kind Karolina war. War sie lebhaft | |
oder eher zurückgezogen? Ein Widerspruchsgeist oder angepasst? Immer gesund | |
oder leicht kränkelnd? Was war ihr liebstes Spielzeug? Hatte sie lange | |
blonde Haare oder kurze dunkle? Es gelingt auch nicht, ein Foto von ihr zu | |
finden. Niemand scheint mehr da, der von Karolina berichten könnte. Auch | |
Jad Vaschem hat bisher keinen Überlebenden gefunden, der sich an sie | |
erinnern kann. | |
Einige von Karolinas Tanten und Onkel väterlicherseits sind schon vor der | |
NS-Zeit nach Amerika ausgewandert. Die anderen Verwandten, Eltern, | |
Schwester, Onkel, Tanten, Kusinen wurden fast ausnahmslos Opfer der Schoah. | |
Onkel Markus Cohn starb 1939 im KZ Sachsenhausen, Sigmund Cohn 1943 in | |
einem Lager in Frankreich. Max Eisemann wurde 1942 im KZ Majdanek | |
ermordet. Onkel Simon und seine Frau Amalie 1941 in Kaunas erschossen. | |
Onkel Michael ging nach den Torturen im KZ Dachau 1939 freiwillig in den | |
Tod. Sein Sohn Ralph konnte nach Palästina flüchten. Er war einige Jahre | |
älter als Karolina, er könnte sie gekannt haben. Doch Ralph Eisemann ist | |
vor einigen Jahren in New York verstorben. | |
Geblieben ist nur Karolinas Leidensgeschichte. | |
Am 8. November 1941, dem neunten Geburtstag von Karolinas Schwester Gitta, | |
wird die Familie Cohn von den NS-Behörden über ihre bevorstehende | |
„Abwanderung“ – ein Tarnbegriff für die Deportationen – informiert. Sie | |
erfahren nichts über das Ziel der Reise. Ein anderer Verschleppter, der | |
damals 13-jährige Berthold Adler, erinnert sich: „Am Tag des Transportes | |
kam ein Offizieller in unsere Wohnung und überwachte unser Weggehen. Am | |
Nachmittag gingen wir zu Fuß zur Markthalle, wo unser neues Leben begann.“ | |
Die Gestapo hat den Ostflügel des Kellers der großen Frankfurter Markthalle | |
zum Sammelpunkt bestimmt. Hier werden Karolina und ihre Familie über | |
mehrere Kontrollstellen geschleust. Der Leiter des Judenreferats der | |
Frankfurter Gestapo, Heinrich Baab, hat dazu nach dem Krieg eine | |
sorgfältige Zeichnung angefertigt. Wir erkennen darauf die verschiedenen | |
Stationen: die Überprüfung der Deportationsliste, die Gepäckdurchsuchung | |
und Leibesvisitation, die Abgabe der „Vermögenserklärung“, die Stempelung | |
der Kennkarte mit „evakuiert“. Am Ende steht ein Aufenthaltsraum „bis zur | |
Verladung“, wie es auf der Skizze heißt. | |
Vermutlich am Morgen des 12. November 1941 verlässt der Zug mit der Nummer | |
Da53 den Frankfurter Ostbahnhof. Zum Einsatz kommen ältere Personenwagen 3. | |
Klasse. Die Reise geht über Berlin, Warschau, Białystok, Wołkowysk, | |
Baranowitschi nach Minsk. Im Bericht eines Überlebenden heißt es: „Die | |
Fahrt dauerte sechs Tage. Wir hatten Lebensmittel dabei, aber kein Wasser, | |
viele Leute starben. Wir haben, als es regnete, die Finger rausgehalten, | |
und die abgeleckt, um Flüssigkeit zu bekommen. Vor Durst starben Menschen. | |
Viele schrieen ‚wir brauchen Wasser‘, manchmal bekamen wir etwas bei einem | |
Halt.“ | |
Nach den ursprünglichen Plänen sollten 18 Züge aus Deutschland in die | |
besetzte Hauptstadt Weißrusslands gehen, tatsächlich kommen nur sieben mit | |
6.959 jüdischen Menschen an. Die anderen Juden werden stattdessen nach Riga | |
in Lettland verschleppt. Im jüdischen Ghetto von Minsk haben die Nazis für | |
die Ankunft vorgesorgt. Auf Befehl der Einsatzgruppe A erschießen | |
SS-Sicherheitspolizei und Hilfspolizei zwischen dem 7. und 11. November | |
1941 6.624 einheimische Juden. Ein Mann wird dabei extra zum Zählen der | |
Opfer abgestellt. Am 20. November werden weitere 5.000 Menschen ermordet. | |
So will man Platz für die deutschen Juden schaffen, die in bestimmten | |
Straßen der Ghettos konzentriert werden. | |
Ein weiterer Überlebender des Frankfurter Transports berichtet nach dem | |
Krieg anonym über die Ankunft in Minsk: „Dort mussten wir 3 Tage in einer | |
ehemaligen Schule, auf Steinplatten, ohne Verpflegung, ohne Closetts und | |
Waschgelegenheit zubringen. Wir kamen in zerfallene Holzhäuser, in 8–10 qm. | |
große Zimmer, in die je 12 Personen beiderlei Geschlechts mit Kindern | |
eingepfercht wurden, ohne Decken, ohne Matratze, ohne Kopfpolster, doch mit | |
ungeheuren Mengen Wanzen, Mäusen und Ratten.“ Karolina kommt wie alle | |
Frankfurter Juden in das „Sonderghetto I“. | |
Ende 1941 gibt es noch keine Vernichtungslager. Die deutschen Juden in | |
Minsk sollen nicht sofort ermordet werden, sondern zunächst Zwangsarbeit | |
leisten. Sie sind unter den Nazis beliebter als die weißrussischen Juden, | |
weil sie alle Befehle sofort verstehen können. „Die Arbeitskommandos wurden | |
von Wehrmachtssoldaten um 6 Uhr früh abgeholt und zwischen 16 und 18 Uhr | |
zurückgebracht“, so der anonyme Frankfurter Zeuge. „Tagesverpflegung: 1 | |
Stück Brot ca. 120 gr., wenig minderwertige Wassersuppe, kein Frühkaffee | |
und kein Nachtessen. Wer irgend etwas von Wertsachen bei sich hatte, wie | |
Trauringe, Füllhalter etc. vertauschte es an die Russen gegen | |
Lebensmittel.“ | |
Es ist möglich, dass Karolina hier ihren Glücksanhänger gegen Brot | |
eintauschen muss. Immerhin ist er aus Silber gefertigt. Vielleicht ist sie | |
schon im ersten Winter in Minsk gestorben, so wie etwa 100 Frankfurter | |
Juden, die der Unterernährung, Krankheiten und Erfrierungen nicht | |
standhalten können. | |
Vielleicht hat Karolina weiter gelebt, Zwangsarbeit geleistet und ihr | |
Amulett getragen. | |
1942 kommen Gaswagen ins Ghetto. Sie sehen wie Möbelwagen aus. Mit den | |
Abgasen der Motoren werden die Kranken und „Arbeitsunfähigen“, die man in | |
die Laderäume gepfercht hat, ermordet. Im Juli werden etwa 9.000 Menschen | |
aus dem Ghetto erschossen, darunter alle Bewohner des „Sonderghettos II“, | |
nicht aber die Frankfurter Juden. Danach geht die Zwangsarbeit weiter, in | |
einzelnen „Aktionen“ werden immer wieder Menschen umgebracht. Die jüdischen | |
Insassen von mindestens 18 Transporten aus Deutschland, die 1942 in Minsk | |
eintreffen, werden bis auf wenige Ausnahmen sofort nach ihrer Ankunft | |
erschossen oder erstickt. | |
Im September 1943 wird das jüdische Ghetto von Minsk aufgelöst. Wieder | |
werden viele Bewohner getötet. Einige kommen in andere Lager, auch im | |
besetzten Polen. Mindestens zwei, vermutlich drei Züge verlassen um den 18. | |
September Minsk. Ihr Ziel ist das Vernichtungslager Sobibór. Ein Zeuge gibt | |
1961 an, in seinem Zug hätten sich etwa 2.000 Menschen befunden. | |
Zwei weitere Transporte gehen wohl zur selben Zeit von Minsk in das | |
Zwangsarbeitslager Trawniki. Möglicherweise ist ein Teil dieser Menschen | |
kurz darauf weiter nach Sobibór gebracht worden. Kaum einer der Insassen | |
dieser Deportationszüge ist namentlich bekannt, denn die Nazis haben sich | |
nur bei Transporten aus Westeuropa die Mühe gemacht, ihre Opfer auch | |
namentlich zu registrieren. | |
Thomas Blatt hat Sobibór überlebt, als einer von 53 Juden. Die SS-Männer | |
wählen den damals 15-Jährigen als Zwangsarbeiter aus. Er hat dort die | |
Aufgabe, Fotos und Dokumente der Ermordeten, die in ihrem Gepäck gefunden | |
werden, zu verbrennen. „Sobibór war wie eine Fabrik“, sagt Blatt 2009 | |
gegenüber dem Autor, wenige Tage bevor er als Zeuge gegen John Demjanjuk in | |
München auftritt. Demjanjuk hatte als ukrainischer „Hilfswilliger“ in dem | |
Lager gearbeitet und wurde später zu fünf Jahren Haft verurteilt. Blatt ist | |
ein Teilnehmer des Aufstands von Sobibór gewesen, der im Oktober 1943 dazu | |
geführt hat, dass die Nazis das Vernichtungslager aufgaben. | |
Bis dahin steht in Sobibór ein Achtzylinder-Benzinmotor, dessen Abgase in | |
sechs Kammern von der Größe von vier mal vier Metern geleitet werden. In | |
den Kammern sind Duschköpfe installiert. Den vielen holländischen Juden, | |
berichtet der 2015 verstorbene Blatt, habe man vorgegaukelt, sie gingen zur | |
Körperreinigung. „Sie hatten keine Ahnung, wo sie da hingekommen waren. Ich | |
bin mir sicher, dass sie, als sie bemerkten, dass nicht Wasser, sondern Gas | |
aus den Duschköpfen austrat, glaubten, es handele sich um einen technischen | |
Defekt. Sie starben, ohne zu wissen, dass sie ermordet wurden.“ | |
Bei den Insassen der Züge aus Osteuropa sparen sich die ukrainischen | |
Hilfswilligen und die SS die Camouflage. Sie werden unter Gebrüll und mit | |
Peitschenhieben über den drei bis vier Meter breiten Weg von der | |
Entkleidungsbaracke zu den Gaskammern getrieben. | |
Wir wissen nicht, ob Karolina Cohn diesen Weg gehen musste. Es ist aber | |
möglich. Karolina wäre dann 14 Jahre alt geworden. Doch alles, was wir | |
wirklich wissen, ist, dass Archäologen hier, 73 Jahre später, ihren | |
Glücksanhänger gefunden haben. | |
Ein Amulett und eine Menge Papier. Es sind Geschichten wie die von Karolina | |
Cohn, die bleiben werden, auch wenn die letzten Überlebenden verstorben | |
sind. Yoram Haimi wird nach dem Winter aus Israel nach Sobibór | |
zurückkehren, dann, wenn der Frost aus dem Boden gewichen ist. Und wird | |
weiter in der Geschichte der Schoah graben. | |
23 Feb 2017 | |
## AUTOREN | |
Klaus Hillenbrand | |
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