Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Essay Martin Schulz: Ein überzeugter Deutscher
> Warum bloß gilt der SPD-Kanzlerkandidat Martin Schulz als „großer
> Europäer“? Für die EU-Krise ist er mitverantwortlich.
Bild: Das SPD-Konzept: Wenn es den eigenen Wählern gut gehen soll, muss es den…
Der Witz, es habe sich eine „Arbeitsgemeinschaft Sozialdemokraten in der
SPD“ gegründet, stammt noch aus Agenda-2010-Zeiten und hat ein bisschen
Patina angesetzt. Aber er illustriert das Problem der SPD noch immer
genau: Dass jemand eine soziale Politik macht, weil er sich als
Sozialdemokrat bezeichnet, gilt nicht mehr als selbstverständlich.
Warum aber glaubt die Öffentlichkeit von Martin Schulz, er sei ein
„Vollblut-Europäer“ (FAZ), „überzeugter Europäer“ („Tagesschau“),
„leidenschaftlicher Europäer“ (Wirtschaftswoche), nur weil ihn führende
SPDler als „großen Europäer“ (Frank-Walter Steinmeier) verkaufen?
Warum, mögen Sie fragen, sollte er das nicht sein?
Für die Beantwortung dieser Frage hilft es, ein wenig in der Geschichte zu
wühlen. 1998 – Kohl ist noch Kanzler, Lafontaine SPD-Chef – hält Ingrid
Matthäus-Maier im Bundestag die Mutter aller SPD-Reden zum Euro. Sie ist
damals finanzpolitische Sprecherin der SPD-Fraktion, antwortet an jenem
Apriltag in der Debatte zur Euroeinführung als wichtigste
Oppositionsrednerin auf Finanzminister Theo Waigel (CSU).
Man müsse den Euro bürgernäher erklären, sagt sie: „Ich erinnere mich zum
Beispiel an einen Vorgang in meinem Wahlkreis 1994. Dort besuchte ich zehn
Tage nach Abwertung der Lira das Stahlwerk Klöckner-Mannstaedt. Dort war
die Stimmung miserabel. Wir müssen Leute entlassen, hieß es. Die Lira ist
in den Keller gegangen. Schon nach fünf Tagen hatten Italiener Aufträge an
dieses deutsche Stahlwerk storniert, weil sie durch die Abwertung der Lira
die deutsche Rechnung in Mark mit sehr viel mehr Lire bezahlen mussten als
vorher. Dann haben sie die Aufträge in andere Länder vergeben. Solche
konkreten Beispiele zeigen, dass Währungsturbulenzen gerade für unser Land
verheerend waren und sind. Deswegen ist der Euro gerade auch für uns gut.“
## Nationaler Egoismus
Matthäus-Maier begründet also ein europäisches Projekt mit nationalem
Egoismus, übergeht stillschweigend, dass andere Länder Probleme bekommen
werden, wenn Deutschland sie nicht mehr hat – und fordert zum Schluss eine
Koordinierung der europäischen Wirtschafts-, Finanz- und Steuerpolitik nach
der Bundestagswahl 1998, die niemals kommen wird: „Es ist doch kein
Zustand, dass es in Europa Steueroasen und Steuerdumping in großem Umfang
gibt.“
Stattdessen beginnt Rot-Grün mit der Agenda 2010 einen Angriff auf die
Wirtschaftsmodelle der Nachbarländer. Spätestens mit der Eurokrise kommt es
so wie von Matthäus-Maier gewünscht: Weil Italien, Frankreich oder
Griechenland ihre Währung nicht mehr abwerten können, profitiert
Deutschland. Der Süden kommt dagegen aus seiner Krise nicht mehr heraus.
Die Versatzstücke von Matthäus-Maiers Rede finden sich heute mit nur
kleinen Variationen bei führenden Sozialdemokraten wieder. Kanzlerkandidat
Schulz etwa argumentiert nicht mit der Stahl-, sondern der Autoindustrie,
warum Europa unbedingt am Euro festhalten müsse: Bei einer Wiedereinführung
der D-Mark, so Schulz in einem Interview von 2012, müsste die „deutsche
Automobilindustrie dann keine Angst mehr vor China haben, sondern vor
Frankreich und Italien, vor Peugeot, Citroën und Fiat“. Der Euro scheint
für ihn ein Mittel, um SPD-wählende Facharbeiter vor Konkurrenz aus dem
europäischen Ausland zu bewahren.
Im Bundestagswahlkampf 2017 will er Matthäus-Meiers Versprechen einer
europäischen Steuerharmonisierung neu beleben: „Wenn der kleine Bäckerladen
anständig seine Steuern zahlt, der globale Kaffeekonzern aber sein Geld in
Steueroasen parkt, geht es nicht gerecht zu. Die Bekämpfung der
Steuerflucht wird deshalb ein zentrales Wahlkampfthema werden“, sagte
Schulz in seiner Berliner Antrittsrede.
## „Blame you neighbour“-Populismus
Die SPD ist die Partei des Status quo in der Europapolitik. Jedes Weniger
an Vergemeinschaftung innerhalb der EU (ein Ende des Euros) würde ebenso
die Interessen ihrer Wählerschaft treffen wie fast jedes Mehr (eine
gemeinsame Sozialversicherung, Schuldenvergemeinschaftung oder Strafen für
einen zu großen Handelsbilanzüberschuss). Einzige Ausnahme ist eine
Steuerharmonisierung: Während Deutschland vom Euro profitiert, profitieren
Länder wie die Niederlande oder Irland von niedrigen Steuersätzen.
Würde also Europa den Euro beibehalten und die Steuern vereinheitlichen,
hätte Deutschland einen zusätzlichen Wettbewerbsvorteil. Schulz, der wie
Matthäus-Maier niemals darüber redet, was die deutschen Exporte im Ausland
anrichten, betreibt mit seiner Steuerkampagne blame your
neighbour-Populismus.
Politische Veränderungen gehen nur selten von denen aus, die vom Status quo
profitieren. Die Sozialdemokraten haben die Reform- und Austeritätspolitik
von Merkel und Schäuble daher weitgehend mitgetragen. Die Forderung nach
Eurobonds, also einer Vergemeinschaftung der Schulden, erhob Schulz zwar
zeitweilig. Sie war für ihn aber letztlich ebenso nachrangig wie die nach
einem großen Wachstumsprogramm für Europa. Schulz hat für beides, anders
als für den Euroerhalt, nicht nachhaltig gekämpft.
## Drei Phasen der Europapolitik
In der sozialdemokratischen Europapolitik lassen sich drei Phasen grob
unterscheiden: In der ersten lässt die SPD ihre europäischen
Schwesterparteien in Frankreich, Italien und Griechenland vor die Wand
laufen. Als die SPD 2013 eine erneute Große Koalition aushandelt, gehörte
eine andere Europapolitik nicht zu ihren Bedingungen. Politisch isoliert,
schwenkt François Hollande auf ein wirtschaftsfreundliches Programm um, das
seine erneute Kandidatur aussichtslos erscheinen lässt. Die griechische
Pasok ist heute abgemeldet. [1][Matteo Renzi trat in Italien 2016 zurück].
Wenn die politische Mitte den politischen Raum frei macht, obwohl die
Zustände unerträglich erscheinen, finden sich andere Kräfte. In der zweiten
Phase gewinnen Parteien links der Sozialdemokratie. [2][In Griechenland
kommt Syriza 2015 an die Macht]. Ihr Versuch, die Austeritätspolitik zu
beenden, endet in einer langen Verhandlungsnacht in Brüssel. Gegenüber
Christdemokraten wie Juncker war Schulz stets freundlich, die
Tsipras-Regierung aber bekommt früh seinen gesammelten Zorn zu spüren: „Ich
habe die Faxen dicke“, verkündet er. Ein linker Ausweg aus der Eurokrise
scheint nach Syrizas Kotau unwahrscheinlich.
2016 beginnt die dritte Phase – die Rechtspopulisten gewinnen Oberwasser:
[3][In Großbritannien gewinnen die Brexit-Befürworter]. In Nordengland
stimmen wegen der Arbeitsmigration aus Osteuropa Teile der Arbeiterschaft
mit Ja. Schulz bezeichnet danach die Arbeiternehmerfreizügigkeit als nicht
verhandelbar, wenn die Briten einen besonderen Zugang zum EU-Binnenmarkt
behalten möchten. Da dies den Sinn des Brexit-Referendums auf den Kopf
stellen würde, [4][kündigt Theresa May von sich aus einen harten Brexit
an]. Sie verspricht Firmen niedrigere Steuern als in der EU und geht ein
Bündnis mit Donald Trump ein.
## Nationaler Schulterschluss mit Merkel
Das ist die Bilanz der Eurokrisenpolitik der SPD: kein Bündnis europäischer
Sozialdemokraten, stattdessen nationaler Schulterschluss mit Merkel. Als
Konsequenz das Ende sozialdemokratischer Regierungschefs in Frankreich und
Italien. Die Desavouierung von Parteien links davon. Schließlich: die
Briten mit in einen harten Brexit getrieben, damit einen Steuerwettlauf in
Europa und ein Bündnis mit Trump gegen die EU befördert.
Aber Vormachtstellungen halten nicht ewig, auch nicht die deutsche
Sonderkonjunktur. Der deutsche Handelsbilanzüberschuss kommt jetzt in
Bedrängnis. Erstens durch eine Abschottungspolitik wie in den USA und
Großbritannien. Zweitens durch Reformen ähnlich der Agenda 2010 in anderen
Staaten – etwa, falls in Frankreich Emmanuel Macron [5][die Wahlen]
gewinnt. Und drittens durch den Ausstieg von Staaten aus dem Euro, falls
Marine Le Pen siegt.
Wie würde die SPD unter Martin Schulz darauf reagieren? Nimmt man die
Vergangenheit zum Maßstab: im Falle eines Euroaustritts Frankreichs oder
Italiens mit einem harten Hinauswurf. Und innenpolitisch? Schulz sagt heute
über die Agenda 2010, sie sei „die richtige Antwort auf eine Phase der
Stagnation“ gewesen. Heißt das: Geht der deutsche Exportboom zu Ende, sind
Sozialkürzungen wieder erstes Mittel der Wahl?
Das SPD-Konzept heißt: Wenn es den eigenen Wählern gut gehen soll, muss es
den europäischen Nachbarn schlecht gehen. Wäre die SPD proeuropäisch, hätte
sie sich frühzeitig mit ihren Schwesterparteien in der EU über ein
gemeinsames Vorgehen verständigt: über Mindestlöhne, Investitionen,
Sozialversicherungen, Steuern, Sanktionen auf Defizite und
Exportüberschüsse. Sie würde ihren Wählern vermitteln, dass es VW ein
bisschen schlechter gehen muss, damit es Fiat und Peugeot besser geht.
Stattdessen hat Deutschland mit der Agenda 2010 seine Wirtschaftskrise ins
Ausland exportiert. Donald Trump, Theresa May, Emmanuel Macron und Marine
Le Pen arbeiten jetzt daran, sie wieder nach Deutschland zurückzutragen.
11 Feb 2017
## LINKS
[1] /Nach-Verfassungsreferendum-in-Italien/!5363204
[2] /Griechenland-hat-gewaehlt/!5022604
[3] /Griechenland-hat-gewaehlt/!5022604
[4] /Brexit-Plaene-der-britischen-Regierung/!5374246
[5] /Praesidentschaftswahl-in-Frankreich/!5378912
## AUTOREN
Martin Reeh
## TAGS
Lesestück Meinung und Analyse
Kanzlerkandidatur
EU
SPD
Martin Schulz
Europapolitik
Schwerpunkt Bundestagswahl 2025
Kanzlerkandidatur
EU-Kommission
EU-Kommission
Martin Schulz
Frank-Walter Steinmeier
Gerda Hasselfeldt
Schwerpunkt Bundestagswahl 2025
Demoskopie
Managergehälter
Lesestück Recherche und Reportage
## ARTIKEL ZUM THEMA
Debatte Schulz-Manie: Vertrauen auf das G-Wort
„Gerechtigkeit“ will der SPD-Kanzlerkandidat Martin Schulz zum Hauptthema
seiner Kampagne machen. Nur: Welche genau meint er?
Schulzologie: Ohne Gegenzauber
Die Union sucht nach einem Rezept gegen Martin Schulz – bislang erfolglos.
Eine aber tut, was sie am besten kann: auf die Fehler des Gegners warten.
Wirtschaftsprognose der EU-Kommission: Persilschein zum Weitermachen
Die EU-Kommission malt die Aussichten für die Eurozone rosarot: Trotz
weltweit hoher Risiken soll es in allen EU-Ländern endlich wieder aufwärts
gehen.
Chef der EU-Kommission Juncker: Keine zweite Amtszeit
2014 wurde Jean-Claude Juncker von den europäischen Staats- und
Regierungschefs zum EU-Kommissionsche ernannt. Erneut antreten will er
nicht.
Kolumne Die eine Frage: Polo mit Gerechtigkeitsturbo
Merkel oder Schulz – das ist ungefähr so wie die Wahl zwischen Golf Diesel
oder Polo Diesel. Es braucht aber eine politisch-kulturelle Alternative.
Zukünftiger Bundespräsident Steinmeier: Sozialkundelehrer der Nation
Am Sonntag wird Frank-Walter Steinmeier zum Bundespräsidenten gewählt. Der
SPD-Politiker hat vor, die Demokratie zu retten.
CSU-Politikerin Hasselfeldt über die Union: „Schulz turnt überall rum“
Die CSU-Politikerin Gerda Hasselfeldt über den Hype um den
SPD-Kanzlerkandidaten, die Laune der CDU-Kanzlerin und den Zustand der
Union.
Wahlforscher über „Martin-Schulz-Effekt“: „Schulz wird Farbe bekennen m�…
Will die SPD die Bundestagswahl gewinnen und Martin Schulz zum Kanzler
machen, muss sie Rot-Rot-Grün als reale Option in den Blick nehmen, sagt
Matthias Jung.
Sonntagsfrage Bundestagswahl: Zum Lichte empor?
Die neueste Forsa-Umfrage bestätigt den Trend: Die SPD legt zu. Aber für
mehr als eine Große Koalition reicht das vorerst nicht.
Vorstandsgehälter bei VW: Armutsrisiko für Manager
VW will Managergehälter auf 10 Millionen Euro begrenzen. Die SPD findet das
gut – obwohl sie Verantwortung für die Spitzensaläre trägt.
CDU/CSU und ihre Spitzenkandidatin: Merkel macht's offiziell nochmal
Die Union hat sich zusammengerauft – und Angela Merkel zur
Spitzenkandidatin gekürt. Doch der Schulz-Effekt macht ihr zu schaffen.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.