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# taz.de -- Zukünftiger Bundespräsident Steinmeier: Sozialkundelehrer der Nat…
> Am Sonntag wird Frank-Walter Steinmeier zum Bundespräsidenten gewählt.
> Der SPD-Politiker hat vor, die Demokratie zu retten.
Bild: Der Steinmeier Frank, eine sichere Bank
Berlin/München taz | „Oach-oah-mei!“, machen die Wahlleute, als das
Gespräch mit Frank-Walter Steinmeier in die Verlängerung geht. Erst
grummeln zwei Abgeordnete in der Ecke der CSU, dann wandert ein Stöhnen in
die Mitte des Saales und verschmilzt mit einem Seufzer aus den hintersten
Reihen zu einem einzigen Klagelaut.
Die bayerischen Delegierten hatten sich zusammengerissen, nur vier von
ihnen stellten Fragen. Die Veranstaltung könnte deshalb eine halbe Stunde
vor der Zeit enden. Die Abgeordneten dürften zurück in ihre Büros oder
weiter in die Ausschüsse. In diesem Moment aber hebt ein Gschaftlhuber von
den Freien Wählern doch noch die Hand und möchte etwas über Trump und den
Kreml wissen. Noch mal fünf Minuten Steinmeier. „Oach-oah-mei!“
Am Sonntag wählt die Bundesversammlung den SPD-Politiker, der als sehr
beliebt, aber etwas dröge gilt, zum neuen Bundespräsidenten. In den vier
Wochen vor dem Termin tourte der ehemalige Außenminister durch die
Bundesländer, um sich den Wahlleuten vorzustellen. Zum Abschluss steht er
am Dienstagnachmittag im Plenarsaal des Landtags in München.
Das ist nicht ganz so langweilig, wie es das Stöhnen der Abgeordneten
vermuten lässt. Denn vor der Fragerunde trägt der frühere Außenminister
seine Bewerbungsrede vor. Die reißt zwar nicht mit, bietet aber eine
Vorschau: Steinmeier verrät, was er in Bellevue zu seinem Thema machen
will. Wulff hatte die Integration, Gauck die Freiheit. Der neue
Bundespräsident nimmt sich die Demokratie vor.
„Ich werde Partei ergreifen für die Demokratie“, sagt Steinmeier. Er
spricht von Fliehkräften, die den Pluralismus herausfordern. Von
politischen Kräften, die daraus Kapital ziehen. Und von seiner Tochter und
deren Generation, die keine Zeitung mehr liest, sondern auf Facebook „in
Filterblasen nur noch mit ihresgleichen kommuniziert“.
## Für die Demokratie
Steinmeier will gegensteuern, als Sozialkundelehrer der Nation quasi.
„Vielleicht könnte eine Aufgabe des Bundespräsidenten darin liegen, Politik
zu erklären“, sagt er. „Zu berichten von den Dilemmata, vor denen wir
häufig stehen: Situationen, in denen es das einfache Richtig oder Falsch
nicht gibt.“
Es sind zum einen die Umstände, Trump, Le Pen und die AfD, die Steinmeier
dieses Thema aufzwingen. Es gibt aber auch ein Buch, von dem der Kandidat
in diesen Tagen oft erzählt. Er hat es als Jurastudent in Gießen gekauft
und kürzlich wieder aus dem Regal genommen.
In „Antidemokratisches Denken in der Weimarer Republik“ erklärt der
Politologe Kurt Sontheimer, wie die Nazis vor 1933 so groß werden konnten.
Steinmeier ist ein gewissenhafter Leser, er weiß also sicher, welchen
Fehler der Autor auf Seite 298 den Demokraten vorwirft: Sie hätten zu lange
abgewartet, statt die Republik „mit kämpferischem Elan“ zu verteidigen.
„Berlin ist nicht Weimar“, sagt Steinmeier, aber besorgt gemacht habe ihn
die Lektüre doch. Die Fehler von früher will der neue Präsident offenbar
nicht wiederholen. Er will gegenhalten, bevor es zu spät ist. Aber kann
denn ausgerechnet er, der Bürokrat aus Lippe, mit Elan für die Demokratie
kämpfen?
## Wo ist die Leidenschaft?
Im Plenarsaal des Landtags sitzt an diesem Nachmittag auch Christian
Springer. Am Abend spielt der 52-Jährige in der neuen Folge der Sendung
„Die Anstalt“ mit, auf dem Weg ins Studio hat er am Landtag gehalten. Die
Grünen schicken den Kabarettisten als Wahlmann in die Bundesversammlung.
Steinmeier sei unter den Kandidaten der beste, wird Springer später sagen.
Er habe aber auch etwas auszusetzen. In der Rede fragte der SPD-Politiker,
der einst die Agenda 2010 plante, was der Kitt sei, der die Gesellschaft
zusammenhalte. „Ich hätte es ihm sagen können: soziale Gerechtigkeit. Wenn
viele Menschen von ihrer Arbeit nicht mehr leben können, hilft alles Reden
über Demokratie nichts“, sagt der Kabarettist.
Und, das „Oach-oah-mei“ kommt eben nicht von ungefähr: Leidenschaft strahle
Steinmeier nicht aus. „Ich wünsche mir etwas mehr Feuer unterm Hintern,
wenn er im Amt ist. Womöglich ist er für die Politik gut so, wie er ist.
Aber ich fürchte, dass er für das Kabarett weniger bringt als seine
Vorgänger.“
Nun ist das mit der Leidenschaft bei Steinmeier so eine Sache: Für einen
Langweiler ist er ja ungewöhnlich interessant. Er bringt seine Zuhörer zum
Lachen. Er steht oft lässig am Rednerpult, schlägt ein Bein über das andere
und sieht dabei fast aus wie James Dean beim Tanken. Und er kann aus seinen
Jahren als Außenminister richtige Abenteuer erzählen, Scotch mit Lawrow,
Schmauchspuren in Kiew, solche Dinge.
## Die Spur der Akten
Spröde wirkt er nur aus zwei Gründen: Dass er den größeren Teil seines
Berufslebens zwischen Aktenordnern in Regierungszentralen verbrachte, hat
in seiner Sprache Spuren hinterlassen. Als in München, Minuten vor dem
„Oach-oah-mei“, ein Abgeordneter nach der Zukunft Europas fragt, antwortet
Steinmeier mit einem Satz, der exakt 60 Sekunden dauert und aufgeschrieben
13 Kommas beinhalten würde.
Dazu kommt: Steinmeier eckt selten an, und falls doch einmal, wegen der NSA
oder Guantánamo, bleibt nicht viel an ihm hängen. Er prescht eben selten
vor, startet keine Kontroversen, macht keine Alleingänge. Er macht es zwar
nicht immer allen recht, hört aber meistens allen zu – und wirkt auch
deshalb oft langatmig.
„Demokratie ist eben langatmig“, sagt Jürgen Trittin. Vor der
Grünen-Fraktion hat sich Steinmeier bereits in Berlin vorgestellt, und
selbst auf diesen Termin hätte Trittin verzichten können. Der Grüne lernte
den künftigen Präsidenten vor einem Vierteljahrhundert in Hannover kennen,
wo er selbst Minister war und der SPD-Mann in der Staatskanzlei saß. Später
trafen sie sich in Bonn wieder, als Umweltminister und Kanzleramtschef
unter Rot-Grün.
## Der Streitschlichter
Mit dem Atomausstieg hatte es Trittin damals eilig, während Gerhard
Schröder den Energiekonzernen entgegenkam. Beinahe hätte sich der Minister
mit dem Kanzler überworfen. „Das war von beiden Seiten nicht besonders
professionell“, sagt Trittin heute. „Dann kam Frank-Walter Steinmeier, hat
mit allen gesprochen, und am Ende hatten wir einen Konsens.“
Steinmeier als Streitschlichter, der die Frontmänner bändigt: Aufregend war
das schon damals nicht. Trittin sagt aber, genau diese Rolle habe
Steinmeier geholfen, später als Außenminister so beliebt zu werden. „Manche
begeistern eben nicht durch Jugendtümelei, sondern dadurch, dass sie
old-fashioned sind. Die Menschen hatten lieber einen langatmigen
Außenminister als einen, der so dumm daherredet wie sein Kollege aus
Österreich.“
Aber reicht es zur Rettung der Demokratie aus, beliebter zu sein als
Sebastian Kurz?
Man kann diese Frage an Anny-Jo Classen stellen, einer Zehntklässlerin aus
Lehnin in Brandenburg. Ihre Schule liegt in Steinmeiers Wahlkreis, und dort
probiert der künftige Präsident seit Jahren, wie er Jugendliche vor
Facebook retten und für Demokratie begeistern kann. „Junger Rat für
Frank-Walter Steinmeier“ nennt er das Projekt: Der Politiker stellt sich
einer Klasse vor und gibt ihr die Aufgabe, ein politisches Problem zu
erforschen. Später präsentieren ihm die Schüler das Ergebnis. „Sie begeben
sich in einen Streit und erkennen, dass man Kompromisse eingehen muss“,
sagt Steinmeier.
Im Oktober kam der Politiker in die Klasse von Anny-Jo Classen.
„Unglaublich sympathisch“ fand sie ihn, er habe viel erzählt und wirklich
zugehört. In den Wochen darauf diskutierten die Schüler über die Rente und
bastelten eine Wandzeitung, die sie demnächst nach Bellevue mitbringen
dürfen. Dass es eine große Rentenlücke gebe, steht darauf, und dass noch
immer eine Mindestrente fehle. „Ich glaube schon, dass uns das Projekt die
Demokratie näherbringt“, sagt Classen.
1:0 für Steinmeier. Bleiben nur noch zwei Fragen: wie viele Schulklassen
ein Präsident in fünf Jahren besuchen kann – und was er für all jene plant,
die er im Unterricht nicht erwischt.
11 Feb 2017
## AUTOREN
Tobias Schulze
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