# taz.de -- Martin Schulz’ politische Karriere: Der Europäer auf Abruf | |
> Er startete als Provinzpolitiker. Seine Karriere in Brüssel beendete | |
> Martin Schulz als machtbewusster Präsident des Europäischen Parlaments. | |
Bild: Immer nah am roten Teppich und den Mikrofonen: Martin Schulz beim EU-Gipf… | |
BRÜSSEL taz | Der Abschied aus Brüssel ist ihm nicht leicht gefallen. Aber | |
er war typisch für Martin Schulz. Nicht wie gewöhnliche Abgeordnete im | |
Pressesaal des Europaparlaments, sondern auf dem Podium für hohe | |
Staatsgäste verkündete Schulz im letzten November seinen Abschied von der | |
europäischen Bühne. | |
Auf Deutsch, Englisch und Französisch trug der Präsident sein „Adieu“ vor… | |
damit es auch alle Europäer mitbekommen. Es war eine Inszenierung, die | |
nicht bloß einen Ortswechsel, sondern das Ende einer Ära markieren sollte. | |
22 Jahre lang hat sich der heute 61-Jährige für die EU ins Zeug gelegt, | |
fünf Jahre hat er die Straßburger Kammer geführt. „Mehr Sichtbarkeit und | |
mehr Glaubwürdigkeit“ – das sind die Stichworte, mit denen Schulz seine | |
Leistung an der Spitze der Volksvertretung beschreibt. | |
Ein wenig Stolz klingt da mit, aber auch eine gehörige Portion Wehmut. | |
Schließlich war es hier, wo sich Schulz seine Statur erarbeitet hat – und | |
nicht in Berlin, wo er nun für die SPD die Kanzlerin herausfordert. Schulz | |
ist Deutschlands bekanntester Europapolitiker, bundespolitisch ist er ein | |
Anfänger. | |
## Als Hinterbänkler gestartet | |
Von all dem war nichts zu ahnen, als Schulz 1994 zum ersten Mal ins | |
Europaparlament gewählt wurde. Als Hinterbänkler ist er gestartet – | |
politische Erfahrung hatte er zuvor nur als Bürgermeister der Kleinstadt | |
Würselen bei Aachen gesammelt. | |
Eigentlich wollte er kein Politiker werden, sondern Fußballprofi. Doch das | |
klappte nicht und der junge Schulz tröstete sich im Alkohol. Schulz: | |
„Irgendwann sagte ich mir: Entweder mache ich einen radikalen Schnitt oder | |
ich gehe kaputt. Ich wollte mein Leben nicht wegwerfen: Mit 27 hatte ich | |
dann meine eigene Buchhandlung, von da an ging’s bergauf“. | |
In Straßburg stieg der Genosse aus der Provinz schnell zum Fraktionschef | |
der Sozialdemokraten auf. Vor allem sein lockeres Mundwerk und seine | |
kumpelhafte Art machten ihn bekannt und beliebt. International war er aber | |
immer noch ein Nobody – bis 2003, als Silvio Berlusconi kam. | |
Der italienische Ministerpräsident hielt eine Rede im Parlament und wurde | |
von Schulz unterbrochen. Da platzte Berlusconi der Kragen: „In Italien wird | |
gerade ein Film über die Nazi-Konzentrationslager gedreht, ich schlage Sie | |
für die Rolle des Lagerchefs vor“, fuhr er Schulz an. | |
Der Eklat war perfekt, die Attacke machte weltweit Schlagzeilen. Seitdem | |
ist Schulz ein Star. Doch hat er sich erst später, 2012, selbst erfunden. | |
Da wurde er zum ersten Mal zum Präsidenten des Parlaments gewählt. | |
Schulz versprach, die Straßburger Kammer zu einem Ort der „demokratischen | |
Debatte“ zu machen. Bisher dämmerte sie vor sich hin, nun wurde es richtig | |
munter. | |
Allerdings weniger für die Abgeordneten, umso mehr aber für ihren neuen | |
Präsidenten. Schulz lud sich selbst zu den EU-Gipfeln ein und präsentierte | |
sich so, als stehe er selbst einem Staat vor – der Europäischen Union. | |
## „Türsteher der Großen Koalition“ | |
Bei der Europawahl 2014 landete Schulz dann seinen größten Coup: Er | |
übernahm das bisher auf EU-Ebene völlig unbekannte Konzept des | |
„Spitzenkandidaten“ – und ließ sich selbst zum ersten Frontrunner der | |
Sozialdemokraten küren. | |
Das handelte ihm Hohn und Spott ein, zeigte aber Wirkung: Auch die | |
konservative Europäische Volkspartei – in der CDU und CSU mitarbeiten – | |
nominierte einen Spitzenkandidaten. Dass die Wahl auf Jean-Claude Juncker | |
fiel, war Pech für Schulz, aber irgendwie auch ein Glücksfall. | |
Denn die beiden kannten und verstanden sich gut. Fortan konnten sie | |
gemeinsam zur besten Fernsehsendezeit um die Gunst der Wähler streiten. | |
Wobei der Streit eher langweilig ausfiel – in den meisten Fragen waren sich | |
Schulz und Juncker schon damals einig, nach dem lahmen „Duell“ lagen sie | |
sich in den Armen. | |
Die Nähe nutzte allerdings vor allem dem Christsozialen Juncker. Bei der | |
Europawahl 2014 fuhr Schulz’ „Progressive Allianz der Sozialisten und | |
Demokraten“ (S&D) mit 25,4 Prozent ein miserables Ergebnis ein. Die | |
Fraktion verlor vier Sitze, Populisten und Nationalisten legten massiv zu. | |
Die Schulz-Show hatte nicht verfangen, Juncker wurde zum neuen Präsidenten | |
der EU-Kommission gewählt. Danach wurde es eine Zeit lang still um den | |
ehemaligen Buchhändler. Wenn schon nicht Kommissionschef, so wollte er nun | |
wenigstens EU-Kommissar werden – doch Merkel sagte Nein. Dem SPD-Mann blieb | |
nichts anderes übrig, als erneut das EU-Parlament zu übernehmen. | |
Wieder kungelte er mit den Schwarzen, um seine Wiederwahl zu sichern. | |
Schulz habe sich als „Türsteher der Großen Koalition“ verstanden, schimpf… | |
Fabio de Masi, Finanzexperte der Linken im Europaparlament. Der SPD-Mann | |
habe dafür gesorgt, dass zwischen der Großen Koalition in Berlin und der | |
heimlichen Allianz in Brüssel alles wie geschmiert lief. | |
Für Ärger sorgte auch die „G 5“, die Schulz mit Juncker aus der Taufe hob. | |
Bis ins Detail wurden in dieser fünfköpfigen Kungelrunde in einem feinen | |
Brüsseler Restaurant europäische Initiativen abgesprochen. | |
## Mit Macht, ohne Handschrift | |
Unter Schulz’ Ägide zogen Brüssel, Berlin und Straßburg an einem Strang. | |
Doch Grüne und Linke, die nicht in die Große Koalition eingebunden waren, | |
hatten dabei nichts zu lachen. | |
Selbst die Sozialdemokraten mussten zurückstecken. Unter der Führung ihres | |
machtbewussten Genossen konnten sie kaum eigene Akzente setzen. Im | |
Schuldendrama um Griechenland 2015 ging die sozialdemokratische Handschrift | |
völlig unter. | |
Im Wahlkampf hatte die SPD noch einen „Marshallplan für Griechenland“ | |
gefordert. Nun trat Schulz in deutschen Talkshows auf und forderte, | |
Premierminister Alexis Tsipras zu entmachten und eine | |
Technokratenregierung einzusetzen. | |
Hinterher lud Schulz Tsipras zwar zur Aussprache ein. Doch der Bruch mit | |
der Linken ist bis heute nicht gekittet. Profitiert hat davon ausgerechnet | |
die EU-feindliche Rechte. Nigel Farage und Marine Le Pen haben das | |
Parlament als Bühne genutzt – und einen Erfolg nach dem anderen | |
eingefahren. | |
Genau das hat Schulz eigentlich verhindern wollen. Und dass am Ende auch | |
noch ausgerechnet mit dem Italiener Antonio Tajani ein Berlusconi-Buddy | |
seine Nachfolge antritt, dürfte ihn zusätzlich wurmen. | |
Tajani wurde mit den Stimmen von Konservativen, Liberalen und EU-Skeptikern | |
zum neuen Parlamentspräsidenten gewählt. Die Sozialdemokraten finden sich | |
nach Schulz’ Abgang allein und machtlos wieder. Ein bitteres Erbe. | |
25 Jan 2017 | |
## AUTOREN | |
Eric Bonse | |
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