# taz.de -- Auf den Spuren von Martin Schulz: Würselen. Brüssel. Berlin? | |
> Der neue Kanzlerkandidat der SPD soll Politik lesen können wie ein | |
> Fußballspiel. Wer ist dieser Mann? Eine Reise zu seinen Anfängen. | |
Bild: Martin Schulz will da rein: Kanzleramt in Berlin | |
WÜRSELEN taz | Vor drei Jahren bekam Martin Schulz einen Preis | |
zugesprochen, der gut zu ihm passt: Der Schaustellerverband zeichnete ihn | |
mit dem „Goldenen Karussellpferd“ aus. Doch Schulz war krank und bat darum | |
seinen Bruder um Hilfe. Walter Schulz hat denselben spärlichen Haarwuchs, | |
eine ähnliche Brille und das gleiche Rasseln in der Stimme. | |
Nicht alle hätten bemerkt, dass er ein Double sei, erzählt Walter Schulz. | |
Er hörte sich die Laudatio von Hannelore Kraft an, nahm die Trophäe | |
entgegen und hielt die Dankesrede. In der Zeitung habe damals ein Foto von | |
ihm gestanden und darunter der Name seines Bruders, sagt Schulz und lacht. | |
Beide verbindet viel, und ohne Walter Schulz würde Martin Schulz demnächst | |
vielleicht nicht SPD-Vorsitzender werden. Als Martin anfängt, sich für die | |
Gespräche am Küchentisch zu interessieren, stellt der gut acht Jahre ältere | |
Walter gerade die Fragen, die man als Student damals stellte: Was habt ihr | |
gewusst, was habt ihr getan? | |
Mal wurde der Vater aufbrausend, mal ging er in den Keller und spielte | |
Geige. Stundenlang saß er auch am Fenster, biss sich in den Knöchel seines | |
Zeigefingers und starrte nach draußen. „Dann wusste ich, dass er gerade an | |
den Krieg denkt“, sagt Walter Schulz. | |
Die Mutter ist die Tochter eines Innungsmeisters, der in den 1930er Jahren | |
Juden bei seinen Verwandten in den Niederlanden versteckt. Ein | |
Antifaschist, den die Nazis wegen seiner Stellung in Ruhe lassen mussten. | |
Zwei Tage vor seinem Tod bekommt seine Tochter ihr fünftes Kind und nennt | |
es nach ihm: Martin. | |
## Sitzenbleiber und Trinker | |
Das erste Talent, das die Familie an ihm feststellt, ist sein Humor: Am | |
Radio hört er Charles de Gaulle und Nikita Chruschtschow zu, ohne ein Wort | |
zu verstehen, und macht sie brillant nach. Dann kommt der Fußball. Mit der | |
Jugendmannschaft von Rhenania Würselen bringt er es zum westdeutschen | |
Vizemeister. | |
Seine Geschwister sind erfolgreich im Beruf, haben alle auf ihre Weise | |
rebelliert, sind ihren eigenen Weg gegangen. Martin steht die Welt offen, | |
aber wo er auch hinkommt, seine Geschwister waren schon da. In der Schule | |
hat er dieselben Lehrer wie sein Bruder Walter, wird ständig an ihm | |
gemessen. Seine Talente werden nicht gewürdigt. Er lässt die Schule | |
schleifen, bleibt zweimal sitzen, konzentriert sich auf den Fußball. Profi | |
zu werden wäre etwas Eigenes – eine Karriere, die nicht schon vorgezeichnet | |
ist. | |
Wenn er nicht auf dem Bolzplatz steht, hängt er auf der anderen Seite der | |
Grenze rum: in Holland oder in Belgien. Auf der Straße dort lernt er | |
Französisch – so gut, dass er seinen Lehrer korrigieren kann. Doch er | |
spricht einen üblen Slang. Seine Noten bleiben schlecht. Die mittlere Reife | |
bekommt er nur, weil er verspricht, danach mit der Schule aufzuhören. | |
Schulz beginnt eine Ausbildung zum Buchhändler. Aber eigentlich träumt er | |
weiter von einer Profikarriere als Verteidiger. | |
## Jusos statt Fußball-Bundesliga | |
Ein alter Freund seines Bruders holt ihn damals zu den Jusos: Achim | |
Großmann. Er beobachtet, dass Schulz gut ankommt. Er ist ehrgeizig, klug, | |
witzig. Interessiert. Beide arbeiten sich in der SPD nach vorne. „Martin | |
kann Politik lesen wie ein Fußballspiel“, sagt Großmann. Er ist stolz | |
darauf, dass er es war, der dieses Talent an die Parteipolitik heranführte. | |
Schulz’ Ehrgeiz gilt aber dem Fußball – bis er sich am Knie verletzt und | |
seine Profipläne scheitern. Er stürzt ab. Im Buchladen taucht er immer | |
wieder zu spät auf und oft mit einer Fahne. Wenn er klar ist, macht er | |
einen guten Job. Er liest mehr als jeder andere im Laden. Aber er hat sich | |
nicht unter Kontrolle. Großmann verzweifelt an ihm. | |
Bruder Walter muss einspringen, damals hat er einen Buchladen in Bonn. Er | |
stellt seinen Bruder ein, seine Lebensgefährtin fährt Martin zur | |
Abschlussprüfung, um die er sich sonst nicht geschert hätte. Eines Tages | |
sieht Martin ein, dass es so nicht weitergehen kann, und lässt sich in eine | |
Klinik bringen. Ein halbes Jahr braucht er, um die Sucht unter Kontrolle zu | |
bringen. Dann beginnt er sein Leben noch einmal neu. | |
Er geht zurück nach Würselen und gründet einen Buchladen im Haus von Achim | |
Großmann. Beide steigen in der SPD auf. In dieser Zeit gründet Schulz auch | |
seine Familie. 1987 wird er ehrenamtlicher Bürgermeister von Würselen, | |
Großmann zieht zeitgleich in den Bundestag ein. | |
Schulz würde auch gern Karriere machen, vielleicht hätte er sogar Chancen | |
gegen Großmann, der kompetent ist, aber nicht das gleiche Charisma hat wie | |
Schulz. Ihn herauszufordern ist aber keine Option. „Er ist loyal“, sagt | |
sein Bruder. „Er wäre auch gegen Sigmar Gabriel niemals angetreten.“ Auch | |
Olaf Scholz hätte er unterstützt, wenn er beim ihm bessere Chancen für die | |
SPD gesehen hätte. | |
## Erst unkontrolliert, dann diszipliniert | |
Als Bürgermeister muss Schulz die Stadt „wieder auf die Füße stellen“, w… | |
sein Bruder sagt. Die Steinkohlezechen haben geschlossen, die Stadt braucht | |
neue Arbeitsplätze. Schulz stärkt die Wirtschaftsförderung, knüpft Kontakte | |
für seine Stadt und schafft es gleichzeitig, Kultur und Jugendangebote | |
auszuweiten. | |
So unkontrolliert Schulz früher war, so diszipliniert ist er jetzt. Er | |
arbeitet hart, führt jeden Abend Tagebuch, nie wieder trinkt er Alkohol. | |
Von seinen engsten Mitarbeitern verlangt er, auch nach langen Ratssitzungen | |
noch zu bleiben, um über die Ergebnisse zu beraten. Er kann sich | |
durchsetzen, weil er gleichzeitig für gute Stimmung sorgt. Auf den | |
zwölfstündigen Fahrten mit dem Reisebus in die französische Partnerstadt | |
steht er stundenlang am Mikrofon und unterhält die Reisegruppe. 1994 | |
lässt er sich ins Europaparlament wählen. | |
Als 1998 das Land Nordrhein-Westfalen hauptamtliche Bürgermeister einführt, | |
hört er auf und konzentriert sich fortan auf seinen Job in der EU. Gegen | |
Ende seiner Amtszeit in Würselen macht er einen Fehler: Gegen seine | |
Überzeugung stimmt er zu, von einem Investor ein überdimensioniertes | |
Spaßbad bauen zu lassen. Der Träger geht pleite, die Stadt hat den Schaden. | |
Bis heute belastet das Bad die Stadtkasse. | |
Schulz ist ein Netzwerker, das hilft ihm auch im Europaparlament, aber | |
genauso wie Großmann liegt ihm das Gekungel in den späten Runden nicht. | |
Beide pendeln, sooft es geht, abends von Bonn und Brüssel nach Würseln. | |
Dort wohnen sie nebeneinander und sitzen oft zusammen. Ihre Bereiche sind | |
zu unterschiedlich, als dass sie sich gegenseitig zu Ämtern verhelfen | |
könnten. Aber sie unterstützen sich, indem sie miteinander diskutieren. | |
Großmann wird Staatssekretär im Verkehrsministerium und bleibt es elf Jahre | |
lang. Schulz steigt zum Fraktionsvorsitzenden auf, dann zum Präsidenten | |
des Parlaments. | |
## Er droht den Mächtigen | |
Wenn Martin Schulz jemals ein Ziel hatte, dann hat er es jetzt erreicht. | |
Aber die Rolle des Parlamentspräsidenten missfällt ihm. Denn selbst er ist | |
nur Berater für die mächtige Runde der Staats- und Regierungschefs. Er will | |
aber Teil dieser Runde sein. Also macht er Druck, droht zu protestieren. | |
„Und wenn sie dich nicht reinlassen?“, fragt Großmann. | |
„Dann setze ich mich auf einen Stuhl davor“, sagt Schulz. „Und ich lasse | |
mich dabei filmen. Das wird denen nicht gefallen.“ Tatsächlich schafft er | |
es: Der Präsident des Parlaments darf seitdem an den Sitzungen teilnehmen. | |
Als Großmann diese Geschichte erzählt, sieht er aus, als könne er es noch | |
immer nicht ganz glauben. Er selbst hätte so eine Aktion nie gewagt. | |
Mit seinen Geschwistern bleibt Martin Schulz immer in Kontakt. Wenn Walter | |
im Stadion des 1. FC Köln sitzt, muss er seinen Bruder per SMS auf dem | |
Laufenden halten. Auch seiner Heimat bleibt Schulz treu. Wenn er sich | |
vorstellt, tut er das als Bürgermeister von Würselen, „der Stadt, in deren | |
Schatten Aachen relativ gut gedeihen konnte“. | |
Er taucht noch immer bei Rhenania auf, dem Fußballverein seiner Jugend, | |
oder im Ortsverein der SPD. Und er wirkt dort nicht wie ein Fremder. Er | |
kann die Leute mit Geschichten zum lachen bringen, die sie selbst miterlebt | |
haben. „Das von Martin zu hören, ist etwas ganz anderes“, sagt Walter | |
Schulz. „Er kann eine alte Geschichte so erzählen, dass sie wieder spannend | |
ist.“ | |
Auch die Geschichte des Europawahlkampfs erzählt er neu. 2014 lässt er sich | |
zum ersten europaweiten Spitzenkandidaten küren und zwingt so die anderen | |
Parteienfamilien, ebenfalls jemanden aufzustellen. Die Sozialdemokraten | |
bekommen mehr Stimmen als bei der Wahl davor, aber es reicht für Schulz | |
nicht, um Kommissionspräsident zu werden. Darum bleibt er | |
Parlamentspräsident, bis er das Amt gemäß einer Absprache für die | |
Konservativen frei machen muss. | |
Die Zeiten sind nicht einfach, auch die Rechtspopulisten haben | |
hinzugewonnen. Schulz muss sie im Zaum halten, die AfD schießt sich auf ihn | |
ein. „Die hassen ihn“, sagt Walter Schulz. „Sie hassen, dass er die Sprac… | |
der Leute spricht, die sie selbst erreichen wollen.“ | |
27 Jan 2017 | |
## AUTOREN | |
Christoph Herwartz | |
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