# taz.de -- Stadtportrait Würselen: Ein Ort, gesprochen wie ein Verb | |
> Würselen war in der Nachkriegszeit eine große Nummer im Fußball. Dann | |
> versank es mitsamt Linksverteidiger Schulz in der Bedeutungslosigkeit. | |
Bild: Hier dominiert geklinkerte Ödnis: in der Kanzlerkandidatenstadt Würsele… | |
WÜRSELEN taz | Würselen, jene 39.000-Seelen-Gemeinde gleich bei Aachen, ist | |
städtebaulich, sagen wir es dezent, von der Muse nur flüchtig geküsst. | |
Geklinkerte Ödnis dominiert, eine satireverdächtige Radwegführung und | |
Gesichtslosigkeit bis zum Horizont mit den Abraumhalden im ehemaligen | |
Aachener Steinkohlerevier. Immerhin, es gibt mehrere Ampeln, fünf Hotels, | |
einen Sportflughafen, Reo in Burkina Faso als Partnerstadt und „ein | |
Gewässer 2. Ordnung: Wurm“, so die Stadtinfo. | |
Die Wurm heißt das Flüsslein übrigens, nicht der und mäandert sehr | |
romantisch dahin. 1967 brachte es Würselen zu bundesweiter Berühmtheit, als | |
der Ortsteil Bardenberg das Finale der europäischen | |
TV-Schmierseifengroteske „Spiel ohne Grenzen“ (ja, mit Moderator Camillo | |
Felgen) gewann. Der Goldpokal steht immer noch im Rathaus. Die | |
Bürgermeister heute heißen Nelles und Bülles. | |
Würselen, das sich Würseln spricht, als wäre der Ort ein Verb, hat andere | |
Stärken. Es gibt eine merkwürdig fußballaffine Würze in den Stadtgenen: | |
Torsten Frings ist hier geboren (79 Länderspiele, Vizeweltmeister 2002, | |
derzeit Trainer von Bundesligist Darmstadt) ebenso wie Jupp Kapellmann | |
(Bayern München, Weltmeister 1974) und Joachim Löws Vorvorvorvorvorgänger | |
Jupp Derwall. Hinzu kommen Alemannia Aachens Legenden Jupp Martinelli und | |
Günter Delzepich, jener Zweimeter-Zweizentner-Zweitligabriegel, der in den | |
70er und 80er Jahren karrierelang nie einen Pressschlag verlor. | |
Kurios: Beide schlugen nach der Sportkarriere die Beamtenlaufbahn ein und | |
wurden Amtsleiter bei der Stadt Aachen (Rasen-Vollstrecker Delzepich: | |
Vollstreckungsbehörde). Und in Würselen reicht offenbar schon ein bekannter | |
Fußball-Name, um zumindest regional prominent zu werden: Wie zum Beispiel | |
Willi Lemke, ein surrealistischer Maler und Bildhauer. | |
## Kleine Stadt, einst großer Verein | |
Und die kleine Stadt beheimatete einst einen großen Fußballverein: SV | |
Rhenania Würselen 05. Die Rhenanen spielten 1948–1950 sogar in der höchsten | |
deutschen Spielklasse der damiligen Zeit: Oberliga West; in einer Liga mit | |
Größen wie Dortmund, Köln, Rot-Weiss Essen und Schalke. Das entscheidende | |
Tor zum Aufstieg 1948 hatte ein noch minderjähriges Talent mit Namen Jupp | |
Derwall geschossen. Im Vereinslied heißt es bis heute: „… sogar der | |
Schalker Kreisel wurde hier geknackt, auch die Alemannia wurde hier | |
vernascht …“ Und einmal 5:1 auf dem Aachener Tivoli gewonnen. 5:1! | |
Jupp Derwall brachte es bald zum Nationalspieler, war dann sechs Jahre | |
Bundestrainer und coachte die DFB-Elf zum Europameistertitel 1980 und zum | |
Vizeweltmeister 1982. Bei Galatasaray Istanbul (zwei Meistertitel) wurde er | |
heftig verehrt und initiierte einen Boom deutscher Trainer am Bosporus | |
(Daum et al). Würselen gedenkt seiner mit einer Jupp-Derwall-Straße. | |
Der wahrscheinlich besonderste Rhenania-Trainer war Emanuel Schaffer, ein | |
polnischer Jude, geboren 1923. Seine Eltern und drei Schwestern wurden 1940 | |
in ihrer Wohnung von Nazis ermordet, während Emanuel zufällig noch in der | |
Schule war. 1958 war er nach seiner aktiven Zeit als Fußballer (sechs | |
Länderspiele für Israel) nach Köln gezogen und machte bei Hennes Weisweiler | |
an der Sporthochschule sein Fußballlehrerdiplom. Um Praxiserfahrungen zu | |
sammeln und das Studium zu finanzieren, trainierte er den Verbandsligisten | |
Rhenania Würselen (3. Liga damals), intensiv und hart, wie es heißt; | |
nebenbei machte er Weisweiler mit seiner späteren Ehefrau Gisela bekannt. | |
Schaffer wurde Israels Nationaltrainer und schaffte bis heute Einmaliges: | |
Sein Land qualifizierte sich für eine WM (1970). Als Weisweiler, mit dem | |
Schaffer bald eine Freundschaft verband, Trainer bei Borussia | |
Mönchengladbach war, gelang den beiden ein besonderer Coup. Borussia flog | |
zur Vorbereitung auf die WM im Februar 1970 als erste deutsche Elf zu einem | |
Freundschaftsspiel nach Tel Aviv. Borussia gewann 6:0, und die Zuschauer | |
feierten Netzer & Co mit Standing Ovations. „Also, ich verstehe die Welt | |
nicht mehr“, soll ein Vertreter der deutschen Botschaft schon in der | |
Halbzeitpause gesagt haben, „wir mühen uns jahrelang in kleinen Schritten | |
um Wiederherstellung des Vertrauens zu uns Deutschen, wohingegen Sie nur 45 | |
Minuten benötigen, um einen Freudentaumel auszulösen.“ | |
Israel feierte bei der WM ein 0:0 gegen Italien. Bald wurde Schaffer wegen | |
seiner Trainerakribie „der Deutsche“ genannt, ein bemerkenswerter Titel für | |
einen Schoa-Überlebenden. 2012 starb Schaffer mit 89 Jahren. Die Jüdische | |
Allgemeine schrieb, er sei ein Mann gewesen, „der durch seine Liebe zum | |
Fußball Grenzen überwand und das Verhältnis Israels zu Deutschland | |
entscheidend geprägt hat“. Und schob noch eine Anekdote nach: „Ab jetzt | |
trainieren wir dreimal“, habe Schaller seinen Spielern einmal erklärt. „An | |
welchen Tagen?“, hätten sie darauf gefragt. „Sie konnten nicht glauben, | |
dass Schaffer dreimal täglich meinte.“ | |
## „Gut, trotz Martin“ | |
Ein paar Jahre nach Schaffers Würselener Zeit trat bei Rhenania auch der | |
fußballverrückte Schüler Martin Schulz nach dem Ball und wurde 1972 als | |
Linksverteidiger mit der B-Jugend westdeutscher Vizemeister. Beim 1:7 im | |
Finale gegen Schalke schoss sein Gegenspieler Rüdiger Abramczik, in der | |
Bundesliga später als Flankengott gefeiert, allerdings fünf Tore, weshalb | |
ein früherer Mitspieler heute freundlich lästert: „Wir waren nicht wegen | |
Martin so gut, sondern trotz Martin.“ Eine schwere Knieverletzung bald | |
danach beendete alle Träume des Martin Schulz, einmal Spieler von der | |
Güteklasse Abramczik stoppen zu können. Ohnehin stellte der Würselener | |
SPD-Kanzlerkandidat kürzlich klar: „Für Profifußball hätte es bei mir | |
sowieso nie gereicht.“ | |
Fußball und Würselen sind auch die Ingredienzen, die den so authentisch | |
wirkenden Martin Schulz einer kleinen Schummelei überführen. Im April 2012 | |
war er mit alten Rhenania-Weggefährten, wie er erzählte, beim | |
Bundesligamatch Dortmund gegen Stuttgart – „Das beste Spiel, das ich seit | |
langem gesehen habe.“ Gesehen ist indes nur die dreiviertel Wahrheit: Nach | |
gut 70 Minuten (Spielstand 2:0) trafen Schulz & Friends eine fatale | |
Fehlentscheidung. Sie verließen das Stadion und konnten die sensationelle | |
Schlussphase mit dem Endergebnis von 4:4 nur noch im Autoradio verfolgen. | |
Um sich sehr zu ärgern. | |
Mit Rhenania ging es steil bergab. Heute kickt der Klub in der Kreisklasse | |
A – das ist Liga 9, derzeit Tabellenplatz 10, weit hinter Columbia | |
Donnerberg, aber wenigstens knapp vor DJK Armada Euchen-Würselen. Das | |
Stadion mit überdachter Sitzplatztribüne könnte 2.000 Besucher fassen. Ein | |
Niedergang, der zu Martin Schulz’ Biografie (frühe Fußballkarriere, | |
Schulabbruch, Alkoholismus, Bürgermeister, EU-Großpolitiker) ebenso passt | |
wie zu seinem glühendem Fantum zum 1. FC Köln – jenem Verein, der wie kaum | |
ein anderer für hemmungslosen Absturz und gloriosen Aufschwung steht und | |
den Schulz „eine lose verkoppelte Anarchie“ nennt. | |
Jetzt aber scheint Würselens Renaissance vielfältig eingeleitet: Die | |
Geschwister Anna (18) und Yannick (22) Gerhardt, geboren ebenda, spielen | |
beide Bundesliga (sie: FC Bayern, er: VfL Wolfsburg). Die Firma | |
GoalControl, die als erste die rechnergesteuerte Torlinientechnik im | |
Fußball einsetzte (WM 2014), hat in Würselen ihren Sitz. | |
Neben der aufgelebten Fußballszene gibt es mittlerweile eine tolle | |
Freilichtbühne („Burg Wilhelmstein“) und die angeblich „größte Wanduhr… | |
und Standuhrenausstellung der Welt“. Das städtische Gymnasium hat im Januar | |
den 1. Preis für das beste digitale Unterrichtsprojekt („iPad-Klasse“) in | |
Deutschland gewonnen, und Rhenania das letzte Spiel. Für Würselens | |
endgültige Auferstehung muss jetzt nur noch dieser Exkicker Schulz zum | |
deutschen Fußballkanzler gewürselnt werden. | |
2 Feb 2017 | |
## AUTOREN | |
Bernd Müllender | |
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