# taz.de -- Porträt SPD-Spitzenkandidat Schulz: Der Lautsprecher | |
> Sein Herz trägt Martin Schulz sehr weit vorn auf der Zunge. Manchmal ist | |
> das riskant. Der Sozialdemokrat will EU-Kommissionspräsident werden. | |
Bild: Hat eine realistische Chance auf den Sieg: Martin Schulz, Spitzenkandidat… | |
ESSEN/WISMAR/KIEL taz | Martin Schulz verschränkt die Arme. Er steht auf | |
einer Uferböschung in Essen-Altendorf, kneift die Augen zusammen und hat | |
eine Idee. Es ist die erste von sehr vielen Ideen dieses Tages. | |
„Ihr müsst dat Altendorfer Meer nennen, dat Ding da unten.“ Der Präsident | |
des Europaparlaments schaut triumphierend in die Runde, dann wieder auf den | |
– gerade umgetauften – Niederfeldsee. Ein neu angelegtes Erholungsgebiet, | |
Bauzäune, sauber gepflasterte Wege, cremeweiße Neubauten mit Loggien. | |
Ein Meer? Nordrhein-Westfalens Justizminister lächelt vorsichtig. Schulz | |
läuft schon weiter, er hat wirklich wenig Zeit. Der Minister, die | |
Landtagsabgeordnete und der Ratsherr, alle von der SPD, halten mühsam | |
Schritt. Ein paar hundert Meter weiter, Ecke Amixstraße, stoppt der Tross | |
vor einer Baustelle. Auf dem Schild prangt schon wieder der gelbe | |
Sternenkreis auf blauem Grund, das Zeichen der Europäischen Union. | |
Schulz muss jetzt erst mal eine Story erzählen. Die erste von sehr vielen | |
dieses Tages. In ihr kommen ein hoher EU-Diplomat vor, Namen tun nichts zur | |
Sache, und Schulz selbst, klar. „Also, dann kam der tatsächlich in mein | |
Büro und fragte, wer denn diese Firma Feder sei.“ Schulz läuft schon wieder | |
los. „Die bauten ja überall in Spanien, ihr Name stehe auf allen | |
Schildern.“ | |
## Die Schulz-Show | |
Feder, der Fonds européen de Développement régional, ist der wichtigste | |
Geldtopf der EU für arme Regionen. Schulz’ Lachen hallt durch die | |
Arbeitersiedlung. | |
4,2 Millionen Euro aus dem Topf durfte die Stadt Essen für den | |
Niederfeldsee verbauen, 77.000 Euro an der Amixstraße. Früher war das hier | |
ein Problemviertel mit vielen Arbeitslosen und Migranten, heute ziehen | |
junge Akademikerfamilien her. Brüssel hilft: Deshalb ist Schulz hier. | |
Es ist Europawahlkampf in Essen-Altendorf, oder besser: Es ist die große | |
Schulz-Show. Der Parlamentspräsident tourt als Spitzenkandidat der | |
europäischen Sozialdemokraten durch ganz Europa. Nach der Wahl am 25. Mai | |
will Schulz Kommissionspräsident werden und damit der mächtigste Mann in | |
der EU. | |
## Er piesackte Berlusconi | |
Im Moment sieht es so aus, als würde es eng zwischen den beiden großen | |
Parteienfamlien. Schulz hat eine realistische Chance. Er könnte Jean-Claude | |
Juncker, den Kandidaten der Konservativen, wirklich schlagen. | |
Schulz möchte die Leute mit der EU versöhnen. Ihnen erklären, dass die EU | |
mehr ist als willkommenes Geld. Mehr als eine ferne Bürokratie, die unnütze | |
Richtlinien erlässt. Die EU ist für Schulz ein historisches Projekt. Und | |
sie ist, ganz nebenbei, auch das Projekt seines eigenen Lebens. Schulz, der | |
fließend Englisch, Französisch und Niederländisch spricht, ist längst eine | |
große Nummer in Brüssel. | |
Er piesackte den Italiener Silvio Berlusconi 2003 im Parlament, bis der ihm | |
empfahl, die Rolle des Kapo in einem italienischen Film zu übernehmen. Die | |
Beschimpfung machte Schulz berühmt, er wurde zum Berlusconi-Bezwinger. Seit | |
zwei Jahren ist Schulz Parlamentspräsident. Er erkämpfte sich den Zutritt | |
zu den Runden der Regierungschefs, er organisierte das Veto des Parlaments | |
gegen das Datenabkommen Swift, er bekam eine Privataudienz beim Papst. In | |
seinem alten Nokia-Handy, von dem die silberne Farbe abblättert, ist die | |
Nummer von Angela Merkel gespeichert, wie Schulz gerne und oft erzählt. | |
Bis Schulz kam, hatte ein Parlamentspräsident in den Plenardebatten | |
gemessen zu schauen und an den richtigen Stellen mit der Glocke zu bimmeln. | |
Schulz, der zu einer gewissen Großmäuligkeit neigt, füllte das Amt mit | |
Machtanspruch. Er wandte das Prinzip der sich selbst erfüllenden | |
Prophezeiung an. Schulz wurde wichtig, weil er behauptete, wichtig zu sein. | |
In dieser Logik ist das Kommissionspräsidium nur der nächste Schritt. Nur | |
die Kommission darf in der EU Gesetze und Richtlinien vorschlagen, der Rat | |
und das Parlament beraten und segnen ab. Würde Schulz es an die Spitze der | |
Kommission schaffen, wäre er der erste Deutsche in dem Amt seit über 50 | |
Jahren. Zuletzt war Walter Peter Hallstein Kommissionsvorsitzender der | |
Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft. Die Rolle Deutschlands hat sich | |
seither stark geändert. Schulz sagt: „Meine Kandidatur ist die Chance, die | |
eindimensionale Wahrnehmung Deutschlands in Europa zu ändern.“ Darin steckt | |
eine gewisse Dialektik. Die SPD spielt in Deutschland die nationale Karte. | |
## Wie ein Duracell-Häschen | |
Eine Gratwanderung, die nur klappt, weil die Partei Schulz’ Kandidatur als | |
demokratische Sensation inszeniert. Erstmals könnten die Menschen direkt | |
bestimmen, wer Kommissionspräsident werde, verspricht Europawahlkampfchef | |
Matthias Machnig. Schulz soll helfen, eine gesamteuropäische Öffentlichkeit | |
zu schaffen. Er soll den steten Abwärtstrend der europäischen | |
Wahlbeteiligung stoppen. Und er soll die SPD von ihrem 20,8-Prozent-Trauma | |
befreien. So viel holte die Partei bei der Europawahl 2009 in Deutschland. | |
Schulz absolviert seit Wochen ein Irrsinnsprogramm, reist von Warschau nach | |
Essen nach Lissabon und erzählt eine Story nach der anderen. Sechs Städte | |
am Tag, sechs Stunden Schlaf in der Nacht, 90 bis 100 Stunden Wahlkampf in | |
der Woche. Seine Augen schauen gerötet unter schweren Augenlidern hervor, | |
darunter dicke Tränensäcke. | |
Es wirkt, als habe die Sozialdemokratie ein Duracell-Häschen auf eine | |
Landkarte Europas gesetzt, das trommelnd von Stadt zu Stadt wetzt. Warum | |
reibt Schulz sich für solch ein Europa auf? Gibt es da noch ein anderes | |
Motiv als die Lust an der Macht? | |
Ein Jugendtreff in Essen, bunte Vorhänge, selbst gebastelte Schmetterlinge | |
an der Decke, ein Buffet mit Käsepickern. Schulz quetscht sich an einen | |
Tisch neben sechs Teenager. Ihre Eltern stammen aus Nigeria, Indien, Irak | |
oder aus der Türkei. Er fragt, wie der Jugendtreff so ankomme, wie der | |
Mädchentag sei, was die Eltern dazu sagten, dass sie hierherkämen. Er hört | |
ruhig und interessiert zu, aber dann muss er schnell noch eine Story | |
erzählen. | |
## Ein nahbarer Typ | |
Er habe als Würselener Bürgermeister mal einen Freund gefragt, wie er | |
Frauen auf Türkisch höflich signalisieren könne, dass er sehr unter | |
Zeitdruck stehe. Der Freund sprach ihm ein paar Sätze vor, Schulz spricht | |
sie laut nach. Zwei Mädchen kichern los. „Wisst ihr, wat dat heißt?“, fra… | |
Schulz die anderen. „Dat heißt: Jetzt mach voran, ich muss los. Dat war ne | |
richtig fiese Möp, dieser Freund.“ | |
Schulz ist ein nahbarer Typ. Ein Gemütsmensch, der Lieder der Bläck Fööss | |
in rheinischem Dialekt mitsingen kann, spontan Gedichte vorträgt und | |
wirklich gerne mit Menschen plaudert. Ihm fehlt die Aura des Bedeutenden, | |
die viele Spitzenpolitiker umgibt. Er sagt: „Als Politiker müssen Sie den | |
Mittelweg zwischen Distanz und Ranschmeiße finden.“ | |
Für sein Ziel, Europa den Menschen wieder nahezubringen, ist all dies ein | |
Vorteil. Schulz trägt Glatze und einen am Kinn grau gewordenen Vollbart, | |
seine tropfenförmige Doppelstegbrille huldigt den 80er Jahren. Steckte er | |
nicht in diesen gut sitzenden Anzügen, man könnte ihn sich leicht in der | |
Sparkasse nebenan vorstellen. | |
Als Schulz im Januar 2012 in Straßburg zum Parlamentspräsidenten gewählt | |
wurde, saßen 60 Leute aus seiner Heimat auf der Tribüne. Freunde aus seiner | |
Heimatstadt Würselen, Nachbarn, Fußballkumpels vom S. V. Rhenania 05, seine | |
Geschwister. Und Peter Kremer, 75 Jahre, sein alter Volksschullehrer, zu | |
dem er bis heute Kontakt hält. „Martin ist sich treu geblieben“, sagt | |
Kremer, CDU-Mitglied, Träger des Ehrentellers der Stadt Würselen. „Der ist | |
einer von uns. Volksnah, aber ohne Volkstümelei.“ | |
Storys aus Würselen erzählt Schulz besonders gerne. Hier verbringt er noch | |
heute Zeit mit seiner Frau Inge, hier zogen sie beide Kinder groß. Hier | |
ging Schulz in den 60ern auf die katholische Knabenschule in der | |
Lehnstraße, dann auf das Heilig-Geist-Gymnasium. Er brach die Schule ab, | |
begrub nach einer Knieverletzung Träume von einer Profifußballkarriere, | |
versank im Alkohol und besiegte ihn mit Anfang 20. Er eröffnete eine | |
Buchhandlung, trat in die SPD ein, wurde mit 31 Jahren Bürgermeister von | |
Würselen. Mit 38 ging er nach Straßburg. Jetzt, mit 58, will er | |
Kommissionspräsident werden. | |
## Premium-Präsidentegebäck | |
Ein aufgeräumtes Büro im fünften Stock des Berliner Willy-Brandt-Hauses, | |
hinter bodentiefen Fenstern die Dächer Kreuzbergs. Schulz zieht den Teller | |
mit Keksen zu sich herüber, schirmt ihn mit dem Arm ab und steckt ein | |
Waffelröllchen in den Mund. „Dat is Premiumgebäck für den Präsidenten.“ | |
Was will er tun, wenn er es schafft? Drei Punkte, Schulz reckt Daumen, | |
Zeige- und Mittelfinger in die Luft. Erstens: Europa müsse die | |
Jugendarbeitslosigkeit bekämpfen. „Unsere Kinder zahlen für eine Krise, die | |
sie nicht verursacht haben.“ | |
Zweitens: Es sei nicht hinnehmbar, dass Spekulanten Milliardengewinne | |
machten, aber keine Steuern zahlten. „Und wenn sie Milliardenverluste | |
machen, zahlt der Steuerzahler.“ | |
Drittens: Ihm gehe es um Mitbestimmung. „Viele Leute haben von der EU die | |
Nase voll. Gestrichen. Ich verstehe das auch. Sie haben das Gefühl, da | |
sitze eine anonyme Macht in Brüssel, die über ihr Leben bestimmt.“ | |
Diese Sätze könnte Schulz in fernsehtauglichen 12 Sekunden aufsagen, würde | |
man ihn nachts aus dem Tiefschlaf wecken. Er sagt sie in der Dortmunder | |
Fußgängerzone, in der Alten Reithalle in Wismar, in der Sparkassen-Arena in | |
Kiel. Wahlkampfsprech, das er aber en détail mit Richtlinienentwürfen | |
unterlegen kann, falls gewünscht. Die SPD erklärt Schulz’ Kurs zur | |
Alternative zu Angela Merkels Sparpolitik. Doch gerade im Konkreten werden | |
die Unterschiede kleiner. | |
Ein Beispiel liefert TTIP, das Freihandelsabkommen zwischen den USA und | |
Europa. Eigentlich ist Schulz ein überzeugter Anhänger. Doch viele | |
SPD-Wähler vermuten hinter dem Abkommen einen konspirativen Akt, bei dem | |
sich Großkonzerne gegen die Verbraucher verschwören. Also würzt Schulz | |
seine Reden neuerdings mit einer Prise Skepsis. | |
## „Doppelzüngige Auftritte“ | |
In Bremen warten rund 300 Menschen unter einem runden Zeltdach, das die SPD | |
vor dem gotischen Rathaus auf dem Marktplatz aufgespannt hat. Schulz | |
bekommt viel Applaus, aber als er über das Abkommen redet, hält fast die | |
Hälfte der Menschen stumm schwarze Schilder in die Luft: „Stoppen Sie | |
TTIP!“ Wer glaube, mit dem Abkommen europäische Standards aushöhlen zu | |
können, finde in ihm einen Gegner, ruft Schulz. | |
Er ist klug genug, nicht gegen Mehrheiten Wahlkampf zu machen. Und er weiß: | |
Wer Kommissionspräsident werden will, sollte die konservativen | |
Regierungschefs und Abgeordneten nicht allzu sehr verprellen. | |
In den letzten zwei Jahren verhandelte das Parlament mit dem Rat der EU | |
seinen Finanzrahmen bis 2020. Schulz forderte zum Auftakt der Verhandlungen | |
lautstark mehr Geld. Am Ende nickte er ein Budget ab, das sogar kleiner war | |
als das vorherige. „Mit solch doppelzüngigen Auftritten schwächt Martin | |
Schulz das Parlament, statt es zu stärken“, sagt Sven Giegold, | |
Europaspitzenkandidat der Grünen. | |
Schulz legt seine Rolle als Präsident im Wahlkampf großzügig aus. Er | |
widmete zum Beispiel im März seinen Twitter-Account um. Plötzlich schrieb | |
nicht mehr der Parlamentspräsident den – damals – 80.000 Followern, sondern | |
der Spitzenkandidat. Alle Vorwürfe, er missbrauche sein Amt für | |
Wahlkampfzwecke, ließ Schulz mit bemerkenswerter Lässigkeit von sich | |
abtropfen. | |
## Warum macht er das? | |
Er denkt gar nicht daran, das Amt wegen der Kandidatur ruhen zu lassen. | |
Wäre das in Deutschland denkbar, würde sich Bundestagspräsident Norbert | |
Lammert als Bundeskanzler bewerben? | |
Vielleicht kann man es so zusammenfassen: Die Schulz-Story kommt nicht ohne | |
innere Widersprüche aus. In dem Büro im Willy-Brandt-Haus ist es jetzt Zeit | |
für eine große Frage. Herr Schulz, wenn man die Macht, die Lust am | |
Gestalten, an der eigenen Bedeutung mal beiseitelässt – warum machen Sie | |
das überhaupt? | |
Schulz atmet tief ein, tja, wo anfangen. Dann erzählt er von seiner | |
Familie. Von seinem Vater Albert, Polizeibeamter, elfter Sohn eines | |
saarländischen Bergmannes, Sozi durch und durch. Von der Mutter Clara, | |
streng katholisch, die 1946 die CDU in der Heimatstadt mitgründete. Beide | |
verband der Hass auf die Nazis. Sie erzogen ihre fünf Kinder bei Aachen, | |
ein paar Kilometer von der niederländischen und der belgischen Grenze | |
entfernt. Martin war der Jüngste, er kam zehn Jahre nach Kriegsende zur | |
Welt. | |
Wie in vielen deutschen Familien wirkte der Weltkrieg jahrzehntelang nach. | |
Ein Bruder der Mutter, Spezialist für die Räumung von Landminen, meldete | |
sich zu Aufräumarbeiten in Belgien, trat auf eine Mine und starb. Im | |
Frieden, kurz nachdem er die Front in Russland überlebt hatte. Die Mutter | |
konnte über diesen Bruder nie sprechen, erzählt Schulz in dem Büro. „Es war | |
ein Familientrauma.“ | |
Als er den Führerschein hatte, fuhr er sie Jahr für Jahr am 14. November | |
zum Soldatenfriedhof in Lommel, Flandern. „Wir beide im Auto, schweigend, | |
sie weinend, das waren bizarre Touren.“ Das sei so ein Grund, warum er für | |
Europa kämpfe, sagt Schulz. Auch wenn das vielleicht etwas pathetisch | |
klinge. Schulz wischt sich über die Augen. Seltsam sei das: Je älter man | |
werde, desto näher habe man am Wasser gebaut. | |
Es sind Momente wie diese, in denen einem Martin Schulz sehr sympathisch | |
sein kann. Da rast ein Spitzenpolitiker ohne die üblichen Sicherungsnetze | |
durch Europa. Und, nein, pathetisch klingt sein Grund, für Europa zu sein, | |
eigentlich nicht. | |
## Bisweilen etwas unpräzise | |
In keiner seiner Reden fehlt der Hinweis darauf, wie wertvoll der | |
Staatenbund sei, allein weil er im 20. Jahrhundert Frieden auf dem | |
Kontinent gestiftet habe. „Wir dachten, die Friedensdividende Europas sei | |
abgehakt“, sagt Schulz mit Blick auf die Ukrainekrise. Er muss gar nicht | |
ergänzen: Aber sie ist es nicht. | |
Auch der Kampf gegen rechts zieht sich durch seine Biografie. Die | |
Intimfeindschaft mit Berlusconi ist nur die prominenteste Fußnote. Schulz | |
hat den FPÖ-Politiker Heinz-Christian Strache einen Nazi genannt, er | |
liefert sich scharfe Rededuelle mit dem britischen Rechtspopulisten Nigel | |
Farage. Den Symbolwert, der darin steckt, dass da im Europäischen Parlament | |
immer ein Deutscher aufsteht, um die Rechten über Geschichte zu belehren, | |
kann man kaum überschätzen. | |
Allerdings ist es in der Politik nicht immer von Vorteil, sein Herz ganz | |
vorn auf der Zunge zu tragen. Schulz’ Art, Politik zu betreiben, volksnah | |
ist im besten Sinne, zuspitzend, oft ehrlich. Aber sie hat auch etwas | |
Unpräzises. Ab und zu rutschen ihm die Dinge im Eifer des Gefechts weg, und | |
er überschreitet die feinen Grenzlinien der Diplomatie. | |
Im Februar besucht er Israel, er darf auf Deutsch in der Knesset reden. | |
Schulz’ Rede ist klug, wohlwollend, auch freundschaftlich kritisch. Dann | |
passiert es. Schulz wiederholt eine Frage, die ihm ein palästinensischer | |
Jugendlicher bei einem Termin am Morgen stellte: „Wie kann es sein, dass | |
Israelis 70 Liter Wasser am Tag benutzen dürfen und die Palästinenser nur | |
17?“ Nationalreligiöse Abgeordnete stürmen aus dem Saal, Premier Netanjahu | |
verweigert den Applaus. | |
Die Zahlen stimmten nicht. Die Stelle stand auch nicht in Schulz’ | |
Manuskript, das seine Mitarbeiter und er sorgfältig redigiert hatten. Er | |
hatte, wenn man so will, schnell noch eine Story erzählt. | |
Am frühen Abend dieses Wahlkampftages wartet auf dem Rollfeld des | |
Flughafens Dortmund eine Fairchild Metro, zwei Propeller, 19 Sitze. Schulz | |
kriecht geduckt hinein. Der Pilot erklärt kurz, in welcher Buchse man im | |
Fall des Falles die Sauerstoffmaske anschließen soll. Dann startet er | |
durch, die Maschine bebt, die Journalisten schauen sich zweifelnd an. | |
Schulz hat sich in die vorletzte Reihe gequetscht, er erzählt noch schnell | |
eine Story. In ihr kommt ein Regierungschef mit Flugangst vor, Namen tun | |
nichts zur Sache, und Schulz selbst, klar. | |
Plötzlich faucht es laut in der Decke. Allen Medienleuten steht auf der | |
Stirn geschrieben: Da wird gerade definitiv eine europäische Norm nicht | |
erfüllt. „Ha!“ Schulz’ Stimme übertönt das Fauchen. „Dat passiert je… | |
damit ihr die EU schätzen lernt!“ Ihm macht es wirklich Spaß, dieses | |
Europa. | |
14 May 2014 | |
## AUTOREN | |
Ulrich Schulte | |
## TAGS | |
Europawahl 2014 | |
Martin Schulz | |
Europa | |
Sozialdemokraten | |
SPD | |
Kanzlerkandidatur | |
Martin Schulz | |
Martin Schulz | |
Martin Schulz | |
Schwerpunkt TTIP | |
EU-Kommission | |
Sven Giegold | |
Berlin | |
Rente | |
Wahlwerbung | |
Beppe Grillo | |
EU-Kommission | |
Europawahl 2014 | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Auf den Spuren von Martin Schulz: Würselen. Brüssel. Berlin? | |
Der neue Kanzlerkandidat der SPD soll Politik lesen können wie ein | |
Fußballspiel. Wer ist dieser Mann? Eine Reise zu seinen Anfängen. | |
Martin Schulz erhält den Karlspreis: Auszeichnung für Mr. Europa | |
Das musste früher oder später ja passieren: SPD-Politiker Martin Schulz, | |
als EU-Parlamentspräsident Vorkämpfer für die mehr europäische Demokratie, | |
erhält 2015 den Karlspreis. | |
Kommentar Martin Schulz' Machtpolitik: Der Hinterzimmerkungler | |
Es ist noch nicht lange her, da schimpfte Martin Schulz laut auf die | |
Hinterzimmer-Politik in Brüssel. Nun betreibt der EU-Parlamentspräsident | |
sie selbst. | |
Kommentar SPD-Werbung: Schulz spielt die nationale Karte | |
Kurz vor der Wahl wirbt SPD-Kandidat Martin Schulz mit Schwarz-Rot-Gold. | |
Damit zeigt der vermeintliche Supereuropäer sein wahres Gesicht. | |
Kommentar SPD und TTIP: Dafür und dagegen | |
Traditionell ist die Sozialdemokratie ideologisch flexibel. Doch ihre | |
unklare Haltung zum Freihandelsabkommen wird ihr im EU-Wahlkampf zur | |
Bedrohung. | |
Kommissionspräsident wird nicht gewählt: EU-Wähler werden getäuscht | |
Nicht der Wähler entscheidet wer EU-Kommissionspräsident wird, sagt der | |
Europaexperte Lüder Gerken. Das bestimmen allein die Staatschefs. | |
Grüner Europa-Spitzenkandidat Giegold: Der Protestant | |
In sechs Jahren vom Neumitglied zum Spitzenkandidaten. Eine Blitzkarriere | |
mit besonderer Logik: Sven Giegold meint es eben ernst. | |
Parteitag der Berliner SPD: Parteichef Stöß darf weitermachen | |
Die eigene Partei im Umfragetief, der Regierende unbeliebt. All das | |
thematisierte Jan Stöß nicht. Wiedergewählt wird er dennoch. Aber nicht mit | |
einem Traumergebnis. | |
Kommentar Alter und Job: Arbeitgeber, hört auf zu heucheln! | |
Die Rente mit 63 plus eine Phase der Arbeitslosigkeit könnte die | |
Frühverrentung befördern, warnen Arbeitgeber. Das ist lächerlich! | |
TV-Spots zur Europawahl (3/3): Amoklauf mit Kinderwagen | |
Klassenkampf, Homophobie und ein Jein zu Europa: Die 9 besten Spots in | |
unserer absolut objektiven und sachlichen Kurzkritik. | |
Anfeindungen gegen Martin Schulz: Parlamentspräsident in Nazi-Uniform | |
Silvio Berlusconi hat EU-Parlamentspräsident Martin Schulz mit einem | |
KZ-Wächter verglichen. Fünf-Sterne-Chef Beppe Grillo sieht das offenbar | |
ähnlich. | |
Spitzenkandidaten zur EU-Wahl: Gesichter für die Wahlfreude | |
Erstmals gibt es Kandidaten für den Vorsitz der EU- Kommission. Ob diese | |
Personalisierung gegen die Wahlmüdigkeit hilft? | |
TV-Duell vor der Europawahl: Wie im Kinderfernsehen | |
Harmonie statt Kontroverse und Diskussionen auf Grundschulniveau. Den | |
Kandidaten fehlte im TV-Duell vor allem eins: eine Idee von Europa. |