# taz.de -- Literaturfestival in Berlin: Es beginnt mit einem einzelnen Wort | |
> Im Literarischen Colloquium Berlin traf sich bei „Empfindlichkeiten“ eine | |
> internationale Top-Auswahl queerer Schriftsteller*innen. | |
Bild: Wer stempelt wen ab? | |
Abgestempelt werden. Wer sich für den Festivalpass entschieden hat bei | |
„Empfindlichkeiten“ am Literarischen Colloquium Berlin (LCB), dem stempeln | |
sie mit pinker oder blauer Tinte das Wort „homo“ auf die Haut. Schrift auf | |
den Körper. „Schrift“ und „Körper“ sind auch schon zwei der Leitmotiv… | |
diese drei Tage auf dem queeren Literaturfestival am Wannsee durchziehen | |
sollen. „Maske“ ist das dritte. | |
Die Begriffe sind gegriffen aus dem Standardvokabular von Hubert Fichte | |
(1935–1986), dem wohl radikalsten Denker über Schwulsein in der alten | |
Bundesrepublik. 1963/64 war er auch einer der ersten Schriftstellergäste am | |
LCB, und noch diesen Sommer könnte er ein kleines Revival erleben, da die | |
Briefe an seine Herzensfreundin, die Fotografin Leonore Mau, im S. Fischer | |
Verlag erscheinen, unter dem Titel „Ich beiße Dich zum Abschied ganz zart“. | |
Mit vierzig geladenen Autor*innen und Menschen aus der | |
Literaturwissenschaft sowie Musik (der Rapperin Sookee und dem | |
Transgender-Reggae-Sänger Msoke) handelt es sich um die größte | |
Einzelveranstaltung, die das LCB je auf die Beine gestellt hat. Darunter | |
sind Stars wie der 23-jährige Franzose Édouard Louis, dessen | |
autofiktionaler Coming-Out-Roman „Das Ende von Eddy“ letztes Jahr durch die | |
Decke ging. Oder der junge Kanadier Raziel Reid, dessen Debüt „Movie Star“ | |
in seinem Heimatland den wichtigsten Jugendbuchpreis bekam – woraufhin | |
Menschen prompt eine (mutmaßlich homophobe) Petition starteten, die | |
verlangte, ihm den Preis wieder abzuerkennen. | |
Geladen am LCB sind Leute aus der ersten Liga deutschsprachiger Literatur | |
(Antje Rávic Strubel, Gunther Geltinger) sowie spannende internationale | |
Stimmen. Etwa die 25-jährige Grönländerin Niviaq Korneliussen, deren Roman | |
„Homo Sapienne“ auf der größten Insel der Welt erstmals Homosexualität z… | |
Thema machte. Schriftsteller*innen aus der Türkei (Perihan Mağden, Ahmet | |
Sami Özbudak) sind mit von der Partie so wie aus Russland und Polen. Oder | |
Saleem Haddad, der in Kuwait geboren wurde, in Jemen, Syrien und Irak | |
gearbeitet hat. Einige warten schon gespannt auf die deutsche Übersetzung | |
seines in London vielgelobten Debüts „Guapa“. | |
Die künstlerische Leitung des Festivals (Samanta Gorzelniak und Thorsten | |
Dönges) hat sich von Hubert Fichte auch zur Ausgangsfrage verführen lassen, | |
die aus dessen „Geschichte der Empfindlichkeit“ von 1982 stammt: „Gibt es | |
so etwas wie einen Stil der Homosexuellen, gibt es homosexuelle Romanciers | |
im Gegensatz zu Schriftstellern mit homosexuellen Neigungen?“ Eine | |
Provokation, zweifellos, denn wer wollte nach der Lektüre einiger Sätze | |
zielsicher benennen, ob einem bestimmten Text ein spezifisch homosexueller | |
Stil zu eigen sei? Dass es aber eben doch einen Unterschied macht, aus | |
einer Sicht oder zumindest Lage heraus zu schreiben, in der die eigene | |
Liebes- und überhaupt Lebenswelt radikal in Frage gestellt oder | |
totgeschwiegen wird, sollte wenig wundern. | |
## Alles queer von Sappho über Shakespeare | |
Beim Festivalprogramm setzt man (nach einer bekenntnishaft | |
emotionalisierenden Eröffnungsrede des marokkanischen Schriftstellers | |
Abdellah Taïa am Donnerstagabend) neben Performances und Live-Musik | |
vorwiegend auf thematische Panels tagsüber und Lesungen abends. „Schrift“, | |
„Körper“ und „Maske“ als Überschriften einzelner Diskussionen erweise… | |
zwar als brauchbare Schlagworte; oft werden die Gesprächsfäden dann aber | |
weiter gespannt. Das Publikum war am Eröffnungsabend staatstragend chic, | |
wurde im Lauf der Tage aber mehr casual. | |
Der Literaturwissenschaftler Robert Gillett vom Queen Mary College aus | |
London hat sichtlich seine Freude daran, gleich zu Beginn die drei | |
angebotenen Begriffe über den Haufen zu werfen. Es gebe ja keine Körper an | |
sich, so Gillett, sondern nur Diskurse über Körper, die wiederum Ausdruck | |
von Macht seien. Auch vom Etikett einer spezifisch queeren Literatur hält | |
er nichts – da sowieso alle Literatur von Sappho über Shakespeare nicht | |
heterosexuell sei. | |
Dass aber genau das nicht Common Sense ist – darum geht es der irischen | |
Autorin Hilary McCollum. Sie sorgt sich darum, dass lesbischen Frauen in | |
der (Literatur-)Geschichte quasi nicht auftauchen. „Heißt das, wir | |
existieren nicht?“ In ihren eignen historischen Romanen versucht McCollum, | |
die Lücken der historischen Aufzeichnungen mit lesbischen Figuren zu | |
vervollständigen. Auch Angela Steidele betont auf dem Podium, dass gerade | |
lesbische Liebe unsichtbar gemacht worden war – nicht zuletzt weil | |
Philosophen der Aufklärung sie für unmöglich erklärt hatten. Literatur als | |
„Medium des doppelten Sprechens“ sei aber, so Steidele, sehr wohl in der | |
Lage gewesen, lesbische Geschichten zu erzählen, wenn auch maskiert. | |
## Wie schreibt man „schwul“ auf Arabisch? | |
Saleem Haddad hatte sich schon vorab in seinem Kurzessay (fast alle | |
Beteiligten reichten ebensolche ein) der Frage gestellt, wie sich auf | |
Arabisch das „homosexuell“ schreiben lässt. Die Vokabeln seien entweder | |
körperlich-abwertend oder westlichen Sprachen entlehnt: „kweerieh“ nach dem | |
englischen „queer“. Gerade versuchten arabische Queer-Aktivist*innen | |
allerdings auch sich „shaath“ (das „seltsam“ bedeutet) anzueignen, um es | |
von seinem Stigma zu befreien. Er selbst, erzählt Haddad beim Panel, hasse | |
Identitätspolitik eigentlich ja, komme aber als queerer Araberer gar nicht | |
umhin, sich mit ihr auseinanderzusetzen. Zugleich halte er es für | |
unmöglich, als Autor queere Menschen aus Dutzenden arabischen Ländern zu | |
repräsentieren. | |
Doch obgleich Repräsentation schwierig ist, ist Identifikation, zumal für | |
junge queere Leser*innen ein wichtiger Punkt. Der Schweizer Autor Alain | |
Claude Sulzer erzählt davon, wie er mit 13 Jahren auf Papier das erlebte, | |
was im echten Leben noch undenkbar für ihn war: „Das, worauf ich wartete, | |
hatte bereits auf mich gewartet.“ Heute aber, meint er, in Zeiten anderer | |
Medien, sei das sicherlich nicht mehr nötig, und Literatur spiele ja auch | |
nicht mehr diese Rolle. | |
Der junge Kanadier Raziel Reid widerspricht ganz vehement: Das Internet sei | |
zwar Ort von unbegrenzten Informationen, aber die könnten einem, anders als | |
Bücher, nicht identittätsstiftend das Gefühl schenken, dazuzugehören. Auch | |
Édouard Louis erzählt davon, dass er sich als schwuler Jugendlicher | |
bestimmten Büchern näher fühlte als seiner gewalttätigen Familie. Obgleich | |
er heute skeptischer sei, da Bücher nur Privilegierten offenstünden: „Die | |
Frage sollte sein: Wem wird in Büchern die Repräsentation verweigert?“ | |
## Soll man weinen? | |
Solche Impulse gelangen im Festival immer wieder an die Oberfläche, wenn | |
die Autor*innen wirklich aufeinander reagieren und sich von den eingangs | |
aufgestellten Schlagworten weiter lösen. Es wäre zu hoffen, dass solche | |
Gespräche bei einer zweiten Ausgabe des Festivals ihre Fortsetzung finden. | |
Wenn Gay-Literature dank gesellschaftlicher Transformation eines Tages | |
überflüssig würde, schreibt Festivalgast Luisgé Martín, sollte man ihr | |
keine Träne nachweinen. Aber, so schlägt er die Volte: „Homosexuelle werden | |
immer in der Minderheit sein, werden immer diejenigen lieben, die ihre | |
Liebe nicht erwidern können.“ Ein empfindlicher Punkt, bar jeder Politik, | |
ganz psychologisch: Abweisung. | |
Zu Beginn des Festivals stand auf WC-Türen „Damentoilette“ bzw. | |
„Herrentoilette“ in schwarzern Lettern auf weißem Holz. Rasch aber hat | |
jemand mit bunten Plakaten darunter dazu animiert, diese Denkgrenzen zu | |
überwinden. Kein banaler Punkt: Literatur beginnt bei einzelnen Wörtern, | |
Zeichen und Codes. Solchen, die den Blick verengen, und solchen, die ihn | |
weiten. Am Ende ist die Sicht über den Wannsee viel klarer. | |
17 Jul 2016 | |
## AUTOREN | |
Stefan Hochgesand | |
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