| # taz.de -- Mit Sappho in der Unibibliothek: Bibben bis zur Bürgerlichkeit | |
| > Studieren, ohne sich Sorgen ums Geld machen zu müssen, ist schön. Aber es | |
| > geht dabei auch etwas verloren, stellt unsere Autorin fest. | |
| Bild: Vorhölle der Bürgerlichkeit: Der Saal der einsamen Herzen in der Leipzi… | |
| Umgeben von Studierenden, die ihre iPads in Aldi-Tüten verstauen und | |
| Pullover mit der Aufschrift „Favela“ tragen, sitze ich in der | |
| [1][Unibibliothek] und versuche zu schreiben. In Leipzig ist die Bib kein | |
| Ort zum Arbeiten. Bibben ist Lifestyle. Es gibt einen ganzen | |
| Verhaltenskodex. Wer im Westflügel sitzt und ein Zopfgummi am Handgelenk | |
| trägt, ist datebar. | |
| Ich sitze nie im Westflügel. Mein Platz ist zwischen den Regalen im offenen | |
| Magazin. In der Bib fühle ich mich wie ein Imposter. Gefühle einer | |
| klassischen Aufsteigerin. Aufgewachsen mit Hartz IV, jetzt 1er-Abitur. | |
| Meine Mutter erzählt mir, dass ich als Grundschulkind sagte: „Mama, ich | |
| muss studieren.“ Mein Begehren, Teil dieser Welt zu sein, bleibt. Aber je | |
| länger ich in ihr stattfinde, fange ich an, an ihr zu zweifeln. | |
| Die antike Dichterin [2][Sappho] nannte Begehren „süßbitter“. Für sie ist | |
| es die Gleichzeitigkeit von Lust und Schmerz. „Wenn ich dich begehre, geht | |
| ein Teil von mir verschwunden“, schrieb sie. In der Bib wird mir die | |
| Ambivalenz meines Begehrens klar, schließlich schreibe ich einen Text mit | |
| einer griechischen Dichterin als Referenz. | |
| Was von mir verschwunden ist: die Nonkonformität. | |
| ## Fast ein Bürojob | |
| Acht Stunden in der Bibliothek zu verbringen ist fast ein Bürojob. Abends | |
| folgen dann Sportkurse, Plena, am Wochenende Party. Das ist er, der | |
| Fahrplan ins spießbürgerliche Leben. Das Tragische daran: Routine erstickt | |
| die Lebendigkeit. | |
| Wo sind die Tage geblieben, an denen ich laut Musik aus einer Box im Zug | |
| gehört habe? Als ich nicht wusste, wo ich schlafen würde, und am Ende in | |
| Hausprojekten in Athen oder Wien landete? Oder die Schule schwänzte, um mit | |
| meinen besten Freund*innen unter einer Brücke sprayen zu gehen? | |
| Früher lebte ich oft einfach in den Tag hinein. Zugegeben, das hatte nicht | |
| immer einen schönen Hintergrund: Hartz IV ließ gar nicht zu, dass man sich | |
| ambitioniert etwas aufbaut. Es ging ums nackte Überleben. Das war in erster | |
| Linie scheiße, aber es zwang mich, kreativ zu werden. Wenn ich schwimmen | |
| gehen wollte, blieb mir nichts anderes übrig, als nachts in Freibäder | |
| einzubrechen. Auf Reisen habe ich eher in Hausprojekten als in Airbnbs | |
| gepennt. | |
| Jetzt sitze ich in der Bibliothek. Mein Alltag ist strukturiert im farblich | |
| sortierten Kalender, in dem Freund*innen genauso als Termine auftauchen | |
| wie meine Uni-Seminare. Das spießige Leben nistet sich ein. | |
| Nicht mehr mit existenziellen Sorgen aufzuwachen ist tendenziell geil, | |
| trotzdem kann ich es nicht ignorieren: Bürgerlichkeit ist langweilig. Und | |
| Bibben ist die Vorstufe zum bürgerlichen Leben. | |
| Ist es das, was du wolltest, als du gesagt hast, du musst studieren? Meine | |
| Mutter hatte damals mit „Ich glaube, studieren ist nichts für dich“ | |
| geantwortet. Mama, I am smart, warum denkst du so? | |
| ## Die Illusion bricht | |
| Jetzt, wo ich in der Bib sitze, verstehe ich, was sie meint. Die Leute hier | |
| sehen cute aus. Manchmal schaue ich auch in den Westflügel, erhasche den | |
| Blick einer Person mit Zopfgummi um den linken Arm (oder war es der rechte? | |
| Ich bin mir nicht mehr sicher). Aber die Illusion bricht schnell. Wie | |
| interessant kannst du sein, wenn du hier acht Stunden auf ein geregeltes | |
| Leben hinarbeitest? Die Wahrheit ist, auch ich bin langweiliger geworden, | |
| seitdem ich studiere. | |
| Ob die Lösung ist, den Laptop zuzuklappen, Sapphos Gedichte zur Seite zu | |
| legen und mal wieder in ein Freibad einzubrechen? Ich weiß es nicht. Die | |
| Angst davor, was passiert, wenn die Routine wegbricht, ist ebenso präsent | |
| wie die Spontanität, die ich so sehr vermisse. | |
| Sappho schreibt in einem ihrer Texte: „Ich weiß nicht, was ich tun soll, | |
| zwei Geisteszustände in mir …“, und bricht dann ab. | |
| 5 Jan 2025 | |
| ## LINKS | |
| [1] /Universitaet-Leipzig/!t5296224 | |
| [2] https://www.swr.de/swrkultur/wissen/die-dichterin-sappho-antikes-sprachgeni… | |
| ## AUTOREN | |
| Jona Rausch | |
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