# taz.de -- Roman von Rafael Chirbes: Nenne die Pest nicht beim Namen | |
> Eine Liebesgeschichte zwischen zwei Männern im Paris der achtziger Jahre | |
> bildet den Schlussstein des Werks von Rafael Chirbes. | |
Bild: Genauer Blick, der alles sezieren kann: Rafael Chirbes | |
Ein Chronist, das ist ein Autor, der die eigene Zeit mit wachem Verstand | |
schreibend mitvollzieht, in dessen Romanen man seine Epoche wiedererkennt, | |
klarer und detailreicher, als man sie selbst erinnert. Der Valencianer | |
Rafael Chirbes hat in den vergangenen zwanzig Jahren eine ganze Reihe | |
hervorragender Romane geschrieben, die desillusioniert die Entwicklung der | |
spanischen Gesellschaft vom Bürgerkrieg bis zur Finanzkrise abbilden. | |
Angeheizt von Subventionen und Spekulationen berauschte sich das Land seit | |
dem Ende der Diktatur am eigenen Aufschwung. | |
Chirbes war das suspekt. Er bemerkte die verschwiegenen sozialen Verluste, | |
bemerkte die individuellen seelischen Verletzungen. So konnte er sich, wenn | |
auch spät, als einer der großen Erzähler des Landes etablieren, kritischer | |
und sperriger als andere. Dass er für seine beiden großen | |
gesellschaftskritischen Romane „Krematorium“ und „Am Ufer“ jeweils mit … | |
wichtigen Premio de la crítica ausgezeichnet wurde, ist ein Zeichen der | |
späten Anerkennung in Spanien. | |
Sein letzter Roman, „Paris-Austerlitz“, ist ein schmales Büchlein, eine | |
intime Liebesgeschichte. Aber dieses Buch ist nichts Geringeres als der | |
Schlussstein, den Chirbes seinem literarischen Werk setzt. Auch dessen | |
Beginn war unscheinbar. Im Jahr 1988 erschien der kurze Roman „Mimoun“. Er | |
spielt in Marokko, wohin ein junger Spanier ausgezogen ist, um das Leben | |
kennenzulernen, die Fremde und auch die Männer. Wenn „Paris-Austerlitz“ von | |
der Liebe zwischen zwei Männern erzählt, wenn sie im Text französisch | |
miteinander reden, wenn der Erzähler ein junger spanischer Künstler ist, | |
knüpft Chirbes deutlich an seinen Erstling an und führt das Thema in | |
melancholischer Abschiedsstimmung zum bitteren Ende. | |
Chirbes hatte 1996 begonnen, an „Paris-Austerlitz“ zu arbeiten. 2015, als | |
er schon mit dem tödlichen Lungenkrebs zu kämpfen hatte, beendete er die | |
Arbeit an dem Manuskript. Ein junger spanischer Maler und ein älterer | |
Franzose, Fabrikarbeiter, gehen im Paris der 80er Jahre eine | |
Liebesbeziehung ein. Da die Geschichte sich in Rückblenden entfaltet, weiß | |
man, dass der Ältere, Michel, an Aids erkrankt ist und in ein Hospital | |
kommt, wo der junge Erzähler ihn besucht. | |
## Leidenschaft und Angst | |
Aids wird hier nie beim Namen genannt, der Erzähler wagt die bedrohliche | |
Krankheit nicht auszusprechen. Stattdessen ist von der „Pest“ die Rede (im | |
spanischen Text „la plaga“ oder „el mal“) – eine Art Bann, der sprach… | |
die schiere Furcht des Erzählers abbildet. Er scheut sich nicht nur, den | |
Sterbenden zu berühren: als dieser ihm Wäsche mitgibt, bringt er sie aus | |
Sorge, sich anzustecken, zu einer Wäscherei, obwohl er selbst eine | |
Waschmaschine besitzt. | |
Chirbes gestaltet in Handlungen wie dieser das Trauerspiel um Liebe, Furcht | |
und Tod. Der Erzähler beobachtet das selbst, wenn er sich der Liebe zu | |
Michel erinnert. „Doch unter dieser Haut, in diesem Körper, der wie ein | |
Atlas der menschlichen Knochen wirkte, was war da noch übrig von dem Mann, | |
der mich angezogen hatte.“ | |
Langsam, geradezu zärtlich entfaltet Chirbes die Geschichte dieses | |
ungleichen Paares. Der junge Mann verliert sich für ein paar Monate in dem | |
Pariser Viertel, er verliert sich in der Beziehung zu Michel. Er zieht, | |
vorübergehend mittellos, bei seinem Freund ein. „Am Ende des Monats tranken | |
wir zu Hause die vorsorglich am Lohntag besorgten Flaschen und sahen nackt | |
Fernsehen und verschlangen einander.“ Es ist für einen Moment eine | |
vollendete Gegenwart, bis der junge Mann beginnt, seiner Zukunft wieder | |
mehr zuzutrauen. Als er von seiner großbürgerlichen Mutter in Paris besucht | |
wird, tritt die Entfremdung der Liebenden vollends zutage. | |
## Ein gefährliches Spiel | |
Denn ihre Milieus, ihre Lebensgeschichten begleiten sie mehr, als sie es | |
sich eingestehen. Sie bringen beide ihre seelischen Nöte mit, sie klammern | |
sich aneinander, und ihre Leidenschaft verdeckt ihre Angst. Der junge | |
Spanier nennt ihre Beziehung „ein gefährliches Spiel“, als er begreift, wie | |
sehr jeder den anderen um seiner selbst willen liebt, wie sehr sie sich | |
gegenseitig brauchen und benutzen. Sich selbst entlarvt er im Rückblick: | |
War es überhaupt Liebe, was er empfand? Liebe kennt keine Adverbien, sagt | |
er selbst. Es gibt nicht ein bisschen oder ganz viel Liebe. So klingen die | |
Selbstzweifel, die ihn heimsuchen. | |
Aber es ist Chirbes’ Kunst, dass er hier keine letzten Schlüsse über die | |
beiden zulässt. Wie viel an diesem Scheitern ist dem Milieu geschuldet, wie | |
viel den unterschiedlichen Temperamenten, den unterschiedlichen | |
Auffassungen von Liebe? Wie viel ist dran an den Selbstbezichtigungen, an | |
den Rechtfertigungen des Erzählers? Darüber gibt es keine Gewissheit. | |
Allen Büchern von Chirbes ist gemeinsam, mit welcher Genauigkeit sie den | |
schier unaushaltbaren Verrat in Liebe und Freundschaft vermessen, die | |
Illoyalität, die vor allen entschuldbar sein mag, aber nicht vor sich | |
selbst. Chirbes legt das mühsam Versteckte offen: So ist es, so sind wir, | |
es ist ein Elend. Diese unbedingte Aufrichtigkeit machte sein Werk zu einem | |
großen erzählerischen Erlebnis. „Paris-Austerlitz“ ist sein schöner, | |
trauriger Ausklang. | |
1 Feb 2017 | |
## AUTOREN | |
Hans-Christian Riechers | |
## TAGS | |
Paris | |
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Spanien | |
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