Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Filmdrama „Einfach das Ende der Welt“: Liebe als Drohung
> Einmal mehr widmet sich der kanadische Regisseur Xavier Dolan dem Thema
> Flucht aus der Familie. „Einfach das Ende der Welt“ heißt sein neuer
> Film.
Bild: Sie werde ihn immer lieben, sagt Martine (Nathalie Baye) ihrem Sohn Louis…
Heimat ist ein Hafen, aber auch der Ursprung allen Übels. Der einzige Ort
im Leben, den sich niemand aussuchen kann; an dem Menschen zum ersten Mal
lieben und hassen, Gewalt erfahren und ausüben. Ein Ort, an dem sie
erstmals realisieren, dass die Familie nicht die Menschheit und das Zuhause
nicht die Welt ist.
Für Louis (Gaspard Ulliel) war die Familie ein Gefängnis. Vor zwölf Jahren
verließ er sie ohne Ankündigung in Richtung Großstadt, wurde erfolgreicher
Schriftsteller – und kehrte nie wieder zurück. Bis zu dem Tag, an dem er
beschließt, seiner Familie persönlich etwas mitzuteilen: dass er Aids hat
und bald sterben wird.
Doch das ist schwieriger als gedacht. Bereits in den ersten Sekunden, in
denen er durch die Haustür des großzügigen Hauses tritt, entlockt er der
Familie, die seinen Weggang nie verarbeitet hat, eine große Bandbreite
kontrastierender Gefühle. Nervös, aber voller Vorfreude, wütend, aber
womöglich zur Vergebung bereit, steht sie gelähmt im Flur, überspielt ihre
Unsicherheit mit Floskeln, den Übersprungshandlungen emotionaler
Unbeholfenheit.
„Einfach das Ende der Welt“ des kanadischen Regisseurs Xavier Dolan ist ein
Film der bohrenden Blicke und nuancierten Gesten. In dem Gesichtsausdrücke
ganze Geschichten von Enttäuschung und Wut erzählen. Die Kamera schaut
nicht weg, wenn das lachende Gesicht der Schwester Suzanne (Léa Seydoux),
die Louis nie richtig kennengelernt hat und ihn dennoch liebt wie niemand
sonst, in nur wenigen Sekunden zu einem weinenden wird. Wenn sich das
Schwarz in den Augen der verschroben-sympathischen Mutter (Nathalie Baye)
in eine Leere verwandelt, oder sich in Louis’ Lächeln die Furcht
einschleicht, den wahren Grund seines Besuchs zu nennen.
Auch das Mikrofon hört nicht weg, wenn die verbalen Verletzungen
entgleisen. Vor allem Antoine (Vincent Kassel), Louis’ jähzorniger älterer
Bruder, sublimiert seine Verzweiflung in Aggression. Beim gewollt
harmonischen Lunch im blühenden Garten beleidigt er alle solange, bis die
Situation eskaliert, Suzanne schreiend in ihr Zimmer rennt, um zu kiffen,
Antoine auf den Dachboden flüchtet, die Mutter sich ins Gartenhaus
verkriecht, um heimlich zu rauchen. Dorthin folgt ihr Louis zu der wohl
schönsten Szene des Films. Eines dürfe er nie vergessen, sagt die Mutter,
die auch ohne das Bekenntnis zu ahnen scheint, dass ihr Sohn nie
wiederkommen wird, und erhebt drohend den Zeigefinger: Sie werde ihn immer
lieben.
## Konventioneller als die Vorgänger
Liebe als Drohung, das ist ein perfektes Sinnbild für diese Familie, die
auch ein Paradebeispiel für die symbolische Gewalt innerhalb dieses bis
heute noch mächtigen Einschließungsmilieus ist: Familie als Schlachtfeld
der verwundeten Seelen. Dolan seziert Gefühle und ihre wohl am wenigste
geeignete Botschafterin, die sprachliche Kommunikation, in all ihrer
Ambivalenz so akribisch, dass unvermeidlich Ingmar Bergmans Filme in den
Sinn kommen, der mit „Szenen einer Ehe“ ein Meisterstück über pathologisc…
Beziehungen drehte. Wie der schwedische Regisseur kehrt Dolan, der bereits
mit 19 Jahren seinen ersten Film, „Ich habe meine Mutter getötet“, drehte,
das gängige Verfahren der antiken Tragödie um. Das Leiden der anderen
erzeugt keine durch Distanz gewonnene Lust, sondern wird empathisch
nachempfunden und ist auch ohne physische Gewalt radikal unangenehm.
Obwohl der Filmplot viel konventioneller ist als die Vorgänger und die
Figuren des queeraffinen Regisseurs ungewöhnlich
geschlechterklischee-konform sind (Schwester passiv, Bruder aggressiv), ist
der 27-Jährige zwei Aspekten treu geblieben. Erstens die darstellerischen
Konventionen mit Technik zu hintergehen und zweitens seine Sujets weiter zu
bearbeiten. Flucht aus der Familie, Entfremdung von der provinziellen
Lebenswelt sowie die Darstellung von Liebe in all ihren Aggregatzuständen:
Hingabe, Eifersucht, Sehnsucht, Versöhnung.
Was an den, gemessen an Dolans anderen Filmen unkonventionellen
Erzählverfahren verloren geht – etwa die poetische Bildsprache in „Laurence
Anyways“ – ist in die Zwischenräume abgewandert, in die Darstellung von
Zeit: Die Zeitlupe, die den Blick zwischen Louis und seiner Schwägerin
Christine (Marion Cotillard), die als Einzige sein Schicksal zu ahnen
scheint, surreal ausdehnt, oder der Zeitraffer, wenn Louis im
autobiografischen Nostalgie-Rausch seine alten Briefe durchblättert.
Dass die experimentelle Sturm-und-Drang-Phase des Regisseurs einer
narrativen Unaufgeregtheit gewichen ist, schafft Raum für das Eigentliche:
den mikroskopischen Blick auf die kleinste Zelle der Gesellschaft, die
einst eine Solidargemeinschaft war und heute ein soziales Auslaufmodell
ist. Zum Schluss ist es weniger der bevorstehende Tod, der so schmerzhaft
ist, sondern die Einsicht, dass es die von unbewussten Verletzungen und
Unausgesprochenem produzierte Einsamkeit ist, die allen am meisten zusetzt.
Was ist schon der Tod gegen die Einsamkeit?
29 Dec 2016
## AUTOREN
Philipp Rhensius
## TAGS
Familie
Film
Filme
Xavier Dolan
Journalismus
Film
Paris
Kanada
Romanverfilmung
Spielfilm
## ARTIKEL ZUM THEMA
Filmische Kritik an Klickjournalismus: Die fantastische Welt der Medien
Der Regisseur Bruno Dumont erzählt aus dem Leben einer selbstsüchtigen
Moderatorin. Die ist mehr auf Sensationen als auf Seriösität aus.
Neuer Film von Xavier Dolan: Vakuum des Uneigentlichen
Xavier Dolan erzählt in seinem Film „Matthias & Maxime“ von unterdrückten
Sehnsüchten. Gefühle bleiben stumm, doch die Gesichter sprechen.
Roman von Rafael Chirbes: Nenne die Pest nicht beim Namen
Eine Liebesgeschichte zwischen zwei Männern im Paris der achtziger Jahre
bildet den Schlussstein des Werks von Rafael Chirbes.
Kolumne Unter Leuten: In Fort Providence, Kanada
Stimmt es, dass Alkoholismus zunimmt, je nördlicher man reist? Nach fünf
Minuten auf einer kanadischen Party glaubt man das sofort.
Neue Austen-Verfilmung im Kino: Starke Heldinnen, männliche Blödheit
„Lady Susan“ ist ein eher unbekannter Briefroman von Jane Austen. Als „Lo…
& Friendship“ kommt er jetzt auf die Leinwand.
Spielfilm „Die Überglücklichen“: Würde im Wahn
In „Die Überglücklichen“ lässt Paolo Virzì seine virtuosen Darstellerin…
Trost im Irrenhaus finden. Ein Film über eine asymmetrische Freundschaft.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.