# taz.de -- Nach der Anschlagserie in Paris: Merkels große Aufgabe | |
> „Paris ändert alles“: Die CSU instrumentalisiert die Attentate, um Ängs… | |
> gegen Flüchtlinge zu schüren. Bleibt Merkel Herrin der Lage? | |
Bild: Angela Merkel nach ihrer Rede am Samstag. | |
Berlin/Binz taz | Die Schamfrist währte kurz, sehr kurz. Horst Seehofer | |
meldet sich schon am Samstagvormittag zu Wort. Die Anschläge in Paris sind | |
da gerade mal zwölf Stunden her. Viele Opfer kämpfen in Krankenhäusern um | |
ihr Leben, die Aufräumarbeiten in der französischen Hauptstadt laufen, der | |
Islamische Staat hat sich gerade erst in einem Schreiben zu den | |
koordinierten Attentaten bekannt. | |
Trotzdem nutzt der CSU-Vorsitzende die erste Gelegenheit, die sich bietet. | |
Der Parteitag der Sachsen-CDU in dem 7.000-Einwohner-Städtchen | |
Neukieritzsch, Seehofer ist als prominenter Gast eingeladen, es gibt | |
freundlichen Applaus. | |
Seehofer sagt, die Begrenzung des Zuzugs der Flüchtlinge in Deutschland sei | |
die Voraussetzung, um die Krise zu bewältigen. Er sagt, man müsse jetzt | |
überlegen, durchgehende Kontrollen an den deutschen Grenzen wieder | |
einzuführen. Er sagt: „Wir müssen wissen, wer bei uns ist und wer durch | |
unser Land fährt.“ | |
Die Botschaft ist eindeutig. Seehofer bringt islamistischen Terror mit den | |
Flüchtlingen in Verbindung, die in Europa Schutz suchen. Er tut das, noch | |
bevor überhaupt zweifelsfrei bewiesen ist, dass es wirklich der IS war. | |
Unter den vielen Geflüchteten, so die unterschwellige Botschaft, könnten ja | |
auch Terroristen sein. Seehofer hat die Pariser Anschläge in Rekordzeit für | |
seine Zwecke instrumentalisiert. | |
## Bauchgefühl statt Fakten | |
Er ist nicht allein. Im Laufe des Samstags jagen sich Stimmen in den | |
Nachrichtenagenturen. Stanislaw Tillich, CDU-Regierungschef in Sachsen, | |
bläst ins selbe Horn. Seehofers Finanzminister in Bayern, Markus Söder, | |
assistiert per Interview in der Welt am Sonntag. Die Zeit „unkontrollierter | |
Zuwanderung und illegaler Einwanderung“ könne so nicht weitergehen. Wenn | |
die EU-Außengrenzen nicht gesichert werden könnten, müsse Deutschland seine | |
Grenzen sichern. | |
Söder spricht den entscheidenden Satz aus: „Paris ändert alles.“ Ändert | |
Paris alles? | |
Natürlich hat das eine – kaltblütig mordende Terroristen – nichts mit dem | |
anderen zu tun – mit verzweifelten Flüchtlingen. Natürlich fliehen die | |
Hunderttausenden, die nach Deutschland kommen, ja gerade vor dem | |
islamistischen Irrsinn. Natürlich könnte der IS jederzeit Attentäter nach | |
Deutschland schmuggeln, auch ganz ohne Flüchtlingskrise. Aber darum geht es | |
nicht. Manchmal siegt in der Politik das Bauchgefühl über die Fakten. | |
Manchmal geht es nur noch um Symbole. | |
Selbstverständlich finden sich sofort Leute, die Söder öffentlich | |
widersprechen. Der SPD-Politiker Ralf Stegner nennt es [1][auf Twitter | |
„widerwärtig“], die Gewalttaten von rechts zu instrumentalisieren. | |
Grünen-Chef Cem Özdemir [2][schreibt auf dem Kurznachrichtendienst], wer | |
die Flüchtlinge zur Zielscheibe erkläre, der verhöhne die Opfer von Paris. | |
## Gewinnen die Hardliner? | |
Die Frage wird sein, welche Deutung sich durchsetzt. Klar ist bisher nur: | |
Die symbolische Wucht dieser Attentate ist riesig. Sie stellt die offenen | |
Demokratien in Europa vor eine große Aufgabe, ähnlich groß wie die, die die | |
Norweger nach den Anschlägen des Rechtsextremen Anders Breivik bewältigt | |
haben. | |
Kann Bundeskanzlerin Angela Merkel ihren liberalen Kurs in der | |
Flüchtlingspolitik durchhalten? Oder gewinnen die Hardliner, die die | |
deutschen Grenzen schließen wollen? Fragen wie diese werden in den nächsten | |
Wochen die deutsche Innenpolitik dominieren. | |
Denn deutschen Politikern und Sicherheitsbeamten ist seit Langem klar: Das, | |
was in Paris passiert ist, könnte auch in Deutschland passieren. | |
Sprengstoffe sind auf dem Schwarzmarkt zu bekommen, automatische Waffen | |
auch. Wenn es Terroristen in Frankreich gelingt, eine konzertierte Aktion | |
zu planen, ohne zuvor den Behörden aufzufallen, dann kann es ihnen auch in | |
Deutschland gelingen. Paris ist eine europäische Hauptstadt wie Berlin. | |
Seehofer und andere sind zynisch genug, um die Furcht vor diesem Szenario | |
auf Flüchtlinge zu übertragen. Daraus folgt, dass es für Angela Merkel noch | |
schwieriger wird, an ihrem Credo der offenen Grenzen festzuhalten. | |
## Merkels Macht erodiert | |
Die Kanzlerin befindet sich seit Wochen in einem Abwehrkampf. Nicht nur die | |
CSU zweifelt, auch viele in Merkels eigener Partei halten ihren Kurs für | |
falsch. Wolfgang Schäuble und Thomas de Maizière, zwei wichtige, in der | |
Vergangenheit loyale Minister, haben sich von ihr abgewandt. Sie agieren am | |
Kanzleramt vorbei. Sie sticheln in Reden und Interviews. Sie lassen | |
deutlich erkennen, dass Merkel aus ihrer Sicht einen Fehler machte, als sie | |
sagte, das Asylrecht kenne keine Obergrenze. | |
Ein strategisch geplanter Putsch ist das wohl nicht, auch von einem | |
kompletten Kontrollverlust der Kanzlerin kann bisher keine Rede sein. Aber | |
inzwischen ist unübersehbar, was lange undenkbar schien: Merkels Macht | |
erodiert, langsam, aber stetig. Und die Pariser Anschläge könnten diesen | |
Prozess dramatisch beschleunigen. | |
Merkel sendet am Morgen nach der Terrornacht drei wichtige Botschaften, als | |
sie ganz in Schwarz gekleidet mit müden Augen im Kanzleramt vor die Kameras | |
tritt. Sie spricht den Menschen in Frankreich ihr Mitgefühl aus – „Wir | |
weinen mit Ihnen.“ Sie versichert der Regierung in Paris, dass Deutschland | |
hilft. Dieser Angriff auf die Freiheit gelte nicht nur Paris. „Er meint uns | |
alle und er trifft uns alle. Und deswegen werden wir auch alle gemeinsam | |
die Antwort geben.“ | |
Die wichtigsten Sätze sagt Merkel am Ende ihres Statements. Sie betont die | |
Werte der freien, offenen Demokratie. Mitmenschlichkeit, Nächstenliebe, die | |
Freude an der Gemeinschaft, Respekt vor dem anderen, Toleranz. „Wir wissen, | |
dass unser freies Leben stärker ist als jeder Terror.“ Warmherzige und | |
kluge Sätze sind das, Merkel trifft den richtigen Ton nach einer | |
fürchterlichen Nacht. | |
## Abschottung ist aussichtslos | |
Gleichzeitig zieht sie eine rote Linie. Natürlich hat Merkel sofort | |
verstanden, was die Anschläge für die Innenpolitik bedeuten können. Wenn | |
Merkel meint, was sie im Kanzleramt sagt, ist sie bereit zu kämpfen. Für | |
ein offenes und angstfreies Deutschland, gegen Seehofer, Söder und all die | |
anderen, die sich sicher noch melden werden. | |
Merkel ist Naturwissenschaftlerin, sie wuchs in der DDR auf. Aus ihrer | |
Sicht wäre es nicht nur politische ein fatales Signal, würde Deutschland | |
seine Grenzen mit Stacheldraht absichern. Sie hält Seehofers | |
Abschottungsplan auch schlicht für nicht umsetzbar. Verzweifelte Menschen | |
finden immer einen Weg. Die größte Volkswirtschaft in Europa, die ihren | |
Reichtum dem Export verdankt, kann sich nicht abschotten. So argumentieren | |
ihre Leute seit Beginn der Krise mantraartig. | |
Merkels Gegner werden die Attentate nutzen, um ihre Attacken zu | |
verschärfen. Wie das aussehen könnte, deutet sich am Samstag an. So nennt | |
zum Beispiel Christoph Schwennicke, Chefredakteur des konservativen | |
Magazins Cicero, die Attentate „Merkels zweites Fukushima“. Die | |
Anschlagsserie werde so unmittelbare Folgen für die deutsche | |
Flüchtlingspolitik haben wie seinerzeit die Reaktorkatastrophe von | |
Fukushima auf Merkels Atompolitik. „Dabei spielt es keine Rolle, dass die | |
allermeisten dieser Menschen auch auf der Flucht sind vor den Barbaren des | |
sogenannten Islamischen Staates.“ | |
## Besonnen an der Ostsee | |
Auf Twitter entbrennt ein Streit zwischen hohen CSU- und CDU-Politikern. | |
Söder wiederholt seine These: „#ParisAttacks ändert alles. Wir dürfen keine | |
illegale und unkontrollierte Zuwanderung zulassen.“ Nordrhein-Westfalens | |
CDU-Chef Armin Laschet entgegnet ungewöhnlich scharf. „[3][Vor diesen | |
Terroristen des IS fliehen] die Flüchtlinge nach Deutschland. Was meint Ihr | |
Tweet?“ So streiten sich normalerweise Oppositionspolitiker. | |
Natürlich gibt es auch besonnene Stimmen in der CDU. Im Ostseebad Binz | |
trifft sich die CDU Mecklenburg-Vorpommern am Samstag zum Landesparteitag. | |
Merkel sagt ihre Teilnahme am Morgen ab, sie muss zum Krisentreffen mit dem | |
Kabinett im Kanzleramt. Eine Pastorin der örtlichen Kirchengemeinde liest | |
den Psalm 146 vor: „Der Herr richtet auf, die niedergeschlagen sind.“ Sie | |
zündet eine Osterkerze an, die die kommenden Stunden auf dem Rednerpult | |
brennen wird. Bevor der Parteitag eröffnet wird, erheben sich die | |
Delegierten zu einer Schweigeminute. | |
Dann spricht Lorenz Caffier, CDU-Landeschef und Landesinnenminister. Auch | |
er zieht eine Linie, aber eine andere als Seehofer. Die Ereignisse in | |
Frankreich hätten gezeigt, dass die Regierung den Flüchtlingsstrom besser | |
steuern müsse. Die Grenzen zu schließen sei aber keine Lösung. Denn sollten | |
im Ernstfall hochgerüstete Bundespolizisten oder Soldaten an der Grenzen | |
auf Flüchtlinge schießen, so wie in der DDR? Caffier sagt: „Das kann doch | |
niemand ernsthaft wollen.“ | |
In diesem Spannungsfeld wird sich Merkels Flüchtlingspolitik ab sofort | |
bewegen. Sie braucht schnelle Erfolge bei der Begrenzung der | |
Flüchtlingszuzüge, um Leute wie Caffier bei der Stange zu behalten. Sie | |
muss die Seehofers und Söders zivilisieren. Am Wichtigsten aber wird sein, | |
dass sie den Deutschen immer wieder sagt, sie bräuchten keine Angst vor | |
Flüchtlingen zu haben – trotz Paris. | |
14 Nov 2015 | |
## LINKS | |
[1] https://twitter.com/Ralf_Stegner/status/665446201567899649 | |
[2] https://twitter.com/cem_oezdemir/status/665522757732552704 | |
[3] https://twitter.com/ArminLaschet/status/665520159428354049 | |
## AUTOREN | |
Ulrich Schulte | |
Sebastian Erb | |
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