# taz.de -- Debatte Flucht und Landgrabbing: Allianz der Heuchler | |
> Schlepper sind böse, aber Landgrabbing ist öffentlich akzeptiert. Wenn es | |
> um Flüchtlinge geht, schlägt der moralische Kompass wirr aus. | |
Bild: Es wäre seit Jahren vorauszusehen gewesen: Hunderte Flüchtlinge warten … | |
Wer selber mal Flüchtling war, der muss unweigerlich ein Spezialist für | |
„Flucht“ sein. Deswegen werde ich seit Wochen und Monaten bei jedem | |
Interview und jeder Moderation auf dieses Thema angesprochen. Es brennt | |
allen Bürgern und Bürgerinnen so sehr unter den Nägeln, dass ich immer | |
wieder eindringlich gefragt werde: „Was denken Sie angesichts dieser | |
Bilder?“ Oder alternativ: „Was fühlen Sie angesichts dieser Massen?“ | |
Wäre man nicht so schrecklich gut erzogen, infiziert vom Virus des guten | |
bürgerlichen Benehmens, müsste man die Fragenden entweder abwatschen oder | |
grob darauf hinweisen, dass es dem Intellekt eigen ist, sich mit Phänomenen | |
auseinandersetzen zu können, bevor die eigenen Sinne sie unmittelbar | |
wahrnehmen. Es ist geradezu verwerflich, Migration erst dann zu | |
problematisieren, wenn sie über den eigenen Gartenzaun schwappt. | |
Stattdessen versuche ich mich an einer halbwegs sinnvollen Antwort, die von | |
vornherein zum Scheitern verurteilt ist. Denn das, was zu sagen wäre, mit | |
lauter Stimme, was nottäte, wäre ein Hinweis auf die komplexen | |
Zusammenhänge und inneren Widersprüche unseres globalen Systems, die sich | |
seit Jahren und Jahrzehnten zuspitzen. Man müsste einer genauen | |
Weltkenntnis das Wort reden, man müsste das Fähnchen der hintergründigen | |
Erkenntnis hochhalten. | |
## Handeln statt reden | |
Denn die Berichte über das Voranschreiten der Wüste in der gesamten | |
Sahelzone, über Landgrabbing in vielen Regionen Afrikas, über | |
Waffenlieferungen großen Stils seitens der Rüstungskonzerne in führenden | |
Ländern der Nato und nicht zuletzt die Angriffskriege im Nahen Osten hätten | |
uns schon früh auf die kommenden Fluchtbewegungen hinweisen müssen. Fast | |
die gesamte Region von der Westsahara bis zum Horn von Afrika ist | |
inzwischen ein einziges Bürgerkriegsgebiet. | |
Übrigens haben die Konflikte in Syrien auch einen ökologischen Hintergrund | |
– das Land hat eine schreckliche, fünfjährige Dürre durchlebt. Wir sollten | |
also zum Beispiel einmal darüber reden, was wir gegen den Klimawandel tun | |
müssen, tun ganz im Sinne von handeln, anstatt das dümmliche Mantra zu | |
wiederholen: „Wir können doch nicht alle bei uns aufnehmen.“ Das | |
analytische Betrachten der Welt ist eine Art Frühwarnsystem. | |
Wir könnten damit beginnen, die eigene Politik unter die Lupe zu nehmen. | |
Eine aktuelle Analyse des Instituts für Welternährung zeigt auf, wie die | |
gegenwärtige Entwicklungspolitik der Bundesregierung, schönfärberisch „New | |
Alliance for Food Security and Nutrition“ genannt (ein Bündnis der | |
führenden Industriestaaten mit den multinationalen Konzernen der Agrar-, | |
Chemie- und Lebensmittelindustrie, u. a. Cargill, Dupont, Danone, Monsanto, | |
Nestlé, Swiss Re, Syngenta, Unilever), die Flüchtlingsströme aus Afrika | |
verstärken wird. Denn der angestrebte Strukturwandel in der dortigen | |
Landwirtschaft – industrielle Massenbewirtschaftung unter der Kontrolle | |
internationaler Konzerne – wird unzählige Kleinbauern ihrer Existenz | |
berauben. | |
Wie wir schon in Staaten wie Indien erfahren haben, strömt infolgedessen | |
die Landbevölkerung in die Städte, landet in den Slums und findet kaum ein | |
Auskommen. Sie ist entwurzelt und entrechtet: „überflüssig“ aus Sicht der | |
neue Allianzen. Nach Schätzungen des Instituts wird diese von der | |
Bundesregierung unterstützte Politik in den kommenden Jahren mehr als 100 | |
Millionen Kleinbauern in Afrika vertreiben! Würden wir nicht die Flucht, | |
sondern die Fluchtursache bekämpfen, könnten wir die falsche | |
Entwicklungspolitik leicht ändern. | |
Stattdessen tun Politiker und Kommentatoren so, als seien sie überrascht | |
worden von dem Ansturm der Menschen, die sich vor Klimawandel, Gewalt und | |
sozialer Marginalisierung zu retten versuchen. Und weil wir derart | |
überrumpelt worden sind (was implizit natürlich die Schuld der Flüchtlinge | |
ist), müssen wir diesen unkontrollierten, unregulierten Strom irgendwie in | |
Griff kriegen, ohne „unsere“ Menschenrechte völlig aufzugeben (obwohl | |
manche, etwa der brandstiftende Kasperl von Spiegel Online namens Jan | |
Fleischhauer oder einige der führenden CSU-Politiker schon Vorschläge in | |
diese Richtung unterbreiten). | |
Also sollen wenigstens die Schlepper militärisch bekämpft werden (das sind | |
angeblich die größten Verbrecher), damit die Flüchtlinge möglichst keine | |
Chance haben, zu uns zu gelangen, damit sie also zu ihrem eigenen Wohl und | |
Gedeih in ihren Heimatländern bleiben und dort verhungern oder verdursten | |
oder erschossen werden. Wie kann es sein, dass kaum jemand darauf hinweist, | |
wie absurd ein Asylrecht bei gleichzeitiger Abschottung ist? | |
## Vom Fluchthelfer zum Schlepper | |
Besonders verblüffend ist in diesem Zusammenhang das Attribut „geldgierig“, | |
das benutzt wird, um die Schlepper zu dämonisieren. Als übrigens meine | |
Eltern mit mir geflohen sind, hier kommt ausnahmsweise die eigene | |
Lebenserfahrung zum Tragen, hießen die beiden Studenten, die uns den Weg | |
über den Eisernen Vorhang gezeigt haben (gegen Geld!), „Fluchthelfer“ und | |
galten, nicht nur in unserer Familie, als Helden. Ist nicht die Geldgier | |
laut neoliberaler Theorie die gesegnete Kraft, die zu gesunder Konkurrenz | |
führt, die wiederum Wohlstand schafft, weil jeder gegen jeden um den besten | |
Platz und das prallste Konto kämpft? | |
Verzeihung, ihr öffentlichen Heuchler, aber ein Geschäftsmann, der in | |
Landgrabbing investiert, oder ein Shell-Manager, der in der Arktis drillen | |
lässt, ist genauso ein Verbrecher wie ein Schlepper, der gegenwärtig das | |
Böse schlechthin darstellt. Sie alle akzeptieren für ein wenig Profit das | |
Leiden oder gar Sterben von Menschen und die schweren Schäden an der | |
Gesellschaft. Was ist der moralische Unterschied zwischen dem Inhaber einer | |
Textilfabrik, der den Tod seiner Arbeiterinnen in Kauf nimmt, und einem | |
Schlepper, der den Tod der Flüchtlinge in Kauf nimmt? | |
Wir erleben dieser Tage und Wochen, wie wirr der moralische Kompass | |
ausschlägt, wenn man absehbare Probleme aus ideologischen oder egoistischen | |
Gründen nicht an der Wurzel behandelt. In diesem Wirrwarr haben leider die | |
allerwirrsten Stimmen die besten Chancen, gehört zu werden. | |
7 Oct 2015 | |
## AUTOREN | |
Ilija Trojanow | |
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