| # taz.de -- Deutsche Fluchthelfer damals und heute: Die guten Schleuser | |
| > Er grub 1962 in Westberlin einen Tunnel, sie transportiert heute | |
| > Migranten ins Land. Lange verehrt, heute bekämpft: deutsche Fluchthelfer. | |
| Bild: Im französischen Calais überqueren Flüchtlinge einen Zaun, um zum Euro… | |
| Als der ältere Herr in der Mittagssonne rückwärts von der Ladefläche fällt, | |
| fährt der Wagen, ein Toyota Land Cruiser mit Allradantrieb, weiter | |
| geradeaus. Der Aufprall des Körpers im Saharasand ist nicht zu hören. | |
| Vermutlich ist der Mann sofort tot. Wer weiß das schon. | |
| Auch als der junge Mann aus Äthiopien in der Nacht vom Auto fällt, Stunden | |
| später, der Himmel ist sternenklar, hält der Wagen nicht an. | |
| Zwei weitere Männer verdursten während dieser Autofahrt auf der Ladefläche | |
| neben Mohammad al-Khartal. Erinnerungen. | |
| Der 28-Jährige hat diese Fahrt überlebt. 1.500 Dollar hat er bezahlt, damit | |
| eine Gruppe Fremder ihn von einem kleinen Grenzort im Nordwesten Sudans in | |
| ein Wüstenlager in der Libyschen Wüste bringt. | |
| Für die nächste Strecke aus diesem Lager in die libysche Küstenstadt | |
| Tripolis werden weitere 1.500 Dollar fällig. Dann reicht sein Geld nur noch | |
| für die einfachste Bootsklasse, die die Schleuser im Angebot haben: ein | |
| kleines graues Schlauchboot, 800 Dollar für die Fahrt über das Mittelmeer | |
| nach Sizilien. Vier Tage wird al-Khartal schließlich auf offener See | |
| treiben, bis ein Containerschiff ihn inmitten von rund 100 weiteren | |
| Passagieren auffinden wird, orientierungslos. | |
| ## Eine exemplarische Geschichte | |
| Zwischen jenem kleinen Ort im Sudan, in dem seine Reise vor sechs Jahren | |
| begann, und Stuttgart, wo er heute lebt, haben Menschenschmuggler | |
| al-Khartal auf sieben verschiedenen Routen weitergeholfen. | |
| Die letzte Schmugglerin hieß Kerstin Gmeinwieser. Sie war die einzige, die | |
| kein Geld nahm. | |
| Während der junge Mann von seiner Odyssee erzählt, liegt ein Smartphone auf | |
| dem Tisch. Immer wieder wischt er zu neuen Bildern seiner Reise. Mohammad | |
| al-Khartal heißt in Wirklichkeit anders. Er lebt ohne Papiere in | |
| Deutschland. Deshalb gibt es in diesem Text einige Namen, die nicht | |
| stimmen. Und Details, die verändert sind. Zum Beispiel, dass al-Khartal in | |
| Stuttgart lebt. Es ist eine andere deutsche Großstadt. Es ist für ihn | |
| wichtig, dass er nicht wiederzuerkennen ist. | |
| Was er erlebt hat, stimmt, sagt er. Seine Geschichte ist die Geschichte | |
| Zehntausender Menschen. Weit mehr als 220.000 Menschen kamen nach | |
| UN-Angaben allein in diesem Jahr bereits auf der Flucht über das Mittelmeer | |
| nach Europa. Nach Recherchen eines europäischen Journalistenkollektivs sind | |
| in den vergangenen 15 Jahren mehr als 23.000 Menschen bei diesem Versuch | |
| auf See ums Leben gekommen. | |
| ## Heute ist Schengen eine Mahnung | |
| Phase eins. Rufzeichen: DRAI. Das ist die Funkkennung der | |
| „Schleswig-Holstein“. Länge: 138,9 Meter. Breite: 16,7 Meter. 6,9 Meter | |
| Tiefgang. Besatzung: 219 Mann. Die Fregatte steht im Dienst der Deutschen | |
| Marine. Ihre Mission EU Navfor Med ist eine Militäroperation der | |
| Europäischen Seestreitkräfte. Ihr Auftrag: die Bekämpfung des | |
| Menschenschmuggels und der Menschenhandelsnetzwerke vor der libyschen | |
| Küste. Die Marinesoldaten sollen die Schleuser fangen, mit Seeaufklärern | |
| und Drohnen, Satellitentechnik und Geheimdienstinformationen. | |
| „Phase eins“ dient der Aufklärung. Geht es nach der Europäischen Union, | |
| sollen später, in den Phasen zwei bis drei, auch die Boote der Schleuser | |
| zerstört werden. Folgt man der Bundesregierung, so sind die Schleuser zu | |
| einer der größten Bedrohungen an Europas Grenzen geworden. Sie bringen all | |
| die Menschen her. | |
| Schengen ist eine kleine Gemeinde im Großherzogtum Luxemburg. Sie gehört | |
| zum Kanton Remich und zählt knapp 5.000 Einwohner. Schengen, das ist aber | |
| auch ein Versprechen gewesen, seit am 14. Juni 1985 zunächst fünf | |
| EU-Mitgliedstaaten auf einem Moselschiff in der Nähe des Örtchens ein | |
| Abkommen unterzeichneten, das zu einer Vision von Europa führen sollte: | |
| einem Raum ohne Grenzkontrollen. Reisefreiheit. Frieden. Heute steht in | |
| Schengen ein Stück der Berliner Mauer. Es soll eine Mahnung sein. | |
| 26 Staaten listet das Auswärtige Amt auf seiner Homepage auf, die das | |
| Schengener Abkommen vollständig anwenden. Doch der Traum von Schengen hat | |
| in den vergangenen Monaten Risse bekommen. Seitdem mehr und mehr | |
| Migrantinnen und Migranten nach Mitteleuropa reisen, ziehen die | |
| Mitgliedstaaten die Grenzen wieder hoch. Weil allgemeine Grenzkontrollen | |
| verboten sind, wird gezielt gesucht, werden vor allem dunkelhäutige | |
| Menschen angehalten, ihre Papiere überprüft, sie im Zweifel festgesetzt. | |
| ## Nur wer mit dem Flugzeug kommt, hat eine Chance | |
| Es gibt ein anderes Wort für dieses Vorgehen: Racial Profiling. In den | |
| Zügen von Italien nach Deutschland, berichten Flüchtlingsaktivisten, hätten | |
| dunkelhäutige Menschen kaum eine Chance, die Grenzen ohne Kontrollen zu | |
| passieren. Wer einen geregelten Aufenthaltsstatus hat, darf weiterfahren. | |
| Aber was ist mit denen, die erst in Deutschland Asyl beantragen wollen? | |
| Das regelt eine Verordnung, „Dublin II“. Demnach muss das Land das | |
| Asylverfahren abwickeln, das der Antragssteller zuerst betreten hat. Man | |
| nennt das Drittstaatenregelung. Für Deutschland ist sie angenehm. Denn wer | |
| nicht per Flugzeug kommt, hat kaum eine Chance auf ein Asylverfahren in | |
| Deutschland. Die Bundesregierung hat deshalb im Hinblick auf die | |
| Fliehenden, die über das Mittelmeer kommen, ein besonderes Interesse daran, | |
| dass etwa italienische Behörden von möglichst vielen die Fingerabdrücke | |
| registrieren. Und, natürlich, dass es keine illegalen Weiterreisen gibt. | |
| In einem Café, in dem fettiger Kirschstreuselkuchen serviert wird – sagen | |
| wir: in Hannover –, sitzt an einem Hochsommertag im Juli eine Frau, die ein | |
| Kind auf dem Arm trägt. Sie könnte ebenfalls Kerstin Gmeinwieser heißen, | |
| aber nennen wir sie doch Marie-Luise Börmann, was macht das schon. | |
| Vor einigen Wochen hat Marie-Luise Börmann sich einen Leihwagen gemietet, | |
| mit einem Münchner Kennzeichen. Sie wählte bewusst eine Limousine, Marke | |
| BMW. Börmann kam adrett gekleidet zum Mietschalter, dann fuhr sie in einen | |
| kleinen italienischen Ort kurz hinter der Grenze. Dort holte sie einen Mann | |
| ohne Papiere ab. Sie hatte die Rückreise penibel geplant, fuhr an einem | |
| Wochentag im Berufsverkehr an die österreichische Grenze heran, dann an die | |
| deutsche. Vormittags fuhr sie durch Bayern, mittags war sie in Hessen. „Es | |
| gibt sonst kaum noch einen Weg für Menschen, die über das Mittelmeer | |
| geflohen sind, nach Deutschland zu kommen“, sagt Börmann. „Es kommt auf | |
| jeden Einzelnen an.“ | |
| Viermal war Börmann im vorigen Jahr in Italien, um Fluchthilfe zu leisten, | |
| mal fuhr sie dazu nach Rom, mal nach Venedig. Sie hat damit Straftaten | |
| begangen. | |
| ## Ein Menschenverachter? Ein Helfer? | |
| Paragraf 96 Aufenthaltsgesetz, „Einschleusen von Ausländern“: Danach macht | |
| sich strafbar, wer Ausländern wiederholt oder in mehreren Fällen dabei | |
| hilft, illegal in Deutschland einzureisen. Höchststrafe: fünf Jahre | |
| Freiheitsentzug. Wer bandenmäßig handelt, dem drohen bis zu zehn Jahren | |
| Gefängnis. Auch der Versuch ist strafbar. | |
| Gerade erst hat vor dem Berliner Landgericht ein Prozess gegen einen Mann | |
| begonnen, der als einer der Hauptorganisatoren mehr als 300 Migranten, | |
| überwiegend aus Afrika, aus Italien nach Nordeuropa gebracht haben soll. | |
| Die Drehkreuze hießen Mailand und Berlin. 750 Euro pro Person soll der | |
| 30-Jährige für diese Leistung jeweils verlangt haben. | |
| Marie-Luise Börmann verlangt kein Geld für ihre Hilfe. Wenn sie fährt, | |
| dann, um Leute zu holen, deren Schicksale sie bereits kennt. Sie macht | |
| Flüchtlingsarbeit, sie ist gut vernetzt. Und sie ist bei Weitem nicht die | |
| Einzige, die aktive Fluchthilfe leistet. Erst gestern kam eine Freundin von | |
| ihr aus Italien zurück. Sie brachte einen Mann aus Eritrea mit. Zehn Jahre | |
| war er zuvor auf der Flucht gewesen, nie kam er irgendwo an, dann hatte er | |
| Glück. Er kann jetzt in einem Hausprojekt in einer großen deutschen Stadt | |
| unterkommen. Es gibt sogar eine Frau, die ihn heiraten würde. Eine | |
| Scheinehe, damit er bleiben kann. | |
| Jeden Tag bekommt Marie-Luise Börmann Anrufe von Menschen, die gern ihre | |
| Hilfe hätten. Von interessierten Menschen, die wissen wollen, was sie mit | |
| einer Fluchthilfe riskieren. Manchmal rufen auch Flüchtlinge selbst an, | |
| teils aus Nordafrika, sagt die junge Frau. Sie wollen dann wissen, ob | |
| Börmann ihnen bei der Einreise nach Deutschland weiterhelfen kann, falls | |
| sie es einmal bis nach Italien schaffen. Irgendwann häuften sich diese | |
| Anrufe so sehr, dass Börmann sich eine neue Telefonnummer zulegte. Sie kann | |
| nicht für alle da sein, das ginge ja gar nicht. | |
| ## Es gab eine Zeit, da war Fluchthilfe eine Heldentat | |
| Der Zweite Weltkrieg. Millionen von Menschen, Vertriebene, Fliehende, auf | |
| der Suche nach Unterkunft, auf dem Weg ins Exil. Dann der Fall des Eisernen | |
| Vorhangs, der Mauerbau. Die Geschichte der DDR ist auch eine große | |
| Geschichte des Fluchtversuchs, andauernd über Jahrzehnte. | |
| Ekkehard Schirmer, 79 Jahre alt, öffnet gebeugt die Tür seiner | |
| Eigentumswohnung am Gleisdreieck in Berlin. Er schiebt den kleinen | |
| schwarzen Rollator, Modell Topro Troja, an den edlen Holztisch in seinem | |
| Wohnzimmer, dann setzt er sich, schwer atmend, auf den Stuhl mit der | |
| geschwungenen Rückenlehne. Zwei Dutzend Drucke, Aquarelle und Stiche, fein | |
| gerahmt, hängen an der Wand über dem Tisch, allesamt Damenporträts. Auf | |
| einer Anrichte steht eine Engelsfigur. Der Fußboden: feines Parkett. | |
| Zwei Wochen ist es her, dass sie ihm den Hals aufgeschnitten haben, um | |
| seine Mandeln zu entfernen. Krebs. Die frische Narbe, die sich rechts über | |
| seinen Hals zieht, pulsiert noch fleischrot. Ekkehard Schirmer ist | |
| Fluchthelfer. | |
| Berlin in den 1960er Jahren. Zwölf Tunnel wurden damals allein an der | |
| Bernauer Straße gegraben, wo die frisch errichtete Mauer den Ostteil der | |
| Stadt vom Westen trennte. Nur drei davon wurden fertiggestellt. Einer hieß | |
| Tunnel 29. Er begann in einem Fabrikgelände in der Bernauer Straße 78, | |
| Berlin West, und endete in einem abgelegenem Kellerraum in der Schönholzer | |
| Straße 7, Berlin Ost. 135 Meter lang, einen Meter hoch, ein Belüftungsrohr, | |
| das an einen Staubsauger angeschlossen war, stabilisiert mit extra | |
| herbeigeschafftem Grubenholz aus dem Ruhrgebiet. Im Lauf des Tunnels waren | |
| Knicke angelegt, damit die DDR-Volkspolizisten im Ernstfall nicht einfach | |
| hindurchschießen konnten. | |
| ## Die Durchlöcherung der Berliner Mauer | |
| Es gibt über diesen Tunnel einen kleinen Wikipedia-Eintrag. Es gibt sogar | |
| einen Dokumentarfilm. Wertvoller aber sind sicher die handschriftlichen | |
| Aufzeichnungen, die Ekkehard Schirmer für dieses Treffen an seinem Esstisch | |
| mit einem blauen Kugelschreiber zu Papier gebracht hat. Es sind | |
| Erinnerungen an eine Zeit, in der Fluchthelfer gefeiert wurden. | |
| „Wir waren keine Helden“, sagt Schirmer. „Wir hatten ja nichts zu | |
| befürchten.“ Die Durchlöcherung der Mauer, das sei doch Ehrensache gewesen. | |
| „Es war eine gute Tat, die man da vollbrachte.“ | |
| Der Tunnel 29: Die Westberliner Feuerwehr kannte ihn, der damalige | |
| Bürgermeister soll von ihm gewusst haben. „Einmal“, erzählt Schirmer, „… | |
| sogar die Polizei da. Die haben geguckt, ob mit dem Bau alles in Ordnung | |
| ist, dann sind sie wieder weggefahren. Fertig.“ Er meint die Westberliner | |
| Polizei, versteht sich. Das macht all den Unterschied. | |
| Wenn dann im Sommer 1962 der Bus mit den zugeklebten Scheiben vor dem | |
| Haupteingang der Technischen Universität Berlin anhielt, stieg Schirmer mit | |
| einigen Kommilitonen ein. Ein paar kannten sich, wer sich noch nicht | |
| kannte, sollte anonym bleiben. Sechs Meter unter der Erde, an der Bernauer | |
| Straße, gruben sie dann ein Loch, weiter und weiter. Über viele Wochen, | |
| täglich zwei bis drei Stunden, lag Schirmer rücklings in feuchten | |
| Lehmpfützen, trat mit den Füßen seinen Spaten ins Gestein. 29 Menschen | |
| gelangten durch diesen Tunnel in den Westen. Dann flog er auf, weil | |
| Beteiligte, so erzählt man sich, die Filmrechte gegen Bargeld an den | |
| amerikanischen Fernsehsender NBC verkauft haben sollen. Kaum waren die | |
| Bilder in der Welt, war die Fluchtroute geschlossen. | |
| ## Ostdeutsche kamen durch die Kanalisation | |
| Für ihn selbst, sagt Schirmer, sei das alles mehr so ein Abenteuer gewesen. | |
| Er machte weiter, auch als der Tunnel 29 dicht war. „Jedes Mal, wenn ein | |
| Flüchtling durchkam und in unserer WG eintraf, wurde eine große Party | |
| gefeiert.“ Wer dem Mann länger zuhört, dem dämmert, wie selbstverständlich | |
| es sein kann, Menschen zu helfen, über Grenzen zu gelangen. | |
| In Schirmers Wohngemeinschaft in der Ansbacher Straße schnitzten | |
| Kommilitonen aus Kastanien die hoheitlichen Stempel der Bundesrepublik | |
| Deutschland nach. „Es gab da ein paar Künstler, die hatten beachtliche | |
| technische Fertigkeiten.“ Dann wurden Pässe gefälscht, Autos umgebaut, | |
| einige Ostdeutsche kamen durch die Kanalisation nach Westberlin. Andere | |
| klammerten sich außen an die S-Bahn. | |
| Ekkehard Schirmer sitzt gebeugt an seinem Wohnzimmertisch. Er könne | |
| manchmal, sagt er, die Schmerzen nicht mehr aushalten. Vor zehn Jahren | |
| wurde bei ihm Parkinson diagnostiziert, eine unheilbare Krankheit. „Wenn | |
| ich heute noch könnte, würde ich wieder Fluchthilfe leisten. | |
| Bürgerkriegsflüchtlinge aus Syrien oder aus dem Sudan verdienen doch unsere | |
| Hilfe.“ Er warte noch, sagt Schirmer, „auf ein Netzwerk, eine Gruppe, eine | |
| Partei, die da ganz praktisch Hilfe leistet.“ | |
| ## Sommerurlauber als Fluchthelfer | |
| Fluchthelfer damals. Fluchthelfer heute. Es gibt sie, die Netzwerke. Es | |
| gibt sie, die Tricks. Mit der Mitfahrzentrale über Grenzen. Mit dem | |
| Flugticket – und verkleidet. | |
| Wenn vieles gut geht, dann kann es manchmal gelingen, dass Einwanderer ohne | |
| Papiere mit dem Flugzeug durch den Schengenraum reisen. Sie bekommen | |
| vielleicht, so ist zu hören, einen noblen Anzug spendiert. Und sie laufen | |
| dann mit einer Laptoptasche und einem Handy am Ohr besonders rasch an der | |
| Passkontrolle vorbei, ihrer wartenden Familie in die Arme. Es ist eine | |
| künstliche Familie, die da wartet, gecastet von Unterstützern. Neue Zeiten | |
| erfordern neue Ideen. | |
| Am Timmelsjoch, einem Grenzpass zwischen Italien und Österreich, schlängelt | |
| sich ein weißer VW Touran die kurvigen Bergstraßen entlang. Vorne im Auto | |
| ein Ehepaar, hinten im Auto ein Flüchtling. | |
| So zeigt es das Kampagnenvideo, mit dem das Berliner Kollektiv Peng!, ein | |
| loser Zusammenschluss von Künstlern und Aktivisten, seit Montag eine solche | |
| Idee präsentiert: Fluchthilfe für jedermann. Mit ihrer Kampagne wollen die | |
| Aktionskünstler deutsche Sommerurlauber zum zivilen Ungehorsam animieren. | |
| Die Botschaft: Sie sind gerade ohnehin mit der Familie im Italienurlaub? | |
| Dann bringen sie doch auf dem Rückweg einen Flüchtling mit nach | |
| Deutschland. | |
| ## „Wir müssen über unsere Verantwortung reden“ | |
| Auf ihrer Homepage gibt die Gruppe rechtliche Hinweise und praktische | |
| Tipps. Es könne nicht schaden, ein Tramperschild im Auto zu haben. Und | |
| vorsichtshalber nicht zu viel Bargeld. Nicht dass es am Ende so aussieht, | |
| als sei bei der Sache Geld geflossen. | |
| Die Rechtseinschätzung des Aktivistenkollektivs lautet: Wer sich nicht | |
| bezahlen lässt, nur eine Person mitnimmt und nur einmal und erstmalig | |
| erwischt wird, hat nicht allzu viel zu befürchten. Denn tatsächlich richtet | |
| sich der sogenannte Schleuserparagraf ganz besonders gegen organisierte und | |
| gewerbliche Schleuserbanden. Interessant ist die Frage daher schon: Wie | |
| verhält sich ein Staatsanwalt, wie urteilt ein Gericht, wenn der humanitäre | |
| Aspekt an erster Stelle steht? | |
| Peng! will nun für Spendengelder werben, mit denen die Rechtshilfe für | |
| solche Menschen bezahlt werden kann, die bei dem Versuch erwischt werden, | |
| papierlose Einwanderer mit ins Land zu bringen. „Wir müssen über unsere | |
| Verantwortung reden“, sagt ein Sprecher, der sich Maximilian Thalbach | |
| nennt. Sein echter Name ist der Redaktion bekannt. „Was kann jeder von uns | |
| tun, um Menschen in Not ein Stück weiterzuhelfen?“ | |
| Bereits am ersten Tag der Kampagne kamen mehr als 10.000 Euro an | |
| Spendengeldern zusammen. Die Gruppe will so nicht nur zur Fluchthilfe | |
| aufrufen und Fluchthelfer unterstützen, sondern auch eine Debatte in Gang | |
| bringen. Thalbach fragt: „Wieso feiern wir die einen, aber die anderen | |
| nicht?“ Er meint die DDR-Geschichte. Er meint die Gegenwart. | |
| ## Willst du mitkommen? | |
| Wenn Mohammad al-Khartal seine Erinnerungen schildert, lächelt er. Je | |
| schlimmer sie sind, desto mehr. Die Männer, die von der Ladefläche fielen – | |
| ein Lächeln. Die Organhändler aus dem Sinai – ein Lächeln. Natürlich habe | |
| er Vergewaltigungen mitansehen müssen, sagt er. Er lächelt, fast lacht er. | |
| Eine Frau, eine Vertraute von ihm, die beim Gespräch seinen Schilderungen | |
| folgt, beginnt zu weinen. Seit seiner Überfahrt über das Mittelmeer hat | |
| Mohammad al-Khartal Angst vor Wasser. | |
| „Ich bin sechs Jahre lang durch die Hölle gereist“, sagt al-Khartal. „We… | |
| ich mich noch einmal entscheiden sollte, dann würde ich mich für das | |
| Sterben entscheiden.“ Er lächelt wieder, während er diesen Satz sagt. | |
| In Calais, einer Stadt in Nordfrankreich, wo der Eurotunnel durch den | |
| Ärmelkanal das französische Festland mit Großbritannien verbindet, hat der | |
| Tunnelbetreiber gerade wieder neue Barrieren errichtet. Allein im Jahr 2015 | |
| hat die Betreibergesellschaft nach eigenen Angaben bereits 15 Millionen | |
| Euro für solche Sicherheitsmaßnahmen ausgegeben. Immer wieder versuchen | |
| Migranten, die über das Mittelmeer kamen und es bis hierher geschafft | |
| haben, an diesem Ort auf einen der Güterzüge zu springen, die in den Tunnel | |
| nach England rollen. Seit Anfang Juni sind dabei bereits neun Menschen ums | |
| Leben gekommen. | |
| In der Nähe dieses Tunnels traf Mohammad al-Khartal auf Kerstin | |
| Gmeinwieser. Die Flüchtlingsaktivistin aus Deutschland wollte wissen, was | |
| dort in Calais los ist. An einem Abend fuhren die beiden ans Meer. Sie | |
| blies einen rot-weißen Plastikball auf, damit spielten sie Fußball. Dann | |
| bestellte sie Pommes mit Essig. | |
| „Wenn sich die Wahrnehmung dreht“, sagt Kerstin Gmeinwieser heute, „wenn | |
| aus dem unbekannten Flüchtling plötzlich ein Mensch wird, dann ändert sich | |
| ganz plötzlich alles.“ Sie fragte Mohammad al-Khartal, ob er mitkommen | |
| will. Dann stiegen sie in ihr Auto. | |
| 12 Aug 2015 | |
| ## AUTOREN | |
| Martin Kaul | |
| ## TAGS | |
| Schwerpunkt Flucht | |
| Schleuser | |
| DDR | |
| Solidarität | |
| ZDF | |
| Schwerpunkt Flucht | |
| Joachim Gauck | |
| Schwerpunkt AfD | |
| Flüchtlingshilfe | |
| Peng Kollektiv | |
| Schwerpunkt Flucht | |
| Eritrea | |
| Flüchtlinge | |
| Flüchtlinge | |
| Schwerpunkt Flucht | |
| Schwerpunkt Flucht | |
| Flüchtlinge | |
| Schwerpunkt Flucht | |
| Freies WLAN | |
| Schwerpunkt Flucht | |
| Calais | |
| Flüchtlinge | |
| Flüchtlinge | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| ZDF-Film „Honecker und der Pastor“: Jeder macht Fehler | |
| Jan Josef Liefers erzählt in einem Spielfilm, wie das Ehepaar Honecker 1990 | |
| bei einer Pfarrersfamilie unterkam. Und zeigt zugleich, was gelebte | |
| Barmherzigkeit ist. | |
| Berliner Fluchttunnel: Dreißig Meter Teilungsgeschichte | |
| Bisher waren Fluchthelfer und Fluchttunnel abstrakte Begriffe in Büchern | |
| und Berichten. Jetzt kann man endlich einen davon in Berlin besichtigen. | |
| Peng-Kollektiv und Hartz-IV: Gaucks handsignierte Entschuldigung | |
| Das Ministerium für Arbeit und Soziales entschuldigt sich bei den | |
| Verliererinnen und Verlierern der Hartz-IV-Reform. Leider ist das ein Fake. | |
| Torte auf AfD-Funktionärin: Der Clown wars! | |
| Mit einer Sahnetorte geht das Peng-Kollektiv auf Beatrix von Storch los. | |
| Begründung: Als Ultima Ratio müsse der Einsatz von Sahnetorten erlaubt | |
| sein. | |
| Helfen vor Ort: Flüchtlingshilfe selbstgemacht | |
| Das Projekt „Seehilfe“ fährt nun schon seit zwei Jahren auf eigene Faust | |
| nach Sizilien, um Geflüchteten zu helfen – und auf Vortragsreisen durch | |
| ganz Deutschland. | |
| Netzkampagne gegen die Bundeswehr: Mach, was zählt | |
| Mit einer hippen Kampagne im Wert von 10,6 Millionen Euro wollte die | |
| Bundeswehr ihr Image aufbessern. Jetzt gibt es einen kleinen Aufstand im | |
| Netz. | |
| Debatte Flucht und Landgrabbing: Allianz der Heuchler | |
| Schlepper sind böse, aber Landgrabbing ist öffentlich akzeptiert. Wenn es | |
| um Flüchtlinge geht, schlägt der moralische Kompass wirr aus. | |
| Militärdienst in Eritrea: Das Land ist ein großes Gefängnis | |
| Eritreas Regierung betrachtet seine Bürger als permanente Kriegsreserve. | |
| Die Ausreise ist der Weg, dem Dienst zu entgehen. | |
| Österreicher chauffiert Asylsuchende: Nackt bei der bayerischen Polizei | |
| Er brachte eine Flüchtlingsfamilie zur deutschen Grenze. Nun drohen einem | |
| Österreicher bis zu 10 Jahre Haft – wegen des Vorwurfs der Schleuserei. | |
| Forderung der Linkspartei: Straffreiheit für private Fluchthelfer | |
| Privatpersonen, die unentgeltlich bei der Flucht helfen, sollen straffrei | |
| bleiben, fordert die Linksfraktion. Die Regierung sieht das anders. | |
| Am Eurotunnel in Calais: Flüchtling von Zug überfahren | |
| Ein Frachtzug hat einen Flüchtling erfasst und getötet. Nach | |
| Behördenangaben ist es schon der elfte tödliche Unfall in der Region Calais | |
| seit Ende Juni. | |
| Flüchtlinge im Mittelmeer: Italiens Küstenwache rettet 1200 | |
| Wieder geraten Boote in Seenot. Hunderte Menschen sollen noch in Gefahrsein | |
| – die Rettungsaktion wird deshalb fortgesetzt. | |
| Flüchtlingskrise am Eurotunnel: Gemeinsames Kommando in Calais | |
| Französische und britische Regierung errichten am Ärmelkanal ein | |
| Kontrollzentrum. Die Bürgermeisterin von Calais verlangt derweil eine | |
| Entschädigung. | |
| Flüchtlingshilfe in Deutschland: Ein Sofa ist gut, Respekt ist besser | |
| Das eigene Sofa einem Flüchtling anzubieten, ist wichtig. Noch wichtiger | |
| ist aber, dass Flüchtlinge selbst entscheiden, was sie wollen. | |
| Freifunk-Wlan für Asylbewerber: Abgeschnitten vom Zuhause | |
| Flüchtlinge könnten in Schleswig-Holsteins Erstaufnahme kostenlos ins Netz | |
| – eigentlich. Denn Ministerium und Ausländeramt trödeln. | |
| Flüchtlingsdrama im Mittelmeer: Wieder Hunderte Flüchtlinge gerettet | |
| Internationale Teams suchen Überlebende des Unglücks vom Mittwoch. Auch am | |
| Freitag wurden Hunderte Flüchtlinge gerettet, etwa 200 werden noch | |
| vermisst. | |
| Flüchtlingsroute Calais-Dover: Geld für die Abwehr von Flüchtlingen | |
| Großbritannien und Frankreich erhalten von der EU 266 Millionen Euro bis | |
| zum Jahr 2020, um die Lage am Ärmelkanal unter Kontrolle zu bringen. | |
| Wie Flüchtlinge nach Berlin kommen: „Fluchthelfer oder Schlepper“ | |
| Das Bild des Fluchthelfers hat sich gewandelt. Wieso, erklärt Georg | |
| Classen, Mitarbeiter des Berliner Flüchtlingsrats und Experte für | |
| Flüchtlingssozialrecht. | |
| Solidarität mit Flüchtlingen in den 70ern: Organisiert das! | |
| Die intellektuelle, künstlerische und Show-Elite mobilisierte 1978. Die | |
| Solidarität mit den rund 1,5 Millionen „Boatpeople“ war und ist | |
| beispielhaft. |